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Rückzug in die Freiheit
„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne.“
Schon wahr, Herr Hesse. Das sollte es zumindest; doch sie werden ja wohl einsehen, dass ein Aufbruch, ein plötzlicher, überrschender Aufbruch ohne Rücksicht auf das Zurückgelassene, schwieriger ist als seine Umschreibung.
Aber wissen sie, was noch schwieriger ist? Ein langsamer Aufbruch, zögernd und widerstrebend. Er ist für Aussenstehende nur schwer nachvollziehbar, und so haben viele nicht mehr als ein Kopfschütteln für ihn übrig. Von so einem Aufbruch, von meinem ganz persönlichen Aufbruch, möchte ich ihnen erzählen.
Der Mensch ist frei, nicht wahr, und wie schon Hölderlin sagte, hat er die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will.
Auch ich besass, als ich jung war, diese unermessliche Freiheit. Da der Arbeitsmarkt damals noch besser war, konnte ich arbeiten und leben, wo ich wollte.
Irgendwann, als ich sechs Jahre mit meiner Freundin zusammen war, beschloss ich, diese Freiheit aufzugeben und sie zu heiraten. Bis heute bin ich sicher, dass es die richtige Entscheidung war.
Ein Jahr später brachte meine Frau unsere erste Tochter zur Welt, zwei Jahre später die zweite. Wir lebten eine Zeit lang glücklich zusammen, doch über dem gewohnten Alltagsleben bildete sich ein Gefühl der Lähmung.
Anfangs stritten wir nur ab und zu, so dass es von jedem Eheberater als normal bezeichnet worden wäre. Später wurde der Streit Alltagszustand und schliesslich stritten wir gar nicht mehr. Das war der schlimmste Zustand von allen:
Wir gingen uns aus dem Weg, wann immer möglich. Ich ass mittags nicht mehr zuhause und meine Frau verliess, sobald ich abends über die Türschwelle trat, das Haus. Wenn sie nicht arbeitete, ging sie Tanzen mit ihren Freundinnen. Manchmal assen wir mit den Kindern zu Abend und schwiegen uns an.
Einmal schrie meine Frau: „Ich kann nicht mehr!“, schmiss zwei Pfannen vom Tisch und rannte ins Zimmer. Hilflos folgte ich ihr und redete ein paar Minuten lang auf sie ein.Als sie nicht reagierte, ging ich zurück und wischte die ohnehin versalzene Tomatensosse auf. Die Kinder waren in ihren Zimmern verschwunden. Auch ich konnte nicht mehr.
Das lähmende Zusammenleben mit regelmässigen Wutasubrüchen dauerte sieben Jahre. Dann beschlossen wir, gemeinsam eine Lösung zu finden. Dabei hatten wir etwas ausser Acht gelassen: Das Wort gemeinsam hatte schon lange keinen Platz mehr in unserer Beziehung.
Nach zahlreichen Eheberatungen und Mediationen waren wir immer noch gleich weit. Wir wollten etwas verändern, wussten aber nicht wie.
Meine Frau war der Meinung, dass ich ausziehen sollte, da sie sich besser um den Haushalt und die Kinder kümmern konnte. Schliesslich verdiente ich mehr Geld als sie und konnte meine Arbeit nicht einfach aufgeben, um Hausmann zu werden.
Ich sah das ein. Und trotzdem war in meinem Kopf nur ein einziger Gedanke: „Ich will nicht ausziehen.“
Als jedoch auch meine Kinder mir vorsichtig klarzumachen begannen, dass mein Ausziehen für alle das Beste sei, versuchte ich schliesslich, mit dem Gedanken an meinen Rückzug in die Freiheit klarzukommen.
„Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen“, zitierte sie eines Tages meine Tochter.
Nun war mein Entschluss gefasst. Ich begann Inserate über billige Wohnungen zu lesen und schaute mir die eine oder andere an.
Keine von ihnen gefiel mir. Die Erste war zu klein, die Zweitezu dunkel, und in der Dritten nervte mich das Rauchverbot. Ich erklärte meiner Familie, dass ich mir auch als überzeugter Nichtraucher keinerlei Vorschriften machen lassen würde.
Die vierte Wohnung war klein, roch komisch, hatte eine zu laute Heizung und Haustierverbot. Ich nahm sie. Zwei Wochen später unterschrieb ich den Vertrag und brauchte doch weitere sechs Monate, bis ich auszog.
Die erste Zeit allein ging es mir schlecht. Ich vermisste meine Kinder und meine Katze und hasste die schreckliche Stille in meiner Wohnung; doch dann traf ich Menschen, die Ähnliches erlebt hatten, begann wieder zu lesen, zu zeichnen und zu fotografieren und lernte erneut, mich über die kleinen Dinge im Leben zu freuen. Es ging mir immer noch manchmal schlecht, doch ich war aus meiner Lähmung ausgebrochen.
Vielleicht fragen sie sich jetzt, Herr Hesse, warum ich ihnen das alles erzählt habe; auch wenn sie mich vielleicht – und das hoffe ich zumindest – nicht für einen Idioten und Feigling halten, so müssen sie mich doch betimmt schon lange für verrückt erklärt haben. Schliesslich schreiben normale Menschen nicht an Tote.
Doch wäre es nicht möglich, dass auch der Tod nichts anderes als ein Neuanfang ist? Und wie sagten sie doch so schön:
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben."