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Rache
Alles rächt sich einmal, irgendwann ...
Dieser Satz meines Ausbilders blieb mir unauslöschbar im Gedächtnis haften. Ja, ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen, wenn nicht, wäre ich nicht in Schwierigkeiten.
„Das nicht wirklich Fremde erkennen wir als ein andersartiges Etwas. Damit ist es uns letztlich wieder so vertraut, wie ein einfaches Ding aus unserer Umgebung.
Wenn dieses unbekannte Etwas lebt, sich dadurch vom ‚toten Ding’ aus unserer ursprünglich bekannten Umgebung abhebt, ist es weniger fremd als das vertraute Ding, welches nicht lebt. In diesem Fall ist das Vertraute verschiedener vom Beobachter, als das mit uns gemeinsam Lebendigkeit aufweisende Fremde.
Das nicht wirklich fremde Etwas erscheint also doch bedingt vertraut, kann nicht tatsächlich fremd sein. Es unterscheidet sich vom wirklich Fremden, welches nicht erkennbar ist. Wir werden demnach Erkenntnis lediglich in einem Rahmen gewinnen, der uns schon geläufig ist, nicht das wirklich Fremde betreffend.“
Mein ketzerischer Gedanke war immer, dass dieses Postulat nicht nur auf Außerirdische, sondern auch auf menschliche Erkenntnis im Allgemeinen angewendet werden kann. Natürlich habe ich dies lieber nicht geäußert …
Jetzt sitze ich hier, unter für mich mysteriösen Umständen auf einen unbekannten Planeten entführt und kann mir über die schlauen Reden meines Professors für transterristische Psychologie den Kopf zerbrechen. Diese Wesen hier sind wirklich fremdartig, dermaßen anders, ich kann sie mit unseren Begriffen kaum beschreiben. Warum haben die Außerirdischen mich hierher geholt? Laut Professor Underdoo dürften sie sich überhaupt nicht mit mir abgeben:
„Falls unser Erkenntnissystem eine Untereinheit des Erkenntnisspektrums der Fremden ist, ähnlich, wie in unserer Welt quantenphysikalische Phänomene in der makroskopischen Physik enthalten sind, dann kann es zu einer einseitigen Kommunikationsaufnahme kommen. Welche Motivation für diese Kontaktaufnahme sollten andere Lebewesen haben? Sie wäre immer die Beziehung zwischen zwei grundlegend unterschiedlichen Bekannten, der eine unterlegen, der andere überlegen. Spielt der Überlegene seine Stärke aus, erscheint von uns aus gesehen ein Kontakt nicht wünschenswert. Will der Überlegene aufgrund irgendwelcher moralischer Vorbehalte keine Macht ausüben, ist er wahrscheinlich so friedfertig, dass er eine Beziehung zu kriegerischen Menschen scheut oder sogar verabscheut.“
Soweit die Theorie. Die Praxis hingegen bestätigt, dass ich hier als Gefangener sitze, einer ungewissen Zukunft entgegensehe. Quälend langsam vergeht die Zeit, wie soll ich mich ablenken? Hätte ich nicht ein außerordentlich gutes Gedächtnis, wäre mir die Entführung erspart geblieben. Ich habe die Astronautenausbildung nämlich nur bestanden, weil ich in dem für mich schwierigsten Fach, der Logik, betrogen habe. Aufgrund gewisser, sagen wir ‚Beziehungen’, die mit meinem durchtrainierten Körper und der schicken Astronautenanwärter-Uniform zu tun hatten wusste ich, welche Aufgaben in der Prüfung zu beweisen sein würden, und lernte die logischen Folgerungen einfach auswendig. Ich bin trotzdem noch heute stolz: Schließlich war ich einer der wenigen Prüflinge, die folgende Aufgabe durch einen Beweis löste:
‚Das Raumschiff von drei Astronauten ist nicht mehr steuerbar, es wird bald in der Erdatmosphäre verglühen. Der Kommandant muss eine für zwei Personen ausgelegte Rettungskapsel navigieren. Nun soll der Erste Offizier raten, in welchem von drei Frachtcontainern das rettende Fahrzeug verborgen wurde, allein der leitende Vorgesetzte kennt die Antwort. Gelingt dem Offizier richtig zu raten, darf er sich in Sicherheit bringen, ansonsten wird sein Kollege gerettet. Der Offizier wählt die mittlere Box. Jetzt überrascht der Kommandant seine Untergebenen: Er öffnet den ersten Container, dieser enthält keine Rettungskapsel. Sofort gibt er dem Offizier die Möglichkeit, erneut einen Frachtbehälter auszuwählen. Ist es für ihn empfehlenswert, die vorherige Auswahlentscheidung zu ändern?’
Ach, wie schön sind Testaufgaben mit realistischem Bezug, richtig motivierend!
Tja, damit habe ich damals gepunktet - wenn ich die Chance …
Oh, meine ‚Gastgeber’ kommen, sie sehen nicht besonders sanftmütig aus.
Ich weiß nicht, auf welche Weise die Fremden das machen, erstaunlicherweise kann ich sie verstehen, und bekomme Antworten auf alles, was ich sage.
Mist! Verdammter Mist! Wenn ich alles wirklich kapiert habe, wurde ich von ihnen ‚eingeladen’ weil ihnen ‚bekannt geworden ist’, dass wir Erdenbürger Wahrscheinlichkeitsrechnungen durchführen können. Offenbar sind ihnen die Lehren unserer frühen Forscher und Philosophen zumindest teilweise vertraut, besonders werden Mathematiker geschätzt, deren Erkenntnisse sie nur unvollständig verstehen. Außerdem kennen diese Typen aktuelle Daten, zum Beispiel alle amtlichen Eintragungen von mir: Mein Alter, den Ausbildungsweg, meine Prüfungsergebnisse - meine Prüfungsergebnisse! Deshalb wurde ich entführt! Was sagen die Entführer da?
Das soll jemand begreifen: Ihre Schlussfolgerungen müssen nicht immer mit ‚wahr’ beziehungsweise ‚falsch’ enden, sondern können auch mit ‚für wahr gehalten’ oder ‚für falsch’ gehalten abgeschlossen werden! Erkennen sie durch diesen Interpretationsspielraum mehr oder weniger von der Realität der Welt, als wir? Erspart ihnen diese Art der Erkenntnisdefinition nicht viele soziale und wissenschaftliche Konflikte? Ich wundere mich wirklich, dass sie ihr System ändern wollen. Sie meinen tatsächlich, ich hätte eine große Zukunft bei ihnen, wenn ich ihre Aussagenlogik mit Hilfe unserer Wahrscheinlichkeitsrechnung präzisieren könnte -
anderenfalls ...
Ich wusste es: Alles rächt sich einmal, irgendwann.