Rachefeuer
Rachefeuer
Prolog vor 19 Jahren...
Nacht ergab sich über den Wald.
Ein mausgrauer Pick-up holperte über die Wege und blieb knirschend vor einer Holzhütte stehen. Das Licht der Scheinwerfer ließ die Bretterfassade grell erstrahlen. Lang und schlaksig war der Mann, der ausstieg und gebückt zur Hütte rannte, auf die Veranda sprang und am Schloss der Tür nestelte. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er atmete schnell. Nach wiederholt fehlgeschlagenem Versuch die Tür zu öffnen, vernahm er von drinnen ein leises Wimmern. Nun nur noch aufgeregter sah er sich verzweifelt nach einer Möglichkeit um, dort hinein zu gelangen. Mit hektischem Blick erfasste er einen zerbrochenen Schaukelstuhl. Er nahm ein langes Stück Holz, welches früher wohl einmal eine Armlehne gewesen war, und holte damit auf die Tür aus. Plötzlich riss ihn ein hoher Ton zurück. Er wurde in blaues Licht getaucht. Mehrere Autos fuhren vor, Sirenen heulten. „Runter mit der Waffe!“, rief eine Stimme. „Weg von der Tür!“ „Runter mit der Waffe! Auf den Boden, Mister!“ „Werfen Sie die Waffe weg!“
Dem Mann auf der Veranda schwirrte der Kopf. Er wusste nicht, was er tun sollte. Das Licht blendete ihn. „Gehen Sie von der Tür weg!“ „Hoch mit den Händen, ich will die Hände sehen!“
Der Mann geriet in Panik, warf die Armlehne davon und rannte in den Wald. Ein wildes Stimmengewirr folgte ihm. Lichtkegel von Taschenlampen blitzen rechts und links von ihm im Geäst auf. Er rannte weiter, stolperte über Wurzeln, blieb an Dornen hängen, schürfte sich die Handflächen an den Rinden der Bäume auf. Dann explodierte ein unerträglicher Schmerz in seinem Bein. Ein Knall peitschte durch den nächtlichen Wald und der Mann fiel. Er versuchte sich aufzurichten, wurde jedoch brutal niedergeschlagen.
Er weinte, während die Polizisten ihn umringten, während ihre Taschenlampen sein verschmiertes Gesicht beschienen. Er weinte und kauerte sich zusammen wie ein Säugling, als sie nach ihm traten.
***
George Harris hatte heute einen außerordentlich guten Tag. Er hatte es schon am Morgen beim Aufstehen gespürt. Ausgeschlafen und mit reichlich Tatendrang war er aus dem Haus geschritten und hatte der Sonne einen Gruß geschickt. Auf Arbeit war dann alles besser gelaufen als erwarten. Sein Chef hatte sich für drei Wochen Urlaub genommen. Das hieß, niemand hatte eine Auge auf George oder hielt ihm endlose Vorträge über Initiative und Effizienz. In der Mittagspause dann hatte sich eine junge hübsche Frau im Park neben ihn gesetzt während er seine Brote verschlungen und Kaffee getrunken hatte. Ihr Gespräch war nur von kurzer Dauer gewesen, doch ihm hatte der Tag somit einmal mehr zugelächelt. Daher war es nun auch nicht weiter verwunderlich, dass George, nachdem er den Wagen in der Auffahrt geparkt hatte, gut gelaunt ausstieg und die frische Abendluft begierig einsog.
Er sah die Straße hinunter. Die Einfamilienhäuser reihten sich fein säuberlich aneinander. Ihre weißen Anstriche strahlten selbst im Halbdunkel noch eine gewisse sterile Freundlichkeit aus. Der Rasen vor den Haustüren war überall korrekt gestutzt und in jeder zweiten Auffahrt stand ein silberner Kombi. Der Traum vom Individualismus hatte hier seinen Höhepunkt erreicht. Jedes Haus sieht verdammt noch mal gleich aus!
George wandte sich ab und schritt zu seinem Briefkasten. Keine Rechnungen, wie er sofort freudig bemerkte, dafür aber Werbung und eine kleine Schachtel. Sie war mit blutrotem Geschenkpapier umwickelt und eine blaue Schleife hielt sie zusammen. George runzelte die Stirn. An jedem anderen Tag hätte er die Schachtel wahrscheinlich zertreten und weggeworfen, aber war heute denn nicht sein Glückstag? Vielleicht wollte ihm ja tatsächlich jemand eine Freude machen. Vergnügt von diesem Gedanken ging George zur Haustür, öffnete sie und nahm das vermeintliche Geschenk mit ins Haus - Menschen können ja so naiv sein!
Drinnen war es dunkel und ruhig. Die Wanduhr tickte leise durch den Flur und wenn George sich ein wenig anstrengte, konnte er sogar das Aquarium brodeln hören. Niemand nahm ihn in Empfang; keine Frau, die mit einer Schürze um die Taille aus der Küche kam, den köstlichen Geruch von Abendessen hinter sich her ziehend; keine Kinder, die mit heißer Erwartung darauf, was ihnen ihr Daddy wohl mitgebracht hatte die Treppe hinunter rannten. Er war allein. Die Wohnung schien zu schlafen.
George warf seinen Schlüsselbund auf die Kommode nachdem er die Tür geschlossen hatte, und tappte im Dunkeln in die Küche, wo er die Werbebroschüren in den Mülleimer warf. Die kleine Schachtel legte er auf einen Küchentisch. Danach nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank.
Wo ist nur wieder die Zeit geblieben, dachte er. Oft war es so, dass wenn George nach der Arbeit nach Hause kam und in seiner dunklen Küche stand, er sein jetziges Leben mit seiner Vergangenheit verglich. Er fragte sich dann, ob all dies, - der Job, das Einfamilienhaus, der Frieden und die Ruhe, der kleine Bierbauch-, wirklich besser waren, als sein früheres Leben. Vieles hatte er dagegen eingetauscht. Es gab keine Schreie mehr, keine Bilder von grausamen Verstümmelungen und keinen Stress (aber auch keinen Nervenkitzel). Diese Dinge waren passé. Er führte ein Singledasein in einem wunderschönen Haus, in einer wunderschönen Gegend und hatte ein einträgliches Einkommen. Morgens stand er bei Sonnenschein auf, die Zeitung lag dann schon vor der Haustür. Nach einem gutem Frühstück, bei dem er, wie bei jeder Mahlzeit, auf seinen Cholesterinspiegel achtete, ging er zur Arbeit. Nachdem er sich dort mit Akten und Kollegen rumgewälzt hatte, fuhr er wieder nach Hause und genoss bei einem kühlen Bier das Spiel im Fernsehen. Ein Leben, wie es sich viele nur erträumen konnten. Doch gab es einen ganz entscheidenden Haken. An Abenden wie diesen nämlich, sprang in George der Funke auf, der sich in ihm festsetzte und allmählich zu einem Flächenbrand wurde. Der kleine Funke, der sein altes Leben wieder haben wollte.
Aber heute war alles anders.
George lächelte müde. Mit der kleinen Schachtel in der einen und dem Bier in der anderen Hand ging er ins Wohnzimmer. Da knipste er das Licht an, schlängelte sich um das Sofa und ließ sich darauf fallen.
Vor ihm auf dem niedrigen Glastisch lagen die Fernbedienung und ein Flaschenöffner. Er nahm letzteren, wobei er die Schachtel auf dem Sofa zurückließ, und öffnete die Flasche. Dann schaltete er den Fernseher ein. Der Abend konnte beginnen.
Schon nach einer Stunde war George eingeschlafen. Nicht, dass das Spiel langweilig gewesen wäre, doch hatte ihn der Tag anscheinend mehr ausgezehrt als angenommen. Sowieso konnte George schon lange nicht mehr ohne weiteres einschlafen. Er brauchte dazu immer ein wenig „Gesellschaft“. Entweder er hörte eine CD oder Radio oder ließ den Fernseher leise laufen. Leider hatten die beiden Letzteren einen unschönen Nebeneffekt, denn ab und zu kam es vor, dass sie, da sie einfach kein Ende fanden, nicht nur einschläferten, sondern auch weckten. So taumelte George auch diesmal wieder über den Rand seines Schlummers hinaus in das Hier-und-Jetzt.
Das helle Licht der Deckenbeleuchtung brannte in seinen Augen. Der erste Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Die Stellung der Zeiger wollte ihm anfangs nichts sagen, ergab dann aber allmählich einen Sinn: es war halb Zwei Uhr Nachts. Über den Fernsehschirm flimmerte eine nackte Frau. George konnte sich nicht daran erinnern vom Spiel umgeschaltet zu haben. Da dämmerte es ihm und er dachte nur müde lächelnd: Dieser Sportsender hat es begriffen!
Stöhnend richtete er sich auf dem Sofa auf. Als seine Finger nach der Fernbedingung griffen, streifte seine linke Hand etwas neben sich – es fiel zu Boden.
Das blutrote Geschenkpapier der kleinen Schachtel löste in George eine so plötzliche und gewaltige Neugier aus, dass er nicht länger an sich halten konnte und sie sofort aufhob. Achtlos entfernte er Schleife und Papier und ließ beides fallen.
Da war sie nun, ein kleine Schachtel aus grauer Pappe, kaum größer als seine Handfläche. George hob den Deckel an wohl wissend, dass sein Glückstag seit etwa anderthalb Stunde vorbei war.
***
Quälend langsam schob sich der große schwarze Zeiger auf die Zwölf, und als es dann Ein Uhr war, waren es immer noch fünf Stunden bis Dienstschluss. Kelly Thompson sackte auf ihrem Stuhl zusammen und seufzte gelangweilt.
Im Polizeirevier, dem einzigen in dieser Kleinstadt und im Umkreis von wohl Hundert Meilen, war es friedlich. Aus der einen Ecke hörte man den Kaffee kochen, aus der anderen Ecke kamen die Tippgeräusche einer Schreibmaschine. Vier Schreibtische, davon im Augenblick nur zwei besetzt, standen im Raum, der zur selben Zeit Zentrale, Empfangshalle und Büro darstellte. Es gab auch kaum weitere Räume. Außer diesem waren da nur noch die Abstellkammer, mehr als winzig und vollgestellt mir Gerümpel aus Gründerzeiten, die Verhörkabine, welche wahrscheinlich noch nie benutzt wurde außer um aus kleinen Jungs herauszubekommen, wo sie die Puppe ihrer Schwester versteckt hatten, und es gab den Keller. Zwei Zellen waren dort unten in das Gemäuer eingelassen. Sie dienten dazu, Rauf- und Trunkenbolde aufzufangen und abzuschrecken. Der einzige Schrecken jedoch war, die unheimliche Reinlichkeit, mit der dieser Ort glänzte. Jeden zweiten Tag kam der Hausmeister, ein älterer Herr bei dessen Anblick Kelly immer zwischen Mitleid und Angst schwankte, denn in seinen Augen lag eine kalte Berechenbarkeit wie als wäre ihm alles egal und er hätte nichts zu verlieren. Eine ganze Stunde benötigte er jedes Mal für die paar Quadratmeter und schien danach immer seltsam gut gelaunt.
Das Herz des Reviers bildete Emma, ihre Schreibmaschine und das Funkgerät. Hier kamen alle „Not“-Fälle an, wurden von Emma, einer massigen Schwarzen, die sich von der einen auf die andere Sekunde von einem Tiger in die gütigste Person der Welt verwandeln konnte, aufgenommen, gespeichert und weitergegeben. Sie saß in einem von der Zentrale - Empfangshalle und auch Büro – abgegrenztem Bereich hinter einer Glasscheibe. Kelly sah sie tippen. Das schien sie andauernd zu machen. Egal wann man zu Emma hinüber blickte, sie schrieb.
„Kaffee?“
Kelly sah abwechselnd von Tony Marshall, der, mit einer Kaffeekanne in der Hand, an ihren Tisch getreten war, zu ihrer leeren Tasse.
„Ja, bitte!“
Er goss ihr ein und ließ dabei unauffällig seinen Blick über die Photos, alte Zeitungen und Papiere auf ihrem Schreibtisch wandern. Kelly entging das nicht.
Tony Marshall war der Sheriff dieses kleinen Ortes. Trotz des höheren Postens schätzte Kelly ihn jedoch kaum älter als sie selbst. Vielleicht Anfang Dreißig, wenn überhaupt. Seine Haare waren pechschwarz und seine Lippen umspielte ein sanftes Lächeln, während er den Kopf wieder hob.
„Das ist deine erste Nachtschicht, nicht wahr“, fragte er.
„Ja, ist sie. Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut. Ich dachte wohl, es würde etwas passieren, aber...“
Tony winkte ab. In seinen Augen lag Verständnis und Kelly musste sich wieder einmal eingestehen, dass er ganz attraktiv war. Sie mochte ihn irgendwie.
„Ich weiß, was du sagen willst“, begann er. „Du hast sicherlich ein wenig mehr Action erwartet. Aber bei uns hier geschieht nix. Ab und zu mal ein kleinerer Diebstahl oder Nachbarstreitigkeiten. Vielleicht auch mal ein entlaufendes Tier, sonst ist recht wenig zu tun. Wir sind schließlich keine Großstadt, sondern nur eine kleine friedliche Gemeinde aus unschuldigen Schäflein. Und wenn ich ehrlich sein soll...“ Er fuhr sich durch die tiefschwarzen Haare, wobei sie bläulich schimmerten. Kelly erwischte sich dabei, wie sie ihn fasziniert beobachtete. „...bin ich ganz glücklich, dass es so ist.“
Sie seufzte. „Wahrscheinlich hast du recht. Ich will ja nicht, dass etwas schlimmes passiert, nur eben...“ Tony nickte: „Schon klar.“ Dann wies er auf ein eingerahmtes Photo, welches ein älteres Ehepaar Arm in Arm zeigte. „Deine Eltern?“
„Ja“, antwortete sie. „Das Bild wurde bei unserem Haus am See aufgenommen. Vater hat es geliebt dort zu angeln, während Mutter den Fisch aus dem Supermarkt zubereitet hatte. Das war natürlich nur halb so lustig wie einen lebendigen Fisch zu fangen. Deshalb bin ich auch immer mit Vater auf den See rausgefahren. Die Sonnenuntergänge damals waren wunderschön. Wenn das Wasser die feurigen Farben des Himmels annahm und kleine Wasserläufer in Scharen umherschwirrten. Ich habe es geliebt.“ Kelly betrachtete das Bild ein Weile und ließ dabei ihr Herz von den Erinnerungen erwärmen.
„Mit meinem Vater wär’ ich auch liebend gern Angeln gegangen“, sagte Tony.
„Was habt ihr zwei stattdessen unternommen?“
„Oh nicht viel.“ Er senkte den Blick. „Meine Eltern haben sich scheiden lassen als ich ungefähr Fünf war. Ich und meine kleine Schwester Susan kamen zu meiner Mutter.“
Kelly bedauerte ihn stumm.
Eine bedrückende Stille kehrte ein, die nur durch das mechanische Klicken von Emmas Schreibmaschine unterbrochen wurde.
„Wer ist das“, fragte Tony und zeigte dabei auf das Bild neben Kellys Eltern.
„Das... nur ein Freund“, antwortete sie verlegen.
Er sah wie ihr die Röte in die Wangen schoss, doch in ihren Augen lag keine Scham, da war etwas anderes; war es Wut? Er entschied, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern sich lieber zu überlegen, wie er sie ablenken konnte.
„Ich habe eine Idee“, sagte Tony plötzlich und stellte die Kaffeekanne auf den Schreibtisch. „Hol’ deine Jacke, wir gehen auf Streife!“ Er wandte sich zum Gehen.
Überrascht wollte Kelly ihm sofort folgen, als sie sich noch einmal besann:„Hat denn nicht Jonas Streifendienst?“
„Der hat sich krank gemeldet“, antwortete er über die Schulter.
„Und wenn jemand herkommt und unsere Hilfe braucht?“
„Dann ist ja immer noch Emma da.“ Tony betrat den kleinen abgegrenzten Raum hinter der Glasscheibe und redete auf die Tippse ein.
Kelly kannte den Sheriff noch nicht allzu lange. Dennoch hatte sie schon Gelegenheit hinter dieses nette und attraktive Gesicht zu blicken und seine schlechteste Eigenschaften herauszusehen, denn Tony war ziemlich überheblich und sehr von sich selbst überzeugt. Wenn er etwas wollte, bekam er es auch ohne viele Fragen zu stellen.
„Kommst du“, rief er.
„Ja“, antwortete Kelly knapp, nahm einen großen Schluck Kaffee und schnappte sich ihre Jacke. Bevor sie ging verstaute sie noch das Photo ihres Freundes in einer Schublade, ebenso wie eine Zeitung mit dem Datum von vor zwei Jahren, deren Titelseite eine Schlagzeile über einen Großbrand schmückte. Dann folgte sie Tony hinaus.
***
Es fing als ein leises Pochen an, das noch wie Einbildung klang, doch mauserte sich schnell zu einem immer deutlicherem Klopfen und bald musste George sich eingestehen, dass eben dieses Klopfen direkt aus seinem Keller kam.
Er starrte in die kleine Schachtel. Dort, auf einem Kissen aus Watte gebettet, lag ein rostiges zusammengerolltes Stück Kupferdraht. Erinnerungen kamen in ihm hervor, Bilder von blassem, durch Misshandlungen aufgedunsenem Fleisch, zerschundene Haut, Kinderarme und -beine, die durch solch einen Draht abgeschnürt, gequetscht, wurden. Verführt, verschleppt, vergewaltigt. Die Dinge brachen in einer jähen Woge über ihn herein. Sie erschlugen George mit einer gewaltiger Lebhaftigkeit, als wäre das Damals mit dem Heute zusammengefallen. Er durchlebte alles, was er vergessen wollte, was er über die Jahre hinweg mühsam verdrängt hatte, in diesem Moment noch einmal – untermalt von dem bedrängenden Klopfen aus dem Keller, das einem Presslufthammer gleich gegen seine Schläfen schlug.
Nein, ihr kriegt mich nicht! Was ihn dazu bemächtigte, aufzustehen, die Schachtel beiseite zu legen und zum Keller zu rennen, wusste George nicht. Vielleicht war es der Mut, den er nie gehabt hatte. Vermutlich aber auch nur die Angst vor der Vergangenheit gepaart mit dem unbändigen menschlichen Drang, der Neugier.
Die Klinke in seiner Hand bebte, als er die Tür aufriss. Eine Schockwelle krümmte die Wände, ließ sie erzittern, gefolgt von Licht, welches über die Treppenstufen flutete.
Ein leises Wimmern, wie das eines kleinen Mädchens, trieb George die Angst in die Eingeweide, ähnlich einer glühendheißen Messerklinge. Mit der Hand strich er über die Tapete, fand den Lichtschalter und betätigte ihn.
Darauf erschien sein Keller vor ihm in all seiner sterilen Normalität, und anstatt des Klopfen und Wimmerns hing nur noch das leise Summen der Kellerbeleuchtung in der Luft.
George ließ den Blick langsam über die vollgestellten Holzregale schweifen. Erleichtert atmete er aus. Hier war alles wie sonst.
George lächelte über sich selbst und als er die Stufen hinunterstieg überkam ihn ein plötzlicher Heißhunger. Von einer berauschenden Hochstimmung erfüllt suchte er die Regal ab und nahm ein Glas eingelegte Gurken heraus. Genau damit würde er jetzt die Nacht verbringen, noch ein bisschen Fernsehen und Gurken aus dem Glas. Vielleicht noch ein paar Bier. Wie lächerlich war doch seine Angst gewesen.
George sah auf und erblickte für einen kurzen Moment einen Schatten, der an seinem Kellerfenster vorbei huschte.
Augenblicklich schnürte sich ihm die Brust zu. Er taumelte rückwärts und presste die Gurken dabei ganz fest an sich. George prallte gegen die Wand. Sein Ellenbogen berührte den Lichtschalter und knipste ihn aus. Dunkelheit verschluckte den Keller.
Nach einigen Minuten des stummen Wartens fasste sich George und setzte einen Fuß auf die Treppe. Da hörte er dumpfe Schritte von oben. Jemand war in seinem Haus.
Fieberhaft versuchte George nachzudenken. Er war allein, sollte ihn jemand besuchen? Nicht um diese Zeit, erinnerte er sich selbst, nicht um diese Zeit! Dann war es ein Einbrecher, war er bewaffnet?
Nur zwei Möglichkeiten kamen ihm in den Sinn. Entweder er versuchte die Polizei zu erreichen, oder er versteckte sich hier im Keller. Vielleicht hatte ihn der Eindringling noch nicht bemerkt. Doch während George so überlegte schrie eine winzige Stimme aus den hintersten dunkelsten Winkeln seines Verstandes immer wieder die Worte: Feigling! Stell dich! Feigling! Stell dich! FEIGLING!
Er hob den Kopf. In der Kellertür stand eine schwarze Gestalt.
Für Augenblicke schien die Zeit still zu stehen. Keiner von beiden bewegte sich. Sie sahen sich einfach bloß an, wobei George nichts außer einem Schatten erkennen konnte.
Dann bewegte sich die Gestalt wie in Zeitlupe und ein vertrautes Klickgeräusch hallte in Georges Ohren. Geistesgegenwärtig schleuderte er das Gurkenglas von sich weg. Neben ihm explodierte etwas in der Wand und Betonsplitter schlugen ihm ins Gesicht. Er ließ sich fallen. Ein donnernder Knall brachte die Welt zum Beben. Glas splitterte. George schlug hart auf dem Boden auf und rollte sich herum bis er mit dem Gesicht nach unten und den Armen über den Kopf liegen blieb.
Er schlug die Augen auf.
Feiner Staub brannte in ihnen, ebenso wie sein Gesicht. Ein hoher langgezogener Ton schrie ihm durch den Kopf, als wolle er seinen Schädel zerdrücken. George blinzelte, dann richtete er sich unter schmerzvollem Stöhnen auf die Knie. Ein warme Flüssigkeit rann ihm aus seinem linken Ohr und über die Wange.
Fahles Licht von der Kellertür fiel auf ihn herab. Gartengeräte, ein Rasenmäher, Harken und Besen stachen aus dem Dunkeln. Zwei weiße Säcke mit Blumenerde lagen übereinandergelegt an der gegenüberliegenden Wand, und daneben war ein kleines Mädchen.
George konnte zunächst nichts ungewöhnliches daran feststellen. Da war eben so ein junges Kind, nur in ein Nachthemd gekleidet, mit zusammengeschnürten Armen und Beinen und saß da an die Betonwand gelehnt. Ihre langen blonden Haare waren zerzaust, die Haut gerötet und schwammig. Der kindliche Leib zitterte. Ihr musste schrecklich kalt sein.
Seine eigene Hand zitterte ebenfalls, als er sie nach dem Mädchen ausstreckte. Sie sah ihn nicht. Wie war nur ihr Name? Er kannte ihren Namen.
Die Kleine wandte sich George zu. Ihre Augen strahlten unnatürlich hell. Sie hob ihre gefesselten Arme und sprach zu ihm: Möchtest du nicht zu mir kommen? Ich will, dass du hier bist. Komm zu mir. Ich liebe dich!
Mit jedem Wort erkannte George mehr und mehr die Realität. Dort konnte kein Mädchen sitzen, nicht in seinem Keller. Das war unmöglich. Sie war nicht hier und wenn doch, dann war er jetzt verrückt geworden.
George quälte sich auf die Beine. Er musste hier sofort raus. Allein im Dunkeln mit seinen Hirngespinsten fühlte er sich ganz und gar nicht wohl.
Unsicher torkelte er die Treppe hinauf. Plötzlich rutsche sein Fuß auf etwas nassem aus und er schlug sich das Knie an der obersten Stufe. Glassplitter drangen in seine Hände auf die er sich stützte. Ein betäubender Schmerz klammerte sich um sein Bein. George hievte seinen Körper aus dem Keller.
Im Flur gönnte er sich eine kurze Atempause, als ihm wieder der Einbrecher einfiel. Humpelnd bewegte George sich auf die Eingangstür zu. Abgeschlossen, natürlich!
Ihm kam die Waffe des Eindringlings in den Sinn. Wenn der Kerl nicht zögerte ihn zu erschießen und vielleicht noch im Haus war, würde er sein Werk möglicherweise noch zu Ende bringen.
Die Hintertür!
Nun auf einen Bein springend hetzte George durch die Wohnung nur von dem Gedanken beherrscht, zu verschwinden.
Feigling!
Er schleifte mit einer Hand über die Wände um sich abzufangen wobei Vasen und Bilder hinunterfielen, zerbrachen, und er blutige Streifen hinterließ.
Die Hintertür war einen spaltbreit offen. Er warf sich dagegen und wurde von der Nacht frostig empfangen.
Doch gleichzeitig fiel er auch in die Arme eines Unbekannten. Durch den Schwung wurden sie beide zu Boden gerissen. Der Fremde griff nach Georges Hüfte, drückte sie hinunter und warf sich auf ihn. George versuchte sich auf den Rücken zu drehen und schlug wild um sich. Er traf seinen Gegner mit dem Ellenbogen im Gesicht. Für einen Moment frei schleifte er sich über den Rasen zum Gartenzaun. Mit aller verbliebenden Kraft zog er seinen immer schwerer werdenden Köper in dir Höhe. Kräftige Hände umschlossenen seine Arme wie Schraubstöcke und er wurde wieder zu Boden geworfen. Ein letzter verzweifelter Ruck, dann gab George auf. Die Erschöpfung war zu groß. Wer auch immer der andere war, er hatte gewonnen. George übergab sich der Ohnmacht und dem endlos monotonem Schrei in der Dunkelheit.
***
Das mechanische Rot erlosch und Tony setzte den Wagen in Bewegung. Einsam und verlassen rollten die dunklen Straßen am Fenster vorbei. Kelly ließ ihren Blick gedankenverloren in der Schwebe. Seit etwa einer halben Stunde schon fuhren sie durch das schlafende Örtchen. Keine Menschenseele hatte sich ihnen bislang gezeigt, nicht einmal ein streunender Köter. Es war beinah wie in einer Geisterstadt, wo bloß noch vereinzelte Lichter für sich selbst leuchteten.
„Also“, begann Tony, „warum hast du dich eigentlich dazu entschlossen, Polizistin zu werden?“
Während der Fahrt über hatten sie bisher kein einziges Wort miteinander gewechselt. Dementsprechend überrascht erwachte Kelly aus ihrem leichten Dämmerzustand.
„Ich weiß nicht genau.“ Sie überlegte kurz, ob Tony diese Frage vielleicht nur gestellt hatte, um ein Gespräch zu beginnen und nicht, weil es ihn wirklich interessierte. Wahrscheinlich musste er sie aber auch einfach nur stellen, damit er als Vorgesetzter weiß, mit wem er es zutun hatte. Ja, Kelly wusste, dass sie misstrauisch war. Schon oft wurde ihr das von der Familie und Freunden vorgehalten, doch sie gab nichts darauf. Vertrauen musste man sich eben schwer erarbeiten, verlieren konnte man es dafür jedoch sehr schnell.
„Ich denke, ich will den Menschen helfen, für Recht und Ordnung sorgen, dem Staat und der Gesellschaft dienen...“
„...sowie das Gesetzt achten, die Guten retten und die Bösen bestrafen. Ach, und natürlich nicht zu vergessen ist: einen sicheren Job als Beamte“, beendet Tony für sie. Beide sahen sich an, schmunzelten und lachten schließlich.
„Das sagen wohl so ziemlich alle, oder,“ fragte Kelly scherzhaft.
„Tun sie, ausnahmslos.“ Tony schüttelte den Kopf. „Aber wenn man sie dann nach dem wahren Grund fragt, kommen viele aus dem Stammeln nicht mehr raus. Eigentlich schade. In letzter Zeit kommen immer weniger Leute aus Überzeugung zu uns. Die Polizei ist schon längst nicht mehr ’Freund und Helfer’. Ein Bekannter von mir ist Polizist in einer Großstadt. Dort, sagte er, wird die Polizei eher als eine Gefahr angesehen, als Sicherheit. Das Vertrauen der Menschen verschwindet ebenso rapide, wie ihre Aufrichtigkeit. Hier in der Gegend ist das kein Problem, wir werden noch freundlich aufgenommen und haben ja eh nichts zutun. Ich kann dir versichern, dass sich bis jetzt noch kein Serienkiller oder Vergewaltiger in einer Scheune in der Gegend versteckt hat, wie in irgendeinem dieser Romane. Nicht, dass ich naiv wär’, es ist einfach absurd.“ Er lenkte den Wagen gerade langsam genug über den Asphalt, um in Ruhe die Umgebung inspizieren zu können. Die Einfamilienhäuser lagen zu beiden Seiten im Dunkeln. Ihre schwarzen Fenster und Türen gähnten einsam. Im Licht der Scheinwerfer tauchten am Straßenrand immer wieder gefüllte Mülltonnen auf, die für die Müllabfuhr am Abend zuvor rausgestellt worden waren. Ein dunkler Fleck erschien mitten auf der Straße. Er zerfloss, gab seine Form auf und zwei hellglühende Punkten starrten das herankommende Fahrzeug an. Dann spazierte die Katze leichtfüßig davon.
Tony nahm nach einigen Minuten stiller Nacht das Gespräch wieder auf: „Und? Erzählst du mir, weshalb es dich zu uns verschlagen hat?“
Kelly hatte sich in ihre Gedanken zurückgezogen und ließ einen Augenblick verstreichen bevor sie sich zum Antworten entschloss: „Es gab da dieses kleine Mädchen...“
Tony wurde hellhörig. Er machte es sich auf seinem Sitz bequem und lauschte gespannt.
„Sie wohnte uns direkt gegenüber mit ihrer Großmutter. Ihre Eltern waren vor wenigen Jahren verstorben, aber die Kleine hatte es ganz gut aufgenommen. Sie war immer lachend über den Bordstein gehüpft und hatte gespielt, jedoch allein. Kein Kind wollte sich mit ihr abgeben, dabei war sie sehr hübsch gewesen – hatte lange blonde Haare und ein rosa Grübchenlächeln. Sie kam auch öfter zu uns rüber, zum Essen oder um mit mir zu spielen. Ich glaube ich war damals ihre einzige Freundin.
Die meiste Zeit haben wir zusammen in Ernies Süßigkeitenladen verbracht. Er hatte riesige Nougatbrote, von denen er uns immer eine Scheibe abgegeben hatte, die wir dann noch vor der Ladentür uns im Mund haben zergehen lassen. So etwas leckeres habe ich seitdem nie wieder gegessen.“ Kelly hatte den Kopf ein wenig nach vorn gesenkt und schmunzelte. „Jedenfalls“, - sie sah wieder auf, sich ihrer feuchten Augen nicht bewusst und erzählte weiter: „kam sie eines Tages nicht mehr. Wir hatten uns bei mir verabredet, doch ich wartete umsonst. Nie hatte sich die Kleine verspätet, und als ich bei ihrer Großmutter nachfragte sagte diese mir, dass ihre Enkelin das Haus schon einige Minuten zuvor verlassen hatte. Vielleicht war sie vorgegangen, dachte ich mir, aber bei Ernies war sie nicht, an diesem Tag auch noch nicht gewesen. Ich fragte mich überall durch, doch niemand hatte sie gesehen, bis auf einen Jungen, der in unserer Straße wohnte. Er meinte das Mädchen gesehen zu haben, wie es von einem Mann begleitet in einen Wagen gestiegen war, einen dunklen Ford...“ Ihr versagte die Stimme.
Tony gab ihr Zeit. Unwillkürlich nahm er den Fuß immer weiter vom Gaspedal bis sie schließlich stehen blieben. Er stellte den Motor ab und kurbelte sein Fenster ein Stück herunter. Kühler Nachtwind floss in das Wageninnere, belebte die müden Gesichter ein wenig und nahm der Vergangenheit für einen kurzen Augenblick einen Teil des Schreckens.
Tony gönnte sich selbst einige Momente um den Hass und den Zorn, die tief in seiner Brust grollten, unter Kontrolle zu bekommen. Er atmete tief ein, dann langte er vor und holte ein Schachtel Zigaretten aus dem Handschuhfach.
„Auch eine“, bot er Kelly an, aber sie verneinte Kopfschüttelnd. Er selbst fischte ein Stäbchen mit dem Lippen heraus, zündete es sich jedoch nicht an.
„Was ist aus ihr geworden?“
„Die Polizei hatte sie noch lebend gefunden“, antwortete Kelly mit belegter Stimme. „Ihr Entführer wurde festgenommen und lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt. Aber das half der Kleinen auch nicht mehr. Sie war schrecklich verstört, konnte kaum noch sprechen. Was auch immer mit ihr geschehen war blieb letztendlich verborgen. Sie erkannte mich nicht einmal mehr wieder.“ Kelly schluckte hart. Tony sah, wie ihre Hände zitterten und ihr Gesicht von einen Moment auf den anderen blassfahl wurde.
„Und was geschah danach?“
Beinah erschrocken beobachtete Tony Kellys Wandel. Ihr Hände versteiften sich, Farbe schoss ihr in die Wangen und sie bekam härtere Gesichtszüge. Auch lag plötzlich etwas Schweres in ihrer Stimme als sie sagte: „Sie starb kurz darauf.“
Auf dem Weg zurück ins Revier herrschte Stille im Wagen.
Kelly sah mit apathischem Blick aus dem Seitenfenster. Sie war erschöpft und ihr Gesicht wieder ganz blass. Die Hände in den Schoss gelegt war sie im Begriff, gleich hier auf dem Sitz einzuschlafen.
Tony dagegen war hellwach. Er hatte die Zigarette noch immer unangezündet im Mund und die Schachtel auf das Armaturenbrett geworfen. Starr blickte er auf den Asphalt vor sich, der unter die Motorhaube glitt. Die Umgebung beachtete er nicht mehr, er war dieser Welt entrückt. Anstatt der Nacht sah er seine kleine Schwester, wie sie über eine Straße spazierte. Ein Wagen blieb neben ihr stehen und eine haarige Hand hielt ihr einen Schokoriegel entgegen. Sie ging darauf zu, die Tür öffnete sich, sie stieg ein. Der Wagen fuhr davon, hinterließ eine leere Straße und alles begann wieder von vorne. Tonys Finger verkrampften sich um das Lenkrad.
„Halt mal an“, rief Kelly plötzlich.
Aus einem Reflex heraus trat Tony mit voller Wucht auf die Bremse, sodass er und Kelly unsanft nach vorn geschleudert wurden.
„Was ist denn?“
„Ich glaube ich habe da jemanden gesehen!“ Tony schaute an ihr vorbei nach draußen. Ein Einfamilienhaus aus einer Reihe Gleichgesinnter döste zu ihrer Rechten im Dunkel.
„Ich kann nichts erkennen.“
„Wir sollten lieben nachsehen! Ich bin ganz sicher“, kommandierte Kelly und stieg aus.
„Hey, warte!“ Tony öffnete die Tür und wollte ebenfalls raus, da riss ihn der Gurt zurück.
„Verdammt noch mal!“ Er löste sich davon. Wutschnaubend trat er in die kühle Nacht und sah noch wie Kelly hinter der Hauswand verschwand.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Unentschlossen überlegte er, ob er lieber zuerst Emma informieren sollte, entschied sich jedoch dagegen.
Mit schnellen Schritten überquerte er den Rasen bis zur Haustür. Ein kurzer Griff versicherte ihm, dass sie verschlossen war. Er trat ein wenig zurück. Nirgends war Licht, kein Laut, alles war ruhig.
Wo ist Kelly nur hingerannt?
Tony umfasste den Griff seines Polizeistocks. Er nahm seine Taschenlampe aus ihrer Halterung und knipste sie an. So vorbereitet begann er langsam das Haus zu umrunden.
Ein penibel gepflegtes Blumenbeet, welches den Zaun, der dieses Grundstück von dem des Nachbarn trennte, säumte, fiel ihm zuerst in den Blick. Die Kellerfenster auf der anderen Seite schienen zu schlafen. Aus der Hauswand ragte ein Wasserhahn hervor, an dem ein quietschgelber Schlauch hing, der wie ein Schlange am Boden zusammengerollt war und sich ins Beet schlängelte. Tony stieg vorsichtig drüber sehr darauf bedacht, möglichst kein Geräusch zu machen. Kurz bevor er den Garten dann erreichte, verurteilte ihn ein jäher donnernder Knall zum Stillstand.
***
„Ich hätte nie gedacht, dass sie einmal sterben muss.“
George hörte die Stimme aus weiter Ferne im Nichts verhallend. Dicke Nebelschwaden verschluckten sie und gaben ihr einen erstickten Klang.
„Ich dachte immer, wir würden ewig zusammensein. Doch der Tod ist so unbarmherzig und grauenvoll.“
Bewusstsein leerte seinen Verstand. Langsam aber stetig pumpte es mit der Unterstützung der Stimme die Müdigkeit aus seinem Kopf.
„Er hat sie mir einfach genommen. Niederträchtig riss er sie von mir mit feurigen Klauen. Ließ sie die Höllenglut spüren. Einfach so, ohne Grund. Aber wahrscheinlich brauch er keinen. Ihm macht es Spaß die Menschen zu quälen.“
Mit dem Erwachen kam die Übelkeit und der inbrünstige Durst. George würgte, wobei seine Kehle brannte, und fiel von Krämpfen geschüttelt nach vorn. Er hustete. Wieder und wieder stieß trockene Luft aus seinen Lungen. Bald glaubte George er müsste sich das Leben ausspeien. Die Muskeln in seinem Körper versteiften sich. Er konnte nicht atmen, hustete nur, hustete nichts. Auf dem schwarzen Hintergrund, den er vor Augen hatte, explodierten rote Punkte und in seinen Ohre rauschte das endlose Meer. Blut lief ihm aus der Nase, jegliches Gefühl entwich seinen Sinnen. Er konnte nicht schreien. Er würgte stumm.
Eiskaltes Wasser brach über ihn herein. Es durchstieß seine Haut mit der Erbarmungslosigkeit von Messerklingen und schnitt seine Haupt entzwei. Von dem Schock elektrisiert bäumte sich George auf. Jemand schrie und etwas metallisches fiel laut scheppernd zu Boden. George schnappte nach Luft, kam auf die Beine, die sich wie hölzerne Stelzen liefen, und stakste ein paar Schritte. Doch ein unnachgiebiges Gerüst versperrte den Weg. Trotz seiner tauben Finger reichte die Kühle des Stahls noch bis tief in seine Eingeweide. George stieß sich von der Gitterstäben ab. Verzweifelt wirbelt er umher, auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem Gefängnis, aber er fand keinen. Stattdessen drangen Betonwände auf ihn ein. Seine Knie gaben nach - er fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Er fror.
Wo war er hier bloß? Was war geschehen? Was hatten sie mit ihm vor?
Die Fragen schossen ihm schmerzhaft durch den Schädel. George kauerte sich in einer Ecke, schlang seine Arme um die angewinkelten Beine und ließ den Blick hektisch durch die Zelle hasten, während Angst und Verwirrung jeden klaren Gedanken zerstörten.
Er zitterte am ganzen Körper.
Nervös ließ Tony den Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger auf- und abwippen. Er saß an seinem Schreibtisch, diverse Dokumente und Akten vor sich ausgebreitet und den Blick angestrengt auf einen Punkt im Raum gerichtet.
Tausend Dinge schossen ihm durch den Kopf. Immer wieder blinkte eine neue Idee auf, die ihn anscheinend aus seiner Misere befreien könnte, doch verneinte er es sofort wieder und war einmal mehr am Anfang. Die Minuten vergingen ohne ein Ergebnis. Tony war der Verzweiflung nah.
Im Hintergrund tippte Emma unablässig auf ihrer Schreibmaschine. Das monotone Klicken der Tasten gepaart mit dem unterschwelligen Brodeln der Kaffeemaschine pochten beharrlich gegen Tonys Nervenkostüm.
Nach ein paar Minuten gedankenlosen Starrens hielt er es nicht mehr aus, er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: „Verdammt Emma! Kannst du denn nicht mal mit dem Tippen aufhören?! Wenigstens für eine Minute!“
Ruhe kehrte ein. Der Stuhl knarrte als Emma aufstand. Sie ging langsam durch das Büro auf die Kaffeemaschine zu und musterte den Sheriff dabei mit finsterem Blick.
Tony scherte sich nicht darum. Die Hände vors Gesicht geschlagen lehnte er sich weit zurück und seufzte. Trotz der Stille kam ihm auch jetzt kein klarer Gedanke. Stattdessen blinkte nur immer wieder eine Frage wie Leuchtreklame in seinem Kopf auf: Was soll ich jetzt tun?
„Kaffee?“, fragte Emma.
Tony sah durch seine Finger und verneinte mürrisch. Dann schloss er die Augen.
„Wie Sie wollen.“ Die stämmige Dame bewegte sich auf ihre kleine Schreibkanzel zu, drehte sich noch einmal herum und sagte:„Aber lassen Sie Ihren Ärger nicht an mir aus. Ich habe keinen blutenden Mann zusammengeschlagen und ihn dann verwirrt wie er war eingebuchtet!“ Mit diesen Worten setzte sie sich wieder und tippte weiter.
Tony wollte aufspringen und ihr widersprechen. Er wollte sie anbrüllen, ihr begreiflich machen, dass nicht sie hier die Entscheidungen träfe, dass sie nicht wisse, wie es dort draußen zuginge, sondern dass es ihr verdammter Job sei, auf einem Stuhl hinter einer Glasscheibe zu sitzen und mit ihren dicken Wurstfingern eine verfluchte Schreibmaschine zu akupunktieren.
Doch er besann sich.
Stattdessen ließ er verzweifelt die Arme sinken und seufzte. Emma hatte einfach nur die gnadenlose Wahrheit ausgesprochen, dessen war er sich bewusst. Aber das änderte an seiner Situation jetzt auch nichts. Er hatte nun mal einen schon Verletzten bewusstlos geschlagen und ihn danach in eine Zelle unten im kalten Keller gesperrt. Alles aber nur aus reiner Notwehr. Der Mann hatte ihn angegriffen, oder nicht? Tony war im Recht, sein Amt gab ihm die Befugnis jemanden auf Verdacht zu verhaften. Und dieser Kerl war völlig wahnsinnig gewesen. Oder hatte er auch nur Angst gehabt? Wenn schon, dennoch war der Mann verletzt. Er lag da unten und blutete. Wenn Tony ihn jetzt freiließe, welche rechtlichen Folgen würde das haben?
Mit zitterndem Blick schaute der Sheriff zum Waffenschrank an der gegenüberliegenden Wand. Die Gittertür, durch welche man die dunklen Schatten der Dienstwaffen sah, war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Es hypnotisierte ihn beinahe, aber dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und stand auf.
Regentropfen trommelten auf das Dach der Telefonzelle. Der Schauer schwoll zu einem Rauschen an, als eine Windböe durch ihn trieb.
Kelly zog ihre Jacke enger um sich und strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht. Ihre Hände waren schon fast taub, trotzdem verstärkte sie ihren Griff um den Hörer und drückte ihn fester an ihr Ohr. Am anderen Ende der Leitung war Musik zu hören. Sie hasste diese Wartemelodien. Statt die Zeit zu verkürzen schienen sie sie nur noch länger zu machen. Kelly hatte das Warten satt.
Plötzlich meldete sich eine Stimme.
„Ja, ja ich bin noch dran“, antwortete Kelly.
Die Stimme fragte etwas, doch in einem so belanglosen und unkooperativem Ton, dass Kelly der Mut sank.
„Ich möchte mit Alan Cultridge reden, aber das habe ich alles schon ihrer Kollegin... ja, ja ich weiß... Kelly Thompson... ob ich befugt bin? Bin ich, ja... ich bin eine Freundin... das weiß ich, doch sehen Sie sich die Unterlagen an. Es müsste alles da sein... Kelly Thompson, ja... hören Sie… aber ich möchte doch nur wissen, wie es ihm geht... nein... ja... ja, ich warte.“
Das Gespräch verlief äußerst unbefriedigend und irgendwie hatte Kelly das schon geahnt. Das Gefühl, sich im Kreis zu drehen, verfolgte sie nun schon seit Jahren. Warum sollte es hierbei anders sein?
Die Stimme meldete sich wieder – sie klang entsetzlich müde und lustlos.
„Bin noch hier... genau, Cultridge.“ Eine plötzlich aufkommende Böe ließ eine Regenwelle gegen das Häuschen branden und brachte es zum erzittern. Für einen Moment verschluckte es die Stimme.
„Bitte was?“, fragte Kelly nach. „Könnten Sie das Letzte noch einmal wiederholen... wie...“
Aber dann hörte sie nichts mehr. Es lag nicht am Regen und auch nicht an der Leitung. Die andere Person hätte direkt neben ihr stehen können und Kelly wäre taub geblieben.
Als sie die Telefonzelle wieder verließ, vergaß sie aufzuhängen, und auf ihren Wangen vermischte sich der Regen mit Tränen.
Alan Cultridge.
Tony saß vor dem einzigen Computer in der Wache, einem großen grauen Kasten mit flimmerndem Bildschirm dem ein stetiges Brausen entstieg, und durchsuchte die Polizeidatenbank.
Nach einigem Hin und Her hatte er sich doch zu einem Kaffee durchgerungen, der nun in einem Becher mit der Aufschrift „Don’t Work, Be Happy“ neben ihm stand und erkaltete. Tony hatte nicht einmal daran genippt. Stattdessen fixierte er die Bildröhre mit den Augen als könnte er somit den PC dazu zwingen, ihm die Antwort auf all seine Fragen einfach so vor die Füße zu legen, wie ein treuer Hund, der einem Morgens die Zeitung brachte. Natürlich geschah das nicht. Mit nassen hochgekrempelten Ärmeln hing er erschöpft im Stuhl und massierte mit der rechten Hand sein Kinn.
Kelly trottete herein. Ihr Blick war hohl und sie wirkte ausgebrannt.
„Dich gibt’s also auch noch“, bemerkte Tony spöttisch. Seine Kollegin reagierte nicht.
„Wo bist du gewesen“, fragte er. Kelly winkte nur müde ab und schlurfte weiter zu ihrem Schreibtisch vor dem sie dann stehen blieb.
Tony unternahm einen weiteren Versuch mit ihr zu sprechen: „Ich habe unseren Verdächtigen verhört. Du weißt schon, den auf den geschossen wurde und der mich angegriffen hatte.“ Wen sollte ich auch sonst meinen? Wann saß denn das letzte Mal jemand ernsthaft dort unten?, dachte Tony und spürte die Enttäuschung in sich aufkeimen. „Sehr gesprächig ist er leider nicht, wirkt eher etwas verstört. Doch mit etwas Nachdruck habe ich ein paar wichtige Informationen aus ihm herauskriegen können. Falls es dich interessiert...“
Kelly hob den Kopf. „Er ist da drin?“ Ihr Stimme klang kratzig und ausgezehrt.
„Ja“, antwortete Tony ein wenig überrascht. „Hat am ganzen Leib gezittert und war vollkommen durchnässt, als hätte er wie du draußen im Regen gestanden.“
Kelly schien erst jetzt zu bemerken, dass sich zu ihren Füßen schon eine kleine Pfütze gebildet hatte. Rasch zog sie ihre Jacke aus, warf sie auf den Tisch und strich sie die Haare nach hinten. Tony beobachtete sie dabei. „Jedenfalls...“, fuhr er fort, „hast du unseren Hausmeister gesehen? Ich werde das Gefühl nicht los, dass er etwas damit zu tun hat.“
Kelly überlegte kurz. „Ich habe ihn gesehen. Er steht vorm Eingang und scheint zu weinen.“ Sie erinnerte sich an die Augen des alten Mannes, die ihr sonst so kalt vorgekommen waren. Heute jedoch waren sie von einer so tiefen Trauer erfüllt gewesen, dass Kelly ihre eigenen Tränen für einen Moment vergessen hatte.
„Ich verstehe.“ Tony nickte. „Der arme Kerl hat vor einiger Zeit seine Frau bei einem Waldbrand verloren. Ich dachte er wäre darüber hinweg... Mit ihm werde ich dann wohl später noch ein Hühnchen rupfen müssen!“ Er schüttelte den Kopf. „Um zum Thema zurückzukommen: Ich habe unseren Mann hier verhört und glaube herausgehört zu haben, dass er Polizist ist, beziehungsweise einmal war. Er stammelte immer wieder etwas von wegen ’den Kindern’ und ’Vergewaltigung’ und ’ich kenne Eure Methoden’. Anscheinend versteht er wirklich ein wenig vom Polizeihandwerk. Nach einigem Nachhaken habe ich dann sogar einen Namen aus ihm herausbekommen: Alan Cultridge.“
Fast unmerklich zuckte Kelly zusammen. Sie drehte Tony den Rücken zu.
„Ich weiß jetzt nur nicht“, fragte der Sheriff sich, „ob es sich dabei um seinen Angreifer, möglicherweise ja ein ehemaliger Häftling, der sich nun am ihm rächen will, oder um einen Kollegen handelt. Ich suche gerade in der Datenbank nach dem Namen, jedoch...“
„Kann ich zu ihm?“, unterbrach Kelly in zum zweiten Mal.
Überrumpelt von der Frage war Tony zuerst nicht in Lage sinnig zu antworten, und stotterte nur bejahend. „Wenn du meinst, dass du mit ihm zurechtkommst. Nur zu, gerne!“
Sie nickte und strich sich noch mal die nassen Haare aus dem Gesicht. Mit einem etwas steifem Gang schritt sie zum Verhörraum, blieb jedoch vor der Tür einen Augenblick stehen. In dem Moment einen Augenzwinkerns erkannte Tony die rasche Bewegung ihrer linken Hand, welche den Inhalt ihrer Hosentasche prüfte. Dann drehte sie sich kurz um und sagte nur: „Danke.“ Ihr resignierter Blick jagte Tony einen eiskalten Schauer über den Rücken. Kelly trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sofort schrillte im Kopf des Sheriffs der Gedanke, sie zurückzuholen, wie eine Alarmsirene auf, doch er ignorierte es und flüsterte stattdessen leise: „Bitte, bitte.“
C-U-L-T-R-I-D-G-E_A-L-A-N
Tony gab den Namen zur Suche in die Datenbank ein. Er betätigte Enter und bekam nach wenigen Sekunden alle Einträge mit diesem Namen auf einem Blick serviert. Er staunte nicht schlecht. Wie viele Menschen kann es denn mit diesem Namen geben, fragte er sich. Und wie viele davon können denn ein Verbrechen begangen haben oder in eines verwickelt gewesen sein?
Die Zahl, die sich ihm präsentierte, war überraschend groß und ließ ihn an seinem Menschenverstand zweifeln. So geht unsere hochgelobte „ moderne Gesellschaft“ vor die Hunde!
Um den Kreis der Verdächtigen einzuschränken, gab Tony noch ein paar weitere Begriffe ein: Kindesmissbrauch und George Harris. Es existierten keine Einträge mit allen drei Parametern. Tony löschte den letzten Namen und bestätigte.
Volltreffer!
Nur noch ein Eintrag flimmerte nun über den Bildschirm, und während dieser sich aufbaute nahm Tony doch noch einen Schluck seines Kaffees. Er bereute diese Entscheidung schnell, verzog das Gesicht, stellte die Tasse soweit von sich weg wie sein Arm lang war und widmete sich wieder seiner Recherche.
Ein Großteil des Textes war bereits sichtbar geworden. Tony überflog schnell die ersten Passagen: Alan Cultridge, 29, geboren am... wohnhaft in... verurteilt... mehrfacher Missbrauch der achtjährigen...
Er stockte, und las die letzte Zeile noch ein zweites und drittes Mal. Das kann doch wohl nicht wahr sein?!
Aus dem Nichts erschien ein Bild des Verurteilten neben dem Text. Tony betrachtete das Gesicht und wusste, dass er diesen Mann schon einmal gesehen hatte.
Wie in Trance erhob er sich und noch bevor er wusste, wohin er sich nun wenden sollte hatten ihn seine Beine schon quer durch den Raum bewegt. Kellys Schreibtisch stand vor ihm.
„Es gab da dieses kleine Mädchen...“ Ihre Worte hallten in seinem Kopf wider als er sich vorbeugte und nach den Schubladen griff.
„Jedenfalls kam sie eines Tages nicht mehr. Ich fragte mich überall durch, doch niemand hatte sie gesehen, bis auf einen Jungen, der in unserer Straße wohnte.“
Tony bekam die Oberste zu fassen und öffnete sie langsam.
„Er meinte das Mädchen gesehen zu haben, wie es von einem Mann begleitet in einen Wagen gestiegen war, einen dunklen Ford...“
Der Sheriff fand wonach er suchte: das eingerahmte Photo von Kellys Freund, welches sie noch ein paar Stunden zuvor rasch versteckt hatte. Er hielt es in beiden Händen und erkannte den dümmlich grinsenden Mann darauf wieder.
„Kelly“, rief er.
„Sie starb kurz darauf.“
Ein donnernder Schuss dröhnte in seinen Ohren. Er fuhr zusammen und ließ dabei das Photo fallen.
Der Rahmen zerschellte auf dem Schreibtisch.
***
Gelähmt vor Angst starrte die kleine Kelly in die Dunkelheit. Sie konnte nichts sehen, doch hieß das nicht, dass dort nichts war. Monster mit riesigen Augen und Krallen schlichen durch den Keller. Kelly konnte flüsternde Schritte hören und die triefenden Mäuler beinah sehen. Etwas haariges berührte sie am Bein. Erschrocken wich die Kleine zurück und drängte sich näher an die kalte Betonwand.
Es war wie in einem Film. Tony konnte sehen, wie sich seine Arme und Beine in Bewegung setzten, doch er schien absolut keine Kontrolle darüber zu haben. Nichts ergab einen Sinn. Es wurde ihm mit jedem Schritt, den er dem Verhörraum näher kam, bewusster. Die Ereignisse der letzten Stunden, die Entscheidungen, die er getroffen hatte, das alles passte nicht zusammen. Und als er die Klinke zu fassen bekam, und ein weiterer Schuss dahinter hervor grollte, fühlte er sich fernab jeder Realität. Er öffnete die Tür.
Die Ketten, welche ihre Knöchel fesselten, klirrten leise. Der dünne Draht um ihre Handgelenke schien sich mit jeder Bewegung tiefer in das weiße Fleisch zu schneiden. Ihr Atem stieß gepresst unter dem breitem Stück Klebeband auf ihrem Mund hervor. Ein eisiger Lufthauch streifte über sie hinweg wie eine Messerklinge. Frierend und halb wahnsinnig vor Angst kauerte sie sich am Boden zusammen. Dann öffnete sich eine Tür.
Zeit steht niemals still. Aber für Tony Marshall lief sie für Augenblicke langsamer, sodass er sich jedes Detail genau einprägen konnte und nie mehr vergessen würde.
George Harris saß noch immer mit Handschellen auf dem Stuhl hinter dem Verhörtisch. Doch auf seiner Brust prangerte ein dunkelrotes Loch und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Seine Schulter explodierte in einer Blutfontäne. Tony konnte mit erschreckender Deutlichkeit beobachten, wie kleine Hautfetzen verkohlten, dunkles fast schwarzes Blut in wabernden Tropfen durch den Raum flog und winzige Knochensplitter umher wirbelten. Harris riss den Mund weit auf zu einem stummen Schrei. Sein Körper wurde aus dem Gleichgewicht geworfen. Er fiel nach hinten und hing strauchelnd in der Luft.
Tony schob sich weiter durch die Tür und sah Kellys Arm mit einem Revolver. Sie drückte ein weiteres Mal den Abzug.
Helles Licht fiel von oben in den Keller herein und beschien eine Treppe. Das Dunkel wich, die Monster krochen in ihre Verstecke zurück. Niemand wollte gesehen werden und Kelly wusste auch warum. Denn kein Ungeheuer, egal wie scheußlich, konnte so grausam sein wie der Mann. Sein hämisches Grinsen erschien ihr vor Augen und sie roch schon den widerlichen Schweißgestank.
Den Schuss hörte er schon nicht mehr. Das Mündungsfeuer stieß fauchend aus der Stahlröhre, aber er beachtete es nicht. Tony handelte instinktiv als er sich gegen Kelly warf und ihren Arm in seine Kontrolle zu bringen versuchte. Sie wehrte sich. Mit ein paar Schritten drängte er sie gegen die Wand und legte alles daran, ihr den Revolver zu entnehmen. Ihre flache Hand schlug ihm wieder und wieder mit verzweifelter Kraft ins Gesicht. Er sah auf. Erschrocken stellte Tony fest, dass Kelly weinte.
Auch den letzten Schuss aus der Waffe hörte er nicht, sondern spürte ihn. Vor Schmerzen brach er zusammen.
Der Mann kam die Stufen hinab, und während er mit den Finger knackte liefen der kleinen Kelly Tränen über die blassen Wangen.
***
6 Monate später...
Die Beamtin ließ ihren Blick zwischen dem Passphoto und dem Mann vor ihr hin- und herschweifen.
„In Ordnung“, sagte sie schließlich und gab ihm dem Ausweis zurück. „Den Gang links runter und dann sehen sie es schon!“
„Vielen Dank.“ Der Mann lächelte matt und hinkte dem ihm beschriebenen Weg entlang. Das Geräusch seiner Krücke hallte mit jedem Schritt lauter von den viel zu nahen Wänden wider. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt und hoffte, sich auch niemals daran gewöhnen zu müssen. Grau und grau umgab ihn. Nur die Türen, welche in bestimmten Intervallen links und rechts von ihm auftauchten, waren in einem hellem Grünton. Er kam an einem geöffneten Zimmer vorbei. Ein Frau in einem Orangen Overall kniete auf den Boden und wischte die Kacheln. Ihre Hand mit dem schmutzigen Lappen beschrieb endlose Kreise. Der Mann konnte ihr Gesicht nicht sehen, da es von halblangen strohigen aschblondem Haar verdeckt war. Sie sah nicht auf.
Am Ende des Ganges stand eine bullige Frau in Uniform, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und taxierte den Mann mit der Krücke sorgfältig. Sie erinnerte ihn an eine bestimmte Tippse.
„Hier herein!“ Die Beamtin öffnete eine Tür neben sich und wies dem Mann mit einem Kopfnicken den Weg. „Platz 4. Berühren Sie nicht Scheibe und versuchen Sie auf keinem anderen Weg Kontakt aufzunehmen als über die Sprechanlage!“
„Besten Dank.“ Er hinkte hinein.
Drinnen erwartete ihn ein entzwei geteilter Raum. Vier Sektionen, jeweils von Trennwänden abgeschirmt, in die Telefonhörer eingelassen waren, befanden sich zu seiner Rechten. Durch eine Glasscheibe hindurch sah er die andere Seite des Raumes. Eine Beamtin stand dort breitschultrig, sonst schien sich hier niemand zu befinden.
Tony hinkte die Abteilungen entlang bis zur letzten. Dort angekommen erkannte er seinen Irrtum: es war noch jemand im Raum.
Etwas umständlich ließ er sich auf einen alten Holzstuhl mit abgewetzten Polster nieder und lehnte seine Krücke neben sich an die Wand.
Die Frau ihm gegenüber hob den Kopf und der Anflug eines Lächelns umspielte ihre schmalen Lippen. Tony sah Kelly eine Zeit lang einfach nur an.
Sie hatte ihre Haare kürzer geschnitten, ihre Wangen waren leicht eingefallen und blass, ihre Augen lagen tiefer in den Höhlen und wirkten müder. Aber sie sah nicht so aus, als sie hätte sie tagelang geweint. Ganz im Gegenteil machte sie eher den Eindruck einer Frau, die endlich mit ihrem Leben im Reinen war. Tony fand, dass sie somit eine gewisse Schönheit von Innen herausstrahlte. Bloß passten der orange Overall mit den schwarzen Ziffern darauf und die Handschellen überhaupt nicht zu ihr.
Langsam nahm Tony den Hörer der Sprechanlage in die Hand und hielt ihn sich ans Ohr. Kelly tat es ihm gleich.
„Hey.“
„Hi.“
Stille senkte sich über beide. Sie sahen sich in die Augen.
„Wie geht es dir“, fragte Tony.
„Gut, gut“, antworte Kelly. Dann, nach einer Pause: „Den Umständen entsprechend.“
Ihr Blick streifte seine Krücke und wurde zittrig. „Aber ich sollte wohl lieber dich fragen, wie es dir geht?“
Er winkte ab. „Schon gut. Emmas schnelles Eingreifen hat dafür gesorgt, dass die Ärzte mich noch vor dem Schlimmsten bewahren konnten. Dein Schuss hat den Knochen nur gestreift. Es heilt wieder wenn ich mich schone... und zeugungsfähig bin ich auch noch. Es geht also. So lange ist diese hier“, er wies auf die Gehilfe neben sich, „ meine beste Freundin.“
Kelly schüttelte leicht den Kopf. Die Wärme in Tonys Augen gab ihr zwar ein wenig Trost, aber sie fühlte sich dennoch unendlich schuldig und elend. „Es tut mir so Leid.“
Er nickte. „Das Gesetzt hatte mich weit mehr in die Mangel genommen. Aufgrund der Tatsachen, wie ich Harris behandelt habe und dass ich dich bewaffnet zu ihm gelassen habe, bin ich nun auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Der längere Krankenhausaufenthalt tat sein Übriges dazu.“
Kelly wollte nochmals zu einer Entschuldigung ansetzen, doch Tony kam ihr zuvor: „Aber es hätte noch schlimmer kommen können. Wäre alles von dem, was sich in dieser Nacht abgespielt hatte den Behörden zugänglich gewesen, säße ich jetzt wahrscheinlich nicht in aller Seelenruhe hier. Auch da erwies sich Emma als unerlässlich. Sie galt als glaubwürdige Zeugin und konnte somit flexibel mit der Wahrheit umgehen ohne, dass es jemand bemerkte. Dafür bin ich ihr wohl auf ewig etwas schuldig. Ich habe ihr schon angeboten, mal für sie Kaffe zu kochen. Sie meinte bloß: ’Gott bewahre! Bevor ich Sie an meinen Kaffee lasse gefriert die Hölle zu und alle Schwarzen werden weiß. Da trink ich lieber Tee.’“
Er lachte, und auch Kelly versuchte es – scheiterte jedoch kläglich. Ihr Lachen war eher ein Krächzen und ihr Gesicht eine gequälte Fratze.
Wieder verstrich Zeit im Stillschweigen. Sie hingen ihren eigenen Gedanken hinterher wobei sie nicht wussten, wie sehr sich ihre Gefühle ähnelten. Seit dieser einen Nacht fühlten sie sich zueinander hingezogen, hatten ein unsichtbares Band des Vertrauens geknüpft, dass ihnen beiden nicht bewusst war. Dennoch hingen sie daran, denn es war der Grund dafür, dass Tony hier war; der Grund dafür, dass Kelly noch aufstehen konnte wenn es denn sein musste.
„Du willst sicher wissen“, sagte sie nach einigen unsicheren Momenten, „was passiert ist. Und warum. Stimmt’s? Natürlich willst du das! Warum wärst du sonst hier?! Ich werde es dir erzählen und kann verstehen, wenn du mich danach nie wieder sehen möchtest, wenn du mir aber zuhörst verstehst du vielleicht, weshalb ich so handeln musste und kannst besser...“
„Nein.“ Kellys Stimme war dabei gewesen , sich zu überschlagen, als Tony sie in einem ruhigen und gefassten Tonfall unterbrach. „Nein, du musst mir das alles nicht erzählen. Nicht, wenn du nicht willst. Ich bin nicht wegen der Geschichte hier, sonder wegen dir.“
Kelly errötete leicht und senkte den Kopf.
„Das Meiste“, fuhr er fort, „habe ich mir allein zusammengereimt. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken.“ Er fuhr sich durch die Haare, wobei ihn Kelly sehnsüchtig beobachtete. Der bläuliche Schimmer im tiefen Schwarz übte eine ungebrochene Faszination auf sie aus. Tony überlegte sich, wo er anfangen sollte und entschied sich für den direkten Weg. Er suchte Augenkontakt zu ihr und begann: „Du bist vergewaltigt worden. Als du noch ein kleines Mädchen warst. Der Kerl muss dir übel mitgespielt haben, aber er hat dich freigelassen oder, was wahrscheinlicher ist, du bist ihm entkommen. Jedenfalls hat er dich nicht umgebracht, wie diese Schweine es normalerweise zu tun pflegen. Du hast niemanden erzählt, wer dein Peiniger gewesen ist, weil du Angst hattest und völlig verstört warst. Die Mistsau kam aus der Nummer heil heraus und konnte untertauchen. Über die Jahre geriet die Angelegenheit mehr und mehr in Vergessenheit. Nur du konntest es natürlich nicht vergessen, du wurdest älter, lebtest ein für die Umstände vielleicht sogar normales Leben. Entweder du hattest während der ganzen Zeit über den Gedanken im Hintergrund, dich zu rächen, oder es kam durch einen Zufall, möglicherweise weil du eine Vermisstenanzeige, denen man ja so verflucht oft begegnet, irgendwo gesehen oder gelesen hast. Ob du dich dann sofort entschlossen hast, zur Polizei zu gehen, weiß ich nicht. Unter Umständen hast du es auch zuerst auf anderen Wegen versucht, ihn aufzuspüren. George Harris.“
Kelly verzog keine Miene, als sie den Namen hörte, doch in ihrem Inneren begann der alte Hass wieder zu brodeln.
„Den Mann, der dir deine Kindheit gewaltsam genommen hatte. Du hast ihn aufgespürt, und dich zu uns hier herversetzen lassen damit du ihm näher warst. Jetzt konntest du mit ihm spielen. Liefest ihm vermutlich ein, zwei Mal über den Weg nur um zu sehen, ob er sich an dich erinnert. Sogar ein kleines Geschenk hast du ihm gemacht.“
Ohne den Blick von ihr abzuwenden griff Tony in seine Jackentasche und holte eine handtellergroße Pappschachtel heraus. Kommentarlos legte er sie vor sich auf die Ablage. Zu seinem Erstaunen sah er, wie sich ein entspanntes Lächeln auf Kellys Lippen bildete. Sie flüsterte beinah, als sie sprach: „Du kannst dir nicht vorstellen, was er mir angetan hat.“
„Nein, das kann ich nicht.“
Und du kannst dir nicht vorstellen, was ich vorhatte ihm anzutun, dachte Kelly, sprach es jedoch nicht aus - ihr Lächeln verzog sich zu einem tückischen Grinsen - . Stattdessen sagte sie: „Ich habe Jahre meines Lebens dafür geopfert ihn zu finden. Bin jegliche Erinnerungen an den Ort, an den er mich gebracht hatte immer wieder durchgegangen um einen Anhaltspunkt zu finden. Habe ihn in naheliegenden Orten gesucht, Telefonbücher durchforstet, Bezirksämter abgeklappert. Der Schritt, zur Polizei zu gehen, erschien mir irgendwie nur logisch. Wo sonst hätte ich solche Möglichkeiten und Freiheiten gehabt?!“ Mit einem Mal wurde ihr Blick betrübt und Trauer schlich sich in ihre Gesichtszüge.
„Viele liebe Menschen habe ich dabei verloren. Erst wendeten sich meine Freunde ab, dann meine Familie. Sie hielten mich für besessen, meinten, ich solle es doch endlich auf sich beruhen lassen. Rache wäre eine Sünde. Von meinen Großeltern und meiner Mutter hatte ich eigentlich nichts anderes erwartet, aber als sich dann meine besten Freundinnen von mir abgewandt hatten, bin ich ausgetickt.“ Sie ballte die Fäuste und verstummte. Durch die Sprechanlage hörte Tony sie schnell und unregelmäßig schnaufen.
Einige Teile der Geschichte waren geklärt und andere konnte der ehemalige Sheriff erraten. Zum Beispiel war er sich ziemlich sicher, dass Kelly in George Harris’ Haus gestürmt war, unter dem Vorwand jemand Verdächtiges gesehen zu haben, weil sie überprüfen wollte, ob er ihr kleinen Präsent erhalten hatte. Dabei waren sie sich unglücklich begegnet und Kelly blieb nur ein Ausweg: sie musste schießen. Ob es nun Glück für Harris’ war, dass sie ihn damals nicht getroffen hatte, sondern ihn erst später exekutierte, wollte Tony sich lieber nicht fragen. Aber andere Fragen gingen ihn dafür nicht aus den Kopf. Es gab noch Lücken im Geschehen, die er sich nicht erklären konnte, die keinen Sinn zu ergeben schienen.
Er beugte sich vor, nah an die Scheibe und suchte Kellys Blick. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen und Tony hoffte nur, sie würde lange genug durchhalten um ihm wenigstens noch eine Frage zu beantworten. Eine letzte Antwort war sie ihm noch schuldig.
„Kelly? Kelly hörst du mich?“
Sie zwinkerte kurz und nickte dann eifrig.
„Gut. Kelly, wer ist Alan Cultridge?“
„War“, entgegnete sie prompt, doch mit kaum hörbarer Stimme. Es war mehr ein Krächzen – sie war dem Zusammenbruch nah.
„Bitte Kelly“, flehte er. „Sag mir die Wahrheit!“ Aber sie starrte ihn nur an. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange, doch ihr Gesicht verhärtete zur Regungslosigkeit. Tony dachte schon, sie würde einfach aufstehen und gehen, oder aus dem Nichts heraus eine Waffe ziehen und ihn einfach erschießen. In diesem Moment hatte Tony tatsächlich Angst vor dieser Frau.
„Er war nur ein Freund“, sagte sie. „Mein Bester. Wir waren zusammen schwimmen gewesen, im Sommer. Er hat es mir beigebracht, nicht mein Vater. Wir haben gemeinsam im Schnee getollt, wenn der Winter hereinbrach. Ihm habe ich meine schönsten Kindheitsstunden zu verdanken. Meinem Alan, mein guter Riese... lieber Goliath. Ich bezweifle nicht, dass auch andere geweint haben, als ich entführt wurde, doch er war der einzige, der etwas dagegen unternommen hatte. Er wollte mich retten! Und dafür haben sie ihn eingesperrt. So jemanden sperrt man nicht ein. Ein Engel kann im Dunkeln nicht überleben...“ Sie schluchzte, aber anstatt sich zurückzuziehen sprach sie weiter: „Alle hielten sie ihn für verrückt und geisteskrank. Ja, er war krank. Ernsthaft krank! Deswegen haben sie ihn für meinen Kidnapper gehalten, haben ihn beschuldigt und dieser andere, dieses Schwein, lief draußen frei herum während mein Alan, während er...“ Tony sah mit an, wie Kellys Selbstgefühl in sich zusammenfiel, und Hilflosigkeit machte sich in seinen Eingeweiden schwer wie Blei. Ihr Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt worauf sie am ganzen Leib zitterte. Nun flossen die Tränen nicht mehr schüchtern, sondern ergaben sich ungezügelt über ihre Wangen und erweichten die harten Gesichtszüge. Der Hörer glitt ihr aus der Hand.
Tony hatte sich noch nie so nutzlos gefühlt; dazu verdammt, durch eine Glasscheibe von ihr getrennt zu sein und untätig mit ansehen zu müssen, wie sie jegliche Beherrschung verlor und nur noch weinte. Er konnte nicht von ihr weichen – wollte sie nicht allein lassen. Auch als Kelly in ihre Zelle zurückgeführt wurde blieb er noch sitzen. Und während er die Pappschachtel, die vor ihm auf der Ablage ruhte, betrachtete waren seine Gedanken bei einem kleinen Mädchen, das bangend in einem dunklen Keller saß und einer jungen Frau, die schluchzend in ihrer Zelle kauerte. Er bedauerte, keine von beiden gerettet haben zu können, auch wenn er wusste, dass nun jede Hilfe wohl zu spät war.
Epilog vor 2 Jahren...
Kelly verließ das Haus am See durch die Hintertür und warf sie hinter sich ins Schloss. Etwas fiel dahinter polternd zu Boden. Sie achtete nicht weiter darauf, sonder entfernte sich mit schnellen Schritten. Der schmale Weg, der zur Straße am Waldrand hinaufführte war schlammig und uneben. Kelly konnte sich im Halbdunkel der heraufziehenden Nacht nur knapp vor Stürzen retten. Oben angekommen zog sie ihre Jacke enger um sich und sah ein letztes Mal zurück.
Kühler Abendwind kräuselte die Oberfläche des Sees. Das weiße Spiegelbild des Mondes zersprang in tausend glitzernde Sterne, die munter über die Wellen tänzelten. In Kelly erwachten die Erinnerung an die gemeinsamen Angelausflüge mit ihrem Vater. Sein gebräuntes Lächeln und die viel zu kleinen Fische, die sie gefangen hatten, wenn dann überhaupt einmal einer angebissen hatte. Wehmütig sah sie zum Haus herüber. Dort, wo sie fast ihre gesamte Kindheit verbracht hatte und das jetzt von einem geheimnisvollen pulsierenden Glühen umgeben war. Sie seufzte. Dann schlugen die ersten Flammen aus den geöffneten Fenstern, leckten gierig über die Wände und fraßen sich durch das Holz. Schwarze Rußwolken stießen in den Himmel. Kurz darauf brannte es lichterloh und glänzte in flirrendem Gelb und Rot auf der Wasseroberfläche.
Lautes Knistern und das Brechen ehemals stützender Balken drang zu ihr her. Kelly beruhigte der Anblick, und als die Funken auf die naheliegenden Bäume übersprangen wandte sie sich ab.
Ihr Wagen stand im Dunkel am Straßenrand. Drinnen ruhte sie sich einen Moment aus und ließ sich aufwärmen. Aber so konnte sie nicht allzu lange verweilen. Bald würde jemand die Flammen bemerken und dann musste sie weit weg von diesem Ort sein. Auch wenn das hieße, die Vergangenheit im Feuer zurückzulassen.
Kelly lehnte sich vor und holte ein Photo aus dem Handschuhfach.
„Ich habe es für dich getan“, sagte sie, das Bild mit nassen Augen betrachtend. „Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, aber... ich habe es für dich getan, Alan.“ Dann warf sie den Motor an.
Ein kleines Licht kam ihr strauchelnd entgegen. Kelly fuhr los und rammte die entsetzte Fahrradfahrerin ohne darüber nachzudenken. Die ältere Dame schrie als sie in den Straßengraben stürzte und sich den Kopf anschlug. Ihr Mann würde ihren Tod noch Jahre später betrauern.
Während die Flammen hinter ihr wüteten fuhr Kelly noch ein wenig schneller. Sie hatte einen Namen vor Augen und einen Revolver im Kofferraum. Durch die Windschutzscheibe sah sie das letzte Leuchten der untergehenden Sonne am Horizont - so, wie sie es früher immer mit ihrem Vater zusammen auf dem See genossen hatte. Für einen kurzen Augenblick war alles in Ordnung. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Kelly auf George Harris anlegen und mehrmals hintereinander abdrücken wird, wird dies hier der letzte Moment sein, an dem sie wirklich glücklich war.
Dann hallte ein Schrei aus dem brennenden Haus.