- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Raggun Moonwax
„Ich fühle mich eben einfach ausgebrannt. Wie soll ich das sonst sagen? Es ist halt nicht mehr wie früher“, sagte Raggun Moonwax zu seinem Freund Jimmy Krotz. Jimmy saß in einem Ledersessel, Raggun auf der Couch. Der kleine Fernsehapparat des Hotelzimmers lief unbeachtet nebenher.
„Mir ist schon klar, was du damit sagen willst. Aber du musst weitermachen. Dir bleibt gar nichts anderes übrig.“
„Da liegt doch das Problem. Ich habe keine Ahnung, wie ich das durchhalten soll. Und wie lange noch? Zehn Jahre? Um Gottes Willen, nein! Ich glaube, du hast anscheinend doch noch nicht verstanden was...“
„Du glaubst, dass du deine besten Jahre hinter dir hast.“
Raggun machte ein verblüfftes Gesicht. Anscheinend hatte er nicht mit einer derart treffenden Antwort gerechnet. Brachte es doch irgendwie alles auf den Punkt.
„Ja! Das ist es. Seien wir doch mal ehrlich: Ich kann keine Songs mehr schreiben, wie Plain little thoughts about you oder Eye in the Sky. Oder ein Album wie Gravity pulls on the powerlines aufnehmen. Ich habe sozusagen all mein kreatives Pulver verschossen.“
Raggun starrte Jimmy offen ins Gesicht. Als erwarte er eine Antwort auf eine Frage, die er nicht gestellt hatte.
„Auch wenn du es nicht glaubst“, sagte Jimmy aufgebracht, „aber da draußen sind nicht gerade wenige Menschen, die auf dein neues Album warten. Sie nennen sich Fans. Willst du die etwa alle im Stich lassen?“
„Ich würde sie doch nur enttäuschen. Ich bin nicht mehr derselbe Mann, der ich damals war und ich werde es auch nie wieder sein. Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, um aufzuhören, glaub mir. Eine aufgeblasene Abschiedstour noch und dann ist Schluss.“
Jimmy konnte es nicht fassen. Er zitterte vor Wut. Bekam Schweißausbrüche am ganzen Körper. Damit hätte er nie im Leben gerechnet. In zehn Jahren vielleicht, aber Raggun war gerade erst fünfzig geworden und das war nun wirklich etwas zu früh um abzutreten. Für einen Star wie ihn war das definitiv zu früh.
„Raggun…ähm…bist du wirklich sicher, das du das machen willst. Hast du das eben erst entschieden oder…ich meine, du weißt doch genau, was du da tust? Denn wenn du jetzt abtrittst und es dir später noch mal anders überlegst, könnte es sein, dass es dann…vielleicht wirklich zu spät ist.“
„Ja denkst du denn ich bin bescheuert? Ich weiß genau was ich mache, glaube mir. Wenn du jetzt bitte mit diesem Überleg-es-dir-doch-noch-einmal Geschwafel aufhören könntest, würde ich mich sehr freuen. Mein Entschluss steht fest und das habe ich nicht erst vor ein paar Minuten entschieden.“
Jimmy wusste immer genau, wann man Raggun besser in Ruhe lassen sollte. Deshalb entschloss er sich, fürs erste in sein eigenes Zimmer zurück zu gehen und eine Nacht darüber zu schlafen.
Er nahm den Aufzug, denn das Zimmer, in dem er für die nächsten drei Tage wohnen würde, lag zwei Stockwerke unter dem von Raggun. Die Zimmer der restlichen Bandmitglieder lagen aber alle auf der gleichen Ebene wie Ragguns.
Das hatte seine Richtigkeit, denn Jimmy war schließlich kein richtiges Mitglied der Band.
Aber was war er dann? Eine genauere Berufsbezeichnung als ‚Freund der Band’ oder ‚Kreativer Berater’ konnte er niemandem geben. Er kannte Raggun schon seit seiner Schulzeit. Und deshalb, also aus nichts weiter als Freundschaft, schleifte Raggun ihn schon seit fast dreißig Jahren durch das Leben eines Rockstars. Unterstützte ihn finanziell und materiell. Versorgte ihn mit allem, was er brauchte. Aber was machte Jimmy im Gegenzug? Manchmal half er ihm dabei, einen Song zu schreiben, mit dem er nicht weiterkam oder den er sogar schon fast aufgegeben hatte. Er entwarf sogar das komplette Artwork für Ragguns bisher erfolgreichstes Album The man who sold the fish. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass er noch viel mehr tun müsste. Immerhin brauchte er noch nie wirklich hart arbeiten und wenn er mal in der Scheiße saß, holte ihn immer irgendwer wieder raus. Letztendlich war Jimmy nicht einmal wirklich mitverantwortlich für den Ruhm seines berühmten Freundes. Davon war er vollkommen überzeugt. Raggun hätte damals mit Sicherheit auch völlig auf sich allein gestellt seinen Weg gemacht. Aber auf der anderen Seite: Wäre Jimmy in seinem eigenem Leben auch ohne diese speziellen Almosen, die er hin und wieder bekam, klargekommen? Er konnte es nicht genau sagen.
In seinem Hotelzimmer herrschte fürchterliche Unordnung. Er hatte noch keine Zeit gehabt, seine eigenen Sachen zu verstauen. Ebenso wenig die momentan überflüssigen Gerätschaften der Band, die zur Sicherheit immer in Jimmys Zimmer gelagert wurden. Es war schon öfter passiert, dass in den Zimmern der Bandmitglieder eingebrochen wurde und darauf die Konzerte verschoben werden mussten, weil man die Instrumente nicht schnell genug ersetzen konnte. Aber bei Jimmy waren sie völlig sicher, denn keine Sau interessierte sich für ihn. In dreißig gemeinsamen Jahren mit dem wahrscheinlich größten Rockmusiker aller Zeiten war die Presse nicht ein einziges Mal auf den ‚Kreativen Berater’ der Band aufmerksam geworden.
Und das war gut so. Er war zufrieden damit. Alle waren zufrieden damit.
Doch von Ragguns überraschendem Entschluss, seine Karriere an den Nagel zu hängen, würde die Band sicher nicht sonderlich begeistert sein. Jimmy fragte sich, wann er es ihnen sagen würde. Möglicherweise wussten es alle anderen ja bereits und…-nein, das war unwahrscheinlich, denn die wirklich wichtigen Angelegenheiten vertraute Rag immer zuerst Jimmy an. Das war eine der wenigen Tatsachen, die in seiner Welt momentan noch Bestand zu haben schienen.
Und nun musste er sich jemand anderem anvertrauen, wenn er das Ruder noch irgendwie herumreißen wollte. Auf ihn allein würde er nicht hören. Auf seine Band auch nicht.
Deshalb wählte er die Nummer von Norman Karas. Nicht nur die einzige Person, die ihm spontan in den Sinn kam, sondern, wie er noch während das Wartezeichen ertönte, feststellte, auch exakt die Richtige. Er war der Produzent von Ragguns ersten vier Alben und organisierte nun seine Tourneen. Wenn einer wissen konnte, was in einer solchen Situation tun war, dann er.
„Ja?“ meldete sich Karas knapp.
„Hier ist Jimmy. Norman, ich brauche deine Hilfe. Es ist…wegen Raggun.“
„Leg los!“
„Er will aufhören. Mit allem. Kannst du dir das vorstellen, Norm?“
„Wie? Du meinst, mit der Musik. Wieso? Ist irgendwas passiert?“
„Nein, nicht direkt. Nach allem, was er mir vorhin gesagt hat, glaubt er, nicht mehr gut genug zu sein und dass er nicht mehr ernst genommen wird. Wenn du mich fragst, erstickt er im Selbstzweifel. Ich habe ihm daraufhin begreiflich gemacht…versucht, ihm zu erklären, dass er immer noch Fans hat und... Norm, er kann doch nicht vergessen haben, dass es da draußen Leute gibt, die ihn bewundern, die er inspiriert hat…verdammt!“
„Hör zu, Jim. Ich weiß, wie es dir jetzt gehen muss. Und ich kann dir im Moment nur
empfehlen ruhig zu bleiben und nichts zu überstürzen. Gehe ihm vorerst aus dem Weg, wenn du kannst. Soweit ich weiß, habt ihr bis Mittwoch Leerlauf und Donnerstag wäre dann der Auftritt bei der Late Show. Ich bin momentan noch in dieser
Klinik auf dem Mars wegen meiner Bandscheibensache, aber morgen bin ich schon wieder auf freiem Fuß. Also werde ich frühestens Dienstag auf der Erde sein können. Ich habe auch schon eine Idee, was wir machen können, um seine Meinung zu ändern, aber bis ich bei euch bin, unternimm bitte nichts!“
„Alles klar. Dann also bis Dienstag.“
„Machs gut, Jim.“
Drei Tage später, mitten in der Nacht, klingelte das Telefon neben Ragguns Bett.
“Hallo?“, sagte er verschlafen.
„Hier ist Norman.“
„Norman? Die Verbindung ist sehr klar. Von wo rufst du an?“
„Man hat mich wieder entlassen und ich bin auf der Erde. Genau gesagt, bin ich sogar im gleichen Hotel.“
„Hier in Deutschland?“
„Ich sagte doch, im gleichen Hotel. Wir müssen miteinander reden. Es geht um
die Tour auf Pluto.“
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass mein Entschluss feststeht. Sollen sie doch einen Zirkus anheuern, wenn sie mal wieder Abwechslung in ihren Bunkern brauchen. Das kommt vor allem billiger. Es liegt doch wohl auf der Hand, dass ich meine Abschiedstournee nicht am Arsch des Universums mache.“
„Genau darum geht es, Rag. Du wirst keine Abschiedstour machen.“
„Was? D-Du bist ja völlig verrückt. Fängst du nun auch schon so an wie Jim? Ich kann dich jederzeit feuern, ist dir das klar?“ Der Satz verpuffte im Raum.
“Sei doch mal ehrlich, Rag. In deinem Innersten weißt du genau, dass es noch nicht so weit ist. So eine Phase macht jeder mal durch. Vor ein paar Tagen hat mich Jim angerufen. Er hat mir von eurem Gespräch erzählt und er war sehr besorgt. Ich habe so getan, als ob ich noch nichts davon wusste, um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen. Aber Rag, dieser Anruf hat mich endgültig davon überzeugt, dass dein Entschluss falsch ist. Von da an wusste ich, dass ich etwas unternehmen muss.“
„Und was willst du…du kannst mich doch nicht dazu zwingen, etwas zu tun, was ich nicht will. Das ist meine Entscheidung!“
„Man kann nicht immer nur das tun, was für einen selbst am besten ist. Verstehe das doch! Du hast da draußen mehr Anhänger als dir vielleicht bewusst ist. Und dein Problem…es ist…mein Gott, wie soll ich das sagen…es ist wie mit der Wirtschaft. Die Wirtschaft soll immer wachsen, aber irgendwann kommt ein Punkt an dem das nicht mehr geht, an dem alles stagniert. Diesen Punkt hast du jetzt erreicht, Rag. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch wieder aufwärts gehen kann. Und ich werde dir beweisen, dass du es immer noch kannst. Komm bitte morgen früh, sobald du Zeit hast, zu mir ins Zimmer 207.“ Bevor Raggun irgendetwas dazu sagen konnte, legte Norman auf.
Raggun war noch nie der geduldigste Mensch und bezweifelte, dass er in dieser Nacht noch ein Auge zutun würde. Stattdessen zog er sich an und machte sich sofort auf den Weg zu ihm. Schließlich konnte es ja nur etwas verdammt Wichtiges sein (er wird es mir beweisen müssen), wenn ein viel beschäftigter Mann wie Norman alles ruhen ließ, um ihn hier in Deutschland, mitten in der Nacht, zu besuchen. Noch dazu hasste er dieses Land angeblich wie die Pest (Obwohl sich Ragguns Platten hier immer besonders gut verkauft hatten!).
Als er vor Normans Tür stand, kam ihm der Gedanke, dass er möglicherweise auch Jimmy dort drinnen antreffen könnte. Es wäre gut möglich, dass Norm sich entschieden hatte, ihm alles anzuvertrauen. Und nun wollten Sie ihre Kräfte bündeln und ihn überreden, überreden und überreden…
Norman öffnete die Tür und so wie es auf den ersten Blick aussah, war er allein.
„Ich habe irgendwie gewusst, dass du sofort kommen würdest.“ sprach Norman. „Mach es dir bequem.“
Raggun setzte sich auf die Couch und statt sich auch zu setzen, wie er es eigentlich erwartet hatte, ging Norman zum Telefon und wählte irgendeine Nummer. Der Länge nach höchstwahrscheinlich eine Hotelinterne. Aber wozu? Anscheinend wusste Jimmy doch schon längst Bescheid.
„Ja, er ist hier. Ihr könnt nun rüberkommen.“
Einen Augenblick später kam die gesamte Band durch die Tür, aber nicht Jimmy. So kann man sich irren, dachte er. Die grundlegendste Wahrheit des Lebens ist möglicherweise, das alle Abläufe die auf zwischenmenschlicher Ebene stattfinden, generell sehr viel komplizierter sind, als man es sich in der jeweiligen Situation vorstellen kann.
Es waren zu wenige Sitzmöglichkeiten im Zimmer für sechs Leute, also begnügten sich Karl, der Drummer und Seth, der Bassist, mit einem Stehplatz.
„Na dann mal Klartext, Norm. Was habt ihr vor? Wollt ihr mich hypnotisieren lassen, damit sich in meinem Kopf eine optimistischere Grundeinstellung breit macht und ich meine Meinung dann ändere?“
Norman lachte. „An so etwas Kompliziertes habe ich eigentlich gar nicht gedacht, als ich in dieser Klinik war. Es geht darum, dass wir dir zeigen wollen, dass du eigentlich nichts verlernt hast. Nur es ist halt so, dass im Musikbiz irgendwann einfach eine Gewisse Sättigung eintritt. Du könntest als nächstes eine Platte machen, die ungefähr so gut ist, wie deine ersten und sie würde nicht als solche erkannt werden. Sie würde sich vielleicht gut verkaufen, aber in den meisten Kritiken würde nur erwähnt werden, dass du an deine großen Erfolge anknüpfen konntest. Das übliche Gewäsch halt. “
„So war es mit meinen letzten Platten, ja. Und ich denke auch, dass sie ziemlich gut waren. Aber sie hätten trotzdem besser sein müssen.“
„Was ich damit sagen will ist: Es liegt nicht an dir! Du kannst dein Bestes geben und trotzdem versagen. Es ist jetzt wichtiger denn je, dass du das erkennst. Wenn du dich bisher noch nie damit auseinander gesetzt hast, dann wäre nun ein guter Zeitpunkt.“
„So gesehen, hast du irgendwie Recht, aber es liegt doch auch auf der Hand, dass ich mit meinen Ideen irgendwann am Ende bin. Dann hören sich die neuen Songs abgelatscht an oder genau so wie die alten.“
„Und das ist Punkt zwei. Die Basis für eine erfolgreiche Karriere im Musikgeschäft ist, das man auf seine alten Erfolge genau so baut, wie darauf Neue zu schaffen. Was ich dir beweisen will, ist, dass deine Musik immer noch dieselbe Zugkraft hat wie damals. Dieselbe Magie.“
„Aber du hast doch selbst gesagt, der Markt ist übersättigt. Soll ich jetzt vor Pinguinkolonien in der Antarktis auftreten? Die werden sicher begeistert sein!“
„Du bist schon ganz nah dran. Raggun, hast du schon mal von Teleurit gehört?“
Raggun schüttelte den Kopf. Was konnte das sein? Ein Schwermetall?
Norman holte zwei Plastikhandschuhe aus der linken Hosentasche hervor, stülpte sie sich über seine Hände und nahm dann etwas aus seiner anderen Tasche, das wie ein schwarzer Klumpen aus Vulkangestein aussah.
„Ach, wie schön“, verkündete Raggun sarkastisch, „Sammelst du die?“
„Nein, nicht ganz“, erwiderte Norman gelassen. „Nachdem ich aus der Klinik entlassen wurde, bin ich nach Hilton City gefahren, denn ich wusste, dass es der einige Ort ist, wo man unter Umständen an Teleurit kommen kann. Und das auch nur, wenn man Glück hat. Denn es ist nicht nur im gesamten System illegal, sondern auch extrem selten. Du siehst: Ich hatte Glück…aber ich erzähle besser nicht, wie viel ich dafür hinblättern musste.“
„Dieser, äh, Stein da, ist illegal?“
„In der Tat. Angeblich stammt dieses Gestein von einem Planeten namens Malgaus, der fast 50 Lichtjahre von hier entfernt ist.“
„Und wie ist es dann in unser System gekommen? Haben etwa diese…na, du weißt schon…Dinger etwas damit zu tun?“
„Höchstwahrscheinlich. Jedenfalls kann dieses Gestein jedem, der es berührt, Zugang zu einem Paralleluniversum verschaffen. Aber es öffnet nicht nur eine Tür dahin, nein, in gewisser Weise erschafft es ein komplett neues Universum! Und es funktioniert wirklich. Ich habe es selbst ausprobiert.“
Hätte die Band nicht schon über alles bescheid gewusst, hätte in diesem Moment jeder Norman angestarrt, so aber beobachteten sie gespannt Ragguns Reaktion.
„Das ist…na ja, echt, also Leute…und das ist keine Verarsche?“
„Nein, Rag. Diesmal nicht. Dieser Stein hier ist eines dieser Dinge, die es in unserem Universum normalerweise gar nicht geben dürfte. Jedoch wirst du sogar das akzeptieren, sobald du da drüben bist.“
“Hab ich das richtig verstanden? Ich soll auch in dieses Paralleluniversum, äh, überwechseln?“
„Ja. Ich und die Band kommen mit dir. Für mich besteht darin die ultimative Chance, dir zu beweisen, dass du Unrecht hast. Deine Musik ist da nämlich total unbekannt. Du wirst schon sehen, wie die Leute ausflippen werden. Ich habe dort sogar schon einen Auftritt arrangiert. Ihr werdet heute Abend in einem kleinen Club hier in Hannover spielen. Na ja, es wird nicht ganz dieselbe Stadt sein.“ Norman sah, wie er ihn damit verunsichert hatte und versuchte schnell gegenzusteuern: „Du wirst schon sehen, was ich damit meine, wenn wir dort sind. Nach allem, was ich gesehen habe, ist es dort sogar viel besser, als in unserer Welt. Also, kommst du mit?“
„Mmmh…Könnte interessant werden. Wann geht’s los?“
Nachdem sich alle in Ragguns Zimmer versammelt hatten, legte Norman den Stein behutsam in eine Schale die in der Mitte eines Tisches stand.
„Wie wird das ablaufen?“, fragte Raggun Norman, „ Ich meine, müssen wir da jetzt draufpinkeln oder irgendwelche Zaubersprüche aufsagen?“
„Du hast mir vorhin nicht zugehört, Rag. Ich habe gesagt, eine Berührung genügt. Deshalb habe ich doch die Handschuhe getragen. Interessant ist, dass der Stein, sobald er einen neuen Kosmos erschaffen hat, ab sofort in beiden Welten existiert. Und er muss in gleicher Beschaffenheit sein, wenn man den Weg zurück antreten will. Würde er dort zerstört werden, könnten wir höchstwahrscheinlich nicht mehr zurück. Das ist eigentlich ein Paradoxon, weil es nur den Zustand bei der jeweiligen Erstaktivierung…“
„Laaaaangweilig. Könnten wir jetzt bitte anfangen?“, krakeelte Raggun.
„Wie du willst. Es ist wohl das Beste, wenn wir alle zur gleichen Zeit den Stein anfassen. Also dann Leute: Bei drei. Eins…zwo…drei!“
Als Raggun den Stein berührte, verschwamm sein Sichtfeld und verdunkelte sich kurz danach völlig.
Ich kann wieder etwas sehen, stellte Raggun fest. Der Übergang muss schon stattgefunden haben, aber es ist anscheinend noch nicht ganz vorbei. Was zum Henker…
Raggun spürte plötzlich seine Füße nicht mehr. Er versuchte mit der linken Hand herunter zu reichen, um nach ihnen zu tasten. Seine rechte Hand berührte dabei immer noch den Stein. Nachdem er seine Füße zu seiner großen Erleichterung ertastet hatte, versuchte er sich wieder aufzurichten. Er wusste, dass die Prozedur noch nicht ganz überstanden sein konnte, denn es kam ihm vor, als ob sich ihm ein leicht irreales Schwindelgefühl aufdrängen wollte. Während er sich aufrichtete, erhöhte er, ohne es selbst zu bemerken, den Druck auf den Stein. Die Schale, in der er lag, kippte zur Seite und der Stein rollte hinaus. Er flutschte einfach unter den Fingern der anderen weg!
Raggun konnte überhaupt nichts dagegen tun. Stattdessen rollte der Stein wie in Zeitlupe auf den Tischrand zu. Überhaupt schien die Zeit nun eine geleeartige Masse zu sein. Er brauchte praktisch nur seinen linken Arm auszustrecken, um zu verhindern, dass er hinunterfiel, aber es war, als ob er selbst in einem unsichtbaren Spinnennetz fest hing. Der Stein fiel ungehindert auf den Boden und durch den Aufprall zerbrach er in zwei Hälften. In der geistigen, sowie körperlichen Starre, in der er und die anderen sich befanden, fiel es ihm ungewöhnlich schwer, zu entscheiden, ob es nun gut oder eher schlecht ist, dass der Stein zerbrochen war…
Nur ein paar Sekunden später wusste er es allerdings genau und zog die logischen Schlüsse daraus: Der Übergang war vorbei.
Raggun sah sofort hinunter zu seinen Füßen. Die waren noch an Ort und Stelle und der Stein war nicht da.
Er war nicht da! Der Stein lag unbeschädigt in der Schale. Anscheinend hatte er sich das nur eingebildet. Möglicherweise waren Halluzinationen während solcher Dimensionswechsel normal. Er ließ davon ab, Norman zu fragen, was es damit auf sich haben könnte. Es ist nichts passiert, also gibt es auch nichts zu diskutieren. Wäre allerdings der Stein wirklich kaputt gegangen… Nach allem, was er von Norms Ansprache behalten hatte, hätte in diesem Fall keiner von ihnen je wieder in sein angestammtes Universum zurückkehren können. Er versuchte diesen Gedanken so gut wie es ging zu verdrängen.
„Bist du okay, Rag?“, fragte ihn Mick, der Gitarrist.
„Klar. Aber war dir auch so schwindelig dabei.“
„Nee. Ich glaub nicht.“
„Seht euch das an!“, sagte Norman begeistert. „Ist das nicht unglaublich! Das gleiche Zimmer, oder? Auf den ersten Blick ist es dasselbe Zimmer…aber spürt ihr irgendetwas?“
Raggun spürte es auch. Was immer Norm mit ‚irgendetwas’ meinte, er fühlte es jetzt. Alles war an seinem Platz, wie vorher auch, aber die Möbel, das Licht und die Farben, jedes Detail übte eine ungeheure Präsenz aus. Sogar das Muster der Tapete schien ihn regelrecht anzuspringen.
„Nach einer Stunde schwächen sich die Eindrücke ab“, erklärte Norman, „Beim nächsten Übergang werden sie auch nicht mehr so stark sein.“
Raggun fragte sich, ob es für ihn einen weiteren Übergang in diese Welt geben wird, nach allem was hätte passieren können, wäre der Stein wirklich zerbrochen. Erkannte Norman denn nicht die Gefahr einer solchen Unternehmung? Es musste ihm wirklich sehr viel an der Sache liegen.
Deshalb stand für Raggun fest, das er bei allem mitmachen wird, was Norman hier auf die Beine stellen würde. Zumindest heute.
Nun bereute er auch ein wenig, dass er Jimmy nicht vorher in alles eingeweiht hatte.
Jimmy lag in seinem Bett und fragte sich, was mit Norman los war. Er hätte ja schließlich längst da sein müssen. Diese Anspannung kann doch kein Mensch ertragen, dachte er sich.
Es ist zwar mitten in der Nacht, überlegte er, aber es kann durchaus sein, dass er jeden Moment ankommt. Möglicherweise hat er den Speeder verpasst und musste mit irgendeinem privaten Transportunternehmen vorlieb nehmen. Das wäre typisch für ihn, denn er war schließlich noch nie sonderlich pünktlich. Es wäre am besten, ihn einfach anzurufen. Gleich jetzt!
Jimmy nahm sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählte Normans Nummer.
Nach einer Weile knackte es in der Leitung und eine tiefe, männliche Stimme erklang: „Norman Karars Mobiltelefon liegt momentan auf einer ganz besonders geschmacklosen Kommode in Zimmer 207“, sagte die Stimme von Clint Eastwood in einem lässigen Ton. „Anscheinend hat er gerade Wichtigeres zu tun, als ihren hoffentlich dringenden Anruf entgegenzunehmen. Doch mit etwas Glück treffen Sie ihn dort auch persönlich an. Worauf warten Sie also noch? Nun gehen Sie schon hin!“
Jimmy legte auf. Diese Telefone werden immer unfreundlicher. Vor allem musste man alle drei Wochen seine Nummer ändern. Diese obszönen Spamanrufe machen einen ansonsten früher oder später meschugge.
Der sinnvollere Teil der Ansage hatte ihn ziemlich verwirrt. Norman war also schon längst hier, aber warum wusste er davon nichts? Das würde nur Sinn machen, wenn…wenn er alles selbst in die Hand nehmen wollte. Deshalb hatte er entschieden, ihm nichts zu sagen. Er wollte ihn eben nicht verunsichern, das war alles.
Nun, da Norman endlich eingetroffen war, gab es allerdings auch keinen Anlass für ihn, noch länger abzuwarten. Schließlich hatte er zu ihm gesagt, er solle nichts unternehmen, bis er da wäre.
Als Jimmy an Normans Tür klopfte, machte niemand auf und durch den kleinen Spalt unter der Tür fiel kein Licht auf den Flur. Er schlussfolgerte, dass er wahrscheinlich schon längst bei Raggun war. Deshalb ging er bis zum anderen Ende des Korridors und klopfte wiederum an die Tür zum Zimmer 252. Da auch hier niemand öffnete, nahm er seinen Copykey aus der Tasche und wählte auf dem integrierten Bildschirm Ragguns Zimmerschlüssel aus. Er hatte wie immer eine Kopie von dem Schlüssel gemacht, so, dass er in einem Notfall schnell ins Rags Zimmer gelangen konnte. In der Liste tauchten ausserdem sein Autoschlüssel und der für sein Appartement in Vancouver auf. Er bestätigte und kurz darauf formte sich ein Schlüssel aus, der keinen Unterschied zum Original aufwies und mit dem sich das Schloss problemlos öffnen ließ.
Jimmy schaltete das Licht an. Was ihm sofort auffiel, war, dass der Tisch leer war. Normalerweise war solch ein Tisch, wenn einer da war, bei Raggun immer mit irgendwelchem Krimskrams beladen. Er ließ seinen Blick weiter im Raum umherschweifen und entdeckte, dass bis auf ein Magazin, das auf dem Sofa lag, alles völlig normal aussah. Er ging hinüber, um zu sehen, was es für eine Zeitschrift war, stolperte aber auf halben Weg über etwas, das eben noch vor ihm auf dem Boden lag und nun unter die Tische, Stühle und Schränke hindurch bis an die entgegengesetzte Zimmerwand gerollt war. Jimmy sah an der vermeintlichen Stelle nach und wurde hinter einem Papierkorb fündig. Er wollte es erst anfassen, zog aber rasch seine Hände weg, als er erkannt hatte, was es war.
„Um Gottes Willen! Das ist Teleurit. Das kann doch nicht Norms Plan gewesen sein, nie im Leben. Und vor allem…es könnte bereits zu spät sein.“
Seine Knie fühlten sich plötzlich an, als wären Sie aus Gummi und kurz danach brach er dort wo er stand zusammen. Von einem Moment auf den anderen war er mit seinen Gedanken so weit weg von dieser Stadt und von diesem Hotel, ja sogar von diesem Planeten, dass er gar nicht mehr wirklich überlegte, als er mit seinem Zeigefinger das Teleurit berührte.
Im Pendulum, eine ehemals total heruntergekommene Ex-Schuhfabrik, die durch sündhaft teure Renovierungsarbeiten nach und nach in einen bedeutenden Indie-Rock Nachtclub verwandelt worden war, machte sich die Band bereit für ihren Auftritt. Raggun checkte noch kurz das Mikro, ging mit Mick und den anderen die Abfolge der Songs durch und stimmte das relativ zahlreich erschienene Publikum auf das folgende Konzert ein. Nachdem er die Stimmung seiner Meinung nach genug angeheizt hatte, begann er schließlich mit dem ersten Song.
„Dieses Lied heißt The weight of the world.” Er wollte zuerst sagen, dass es von seinem ersten Album stammt, aber dann dachte er daran, dass hier ja überhaupt noch keine Platte von ihm veröffentlicht wurde und ließ es deshalb bleiben. Das kann man wirklich einen unerschlossenen Markt nennen, stellte er fest.
Als der Song ausklang, flog die erste Flasche auf die Bühne.
Jimmy konnte zehn Minuten lang nicht aufstehen, nachdem der Übergang abgeschlossen war. Hätte er es versucht, wäre sein Schädel explodiert - das nahm er zumindest an.
Als er es endlich geschafft hatte gegen die Wogen seiner Übelkeit anzukämpfen, schaute er sich den Stein das erste mal genauer an. Sogar von einiger Entfernung war zu erkennen, dass er nun anders aussah, als in seinem eigenen Universum. Das Erstaunliche war nämlich, dass er hier viel größer war. Bevor Jimmy den Übergang vollzog, nahm er natürlich an, dass der Stein auch schon so angebröckelt aussah, als Raggun und die anderen den Übergang durchführten. Da er aber hier nicht zerbrochen war, könnte das eventuell für ihn bedeuten, dass-
Jimmy brach seinen Gedanken ab, denn mit solchen Dingen konnte er sich später noch befassen. Nun kam es nur darauf an, das Schlimmste noch irgendwie abzuwenden. Aber nach allem, was er über dieses Teufelszeug gehört hatte, befürchtete er, dass es unter Umständen schon längst zu spät sein konnte.
Norman hatte Jimmy einmal von einem Szeneclub in dem echten Hannover erzählt, der angeblich landesweit bekannt war. Da Norman Ragguns Tourneestationen nie besonders abwegig auswählte, könnte es gut sein, dass er ausgerechnet dort einen Auftritt organisiert hat, bei dem sich Raggun beweisen sollte. Nur hatte er anscheinend nicht genug über Telurium gewusst, als er das tat. Ein düsterer Schauer wanderte über seinen Rücken und seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen.
Raggun machte eine beschwichtigende Handbewegung, doch das Publikum war nun anscheinend endgültig durchgedreht. Vorhin wäre sein Bassist fast von einer Flasche am Kopf getroffen worden und gerade eben zerbrach eine weitere vor seinen Füßen. Also was konnte er tun? Raggun stellte fest, dass er eigentlich in seinem ganzen Leben noch nie in einer solchen Situation gewesen war. Deshalb konnte er nur instinktiv handeln. Doch was sollte man schon tun, wenn Songs, die in einem Universum, das nach logischen Regeln aufgebaut ist, die Leute von ihren Sitzen reißen würden, hier nur mit böswilligem Pfeifen und Grölen quittiert werden?
Er konnte nur auf seine Weise dagegen ankämpfen. Bisher war noch Niemand zu Schaden gekommen, also kündigte er den nächsten Song an: „So, ihr Holzköpfe,“ schrie Raggun gegen die Menge an, „der nächste Song gilt da, wo ich herkomme als so genannter Crowd-Pleaser. Ich nehme daher an, dass er hier auch genauso gut aufgenommen wird, wie ich es von Deppen wie euch gewohnt bin. He, du da, würdest du bitte mal die Fresse halten, damit wir anfangen können. Vielen Dank, ich danke dir!“ Wenn das Norman sehen könnte, dachte er sarkastisch.
Nachdem er es geschafft hatte, den Türsteher zu bestechen und sich durch die wütenden Massen bis zu einem Platz vorgekämpft hatte, an dem er erkennen konnte, was auf der Bühne passierte, spürte Jimmy Hoffnung in sich aufkeimen. Noch war nichts Ernstes passiert, aber die Stimmung um ihn herum befand sich bereits auf einem Tiefpunkt. Man konnte nicht wirklich sagen, dass die Menschen hier enttäuscht waren, nein. Sie waren regelrecht wütend! Binde Wut, Hass und irgendwie auch Streitsucht. Aber warum verließ Rag nicht einfach die Bühne? Wollte nun Er Norman etwas beweisen?
Bei dieser bis zum Anschlag aufgeheizten Atmosphäre war es umso erstaunlicher, dass jemand neben ihm es fertig brachte, ihm eine halbwegs vernünftig formulierte, allerdings auch völlig unangebrachte Frage zu stellen: „Hey du! Kannst du mir sagen, wer das ist?“
„Das ist Raggun Moonwax, er-…oh mein Gott!“
Stühle flogen durch die Gegend, Flaschen durch die Luft. Es war, als wäre plötzlich, aus einer spontanen Anwandlung von Raserei heraus, die Hölle ausgebrochen. Die blindwütige Horde stürmte auf die Bühne zu.
Durch einen unerwarteten Stoß von hinten wurde Jimmy zu Fall gebracht. Er erfuhr nie gekannte Schmerzen, als schlagartig hunderte Schuhsohlen über seinen Rücken hinübertrampelten und wahrscheinlich seine Nieren zermatschten. Irgendwo, von einer Bühne, mehrere Lichtjahre entfernt, hörte er einen erschreckten Schrei. Dann wurde alles dunkel.
Nach einer kurzen Phase der Bewusstlosigkeit, öffnete Jimmy die Augen. Es war völlig still im Raum. Da er fest annahm, nun, nachdem eine Barbarenhorde über ihn hinweggetrampelt war, mindestens querschnittsgelähmt zu sein, weinte er fast Freudentränen, als er feststellte, dass sich sowohl seine Beine, als auch seine Arme bewegen ließen. Nur ein brennender Schmerz, der sich über seinen Rücken ausstrahlte blieb zurück.
Aber was war passiert? Raggun! Sein erster Gedanke. Nun war es tatsächlich zu spät. Dabei hätte sich alles vermeiden lassen, wenn er frühzeitig von Normans Plan erfahren hätte.
Jimmy schleppte sich zur Bühne. Überall wo er hinsah, lag Blut. Zehn Schritte weiter übergab er sich. Zwanzig Schritte weiter brach er total zusammen, als er die Leiche des Bassisten sah, die in einer Fötushaltung auf dem Boden lag. Sie hatten ihm die Augen ausgestochen.
Nachdem er schon entschieden hatte, dass er wohl für sein ganzes Leben genug Tod gesehen hatte, kam der nächste Schock für ihn. Und nun war es sicher schon genug für fünf Leben: Im Korridor hinter der Bühne hingen die Leichen der restlichen Bandmitglieder von der Decke. Man hatte sie einfach an den Lampen aufgehängt. Der Teppich darunter war getränkt von ihrem Blut. Nun brauchte er sich auch keine Hoffnungen mehr machen, dass Norman noch lebte. Sein toter Körper saß im Schneidersitz vor einer Tür die nach draußen führte. Im Kopf war…er konnte da einfach nicht hinsehen.
Da er keinen Drang verspürte, nach einer anderen Tür zu suchen, um nach außen zu gelangen, überwand er sich und schob den toten Norman ein wenig mit dem Fuß beiseite, damit ihm der Weg in die Freiheit offen stand.
Du hast etwas Entscheidendes übersehen, Norman. Du hast etwas…
Die Gasse, zu der sich die Tür öffnete, war eng, dunkel und voll mit Müll. Nebelschwaden zogen umher und ein leichter Nieselregen verpasste der Umgebung einen Hauch von trügerischer Melancholie und falschem Stillstand. Dabei konnten die Leute, die seine Freunde umgebracht hatten, immer noch in der Nähe sein.
Jegliche Angst, die sich während der letzten Minuten in ihm aufgebaut hatte, verschwand vollständig, als er am Ende der kleinen Gasse eine Schattengestalt sah, bei der es sich nur um Raggun Moonwax handeln konnte. Zwar sah erkannte man in dem schwachen Licht nur seine Silhouette, aber für jemanden, der ihn schon sein ganzes Leben kannte, reichte das schon aus. Er war anscheinend schwer verletzt und bewegte sich auf dem Boden kriechend auf die Hauptstraße zu. Jimmy nahm an, dass er einen Fehler begehen würde, die schützende Dunkelheit zu verlassen und lief nun so schnell er konnte auf ihn zu, um ihn am Weiterkommen zu hindern.
Und er hatte Recht. Über die Straße, auf die die Gasse zulief, kreisten dutzende Lichtkegel, die sie möglicherweise nach Raggun absuchten. Aber er selbst schien überhaupt nichts davon zu bemerken und kroch weiter in Richtung Falle. Jimmy erhöhte deshalb sein Tempo; trotz der immer heftiger werdenden Schmerzen, die ihm jede Bewegung bereitete.
Als er Raggun endlich erreichte, war es fast zu spät. Gerade streifte ein Lichtkegel eine Stelle, wo sich kurz vorher noch Ragguns Kopf befunden hatte und spiegelte sich grell in einer Pfütze. Jimmy zögerte nicht lange und zog ihn zurück in den Schatten.
„Wir müssen hier weg, Raggun. Sofort!“, sagte er leise, aber bestimmt.
„Ihr seid alle tot.“ Er klang, als spräche er durch einen Wasserfall hindurch. Aus seinem Mund quoll ein kleines Blutrinnsal hervor und lief an seinem Hals herunter.
„Nein, ich weigere mich, zu glauben, dass ich tot bin und ich bringe dich jetzt hier weg, ob du willst oder nicht.
„Jim- Jimmy. Bist du das?“
„Ja, Rag. Ja, ich bin’s.“
„Aber alle anderen sind tot, oder? Ich konnte sie nicht retten.“
„Wir müssen hier sofort weg. Sonst werden sie uns auch umbringen.“
Er half Raggun auf die Beine und schleppte sich mit ihm bis an das andere Ende der Gasse. Von hier aus gingen sie weiter in Richtung Hotel. Die Straßen waren wie ausgestorben. Jimmy konnte sein Glück nicht fassen, denn es war das erste Mal, dass während seines Aufenthalts in dieser Welt, irgendetwas ohne Probleme ablief.
Als sie vor Ragguns Hotelzimmer standen, holte Jimmy seinen Copykey heraus und öffnete das Schloss. Sie hatten es wirklich geschafft. Das war fast zu gut, um wahr zu sein.
Der Teleuritstein lag nach wie vor bei dem Papierkorb an der Wand, als er das Licht anschaltete.
„Jimmy, wie kann ich jemals dir dafür danken? Du mir gerade das Leben gerettet.“
„Hör mir zu, Rag: Wenn du wieder in der echten Welt bist“ sagte er, während er die Tür verriegelte, „dann ruf bitte sofort den Notruf an, denn du verlierst nach wie vor sehr viel Blut.“
„Mach ich…aber warum soll Ich das machen? Ich meine, was tust du denn, während ich…“
„Ich kann nicht mehr zurück.“ Jimmy kamen ärgerlicherweise die Tränen, noch während er sprach.
„Das ist nicht dein Ernst!“
„Doch. Denn in unserem Universum ist der Stein auseinander gebrochen. Aber erst, nachdem ihr den Übergang durchgeführt hattet. Ich nehme an, dass die Schale auf dem Tisch irgendwie umgefallen ist, nachdem ihr schon alle hier wart.“
„Das bedeutet, du kannst nur zurückkehren, wenn du einen Stein findest, der genauso aussieht wie der, den ich… der vom Tisch gefallen ist.“
“Und eben dieser existiert hier nicht. Geh jetzt, Raggun. Sonst finden sie uns.“
„Wer sind die eigentlich? Du scheinst darüber irgendetwas zu wissen.“
„Ich glaube, als Norman den Übergang zum ersten Mal gemacht hat, wusste er nur die halbe Wahrheit über das Teleurit und hatte dazu auch noch Dusel. Denn ansonsten hätte er es sicher kein zweites Mal gemacht. Es ist nämlich so…stell dir einmal vor, dieser Stein würde nicht nur ein neues Universum erschaffen, dass komplett aus dem ursprünglichen hervorgeht, sondern er würde auch das denkbar schlechteste für den Übergänger kreieren. Das ist nämlich genau das, was Teleurit normalerweise tut.“
“Normalerweise?“
„Glaub mir, das was es in Ausnahmefällen macht, willst du gar nicht wissen. Denn auch so ist es schon schlimm genug. Es ist nämlich so, dass hier generell alles schief läuft. Das bedeutet quasi, wenn die Götter, die hier vielleicht herrschen eine Möglichkeit finden, dich los zu werden, dann nutzen sie sie auch.“
In diesem Moment fiel Jimmy etwas ein: Sie waren unbeschadet bis zum Hotel gekommen und auch Raggun war nichts passiert. Es könnte durchaus sein, dass, was immer hier schief gelaufen war, aufgehört hatte, nachdem Norman gestorben war. Schließlich war er es, der dieses Universum beim ersten Kontakt mit dem Stein erschaffen hatte.
„Dann sollte ich mich wohl lieber so schnell wie möglich vom Acker machen, bevor ich noch an einem völlig spontanen Aneurysma zu Grunde gehe.“
Jimmy musste darüber lachen, so unpassend es auch war; er konnte es nicht verhindern. Raggun stimmte mit ein. Doch plötzlich verstummte Jimmy abrupt.
„Raggun?“, flüsterte er, „Hörst du das?“
„Nein, was-.“
„Ist schon gut. Es war nichts. Ich dachte, jemand hätte an der Tür geklopft.“
“Ich sollte jetzt echt gehen.“
„Was ist das da?“, fragte Jimmy, obwohl er eigentlich auch wollte, dass Raggun sich aus dem Staub macht.
„Das Tape? Ach, da ist ein Song drauf, den ich mit einem 4-Track Recorder aufgenommen hatte, der hier komischerweise herumstand. Kurz nachdem wir hier ankamen, haben wir eine spontane Jamsession gemacht und da ist der entstanden. Ich habe ihn vorhin gespielt, aber er kam nicht sonderlich gut an.“ Er lächelte grimmig. „Er ist verdammt gut. Willst du ihn dir anhören?“
„Du musst jetzt wirklich weg von hier!“, sagte Jimmy erschrocken. Diese Sache zog sich gefährlich in die Länge. Er fragte sich, ob das auf ihrem freien Willen basierte oder ob hier immer noch eine Art höherer Wille ihr Handeln diktierte.
Raggun legte das Tape in den Kassettenrekorder und spielte es ab. „Hier ist der Text.“ Er zeigte auf einen zerfledderten Zettel der neben dem Gerät lag.
„Mein Gott, Rag! Der ist fantastisch. Das ist besser, als alles, was du in den letzten Jahren gemacht hast.“ Das widerspricht der Theorie, dass mit Normans Tod die negativen Eigenschaften des Teleurits eliminiert wurden. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.
„Ehrlich? Du findest ihn gut!? Ich dachte, hier läuft immer alles schief?“
„Anscheinend nicht immer, oder…ach, ich habe keine Ahnung. Du solltest jetzt wirklich gehen.“
“Und ich kann auch nicht zurück, oder? Ich werde dich also nie wieder sehen?“, fragte Raggun.
„Nein. In deiner Welt ist der Stein für immer zerstört.“
Es klopfte an der Tür. Diesmal hörten sie es beide.
„Ich wünschte wir hätten Zeit für einen angemesseneren Abschied, aber so… Auf Wiedersehen, Jimmy.“
„Mach’s gut, Rag. “
Kurz darauf berührte Raggun den Stein, und war sogleich verschwunden.
Das Klopfen an der Tür schwellte an, wurde immer lauter und schneller. Nun hörte es sich so an, als ob zwanzig Fäuste gegen die Tür hämmerten. Dreißig. Vierzig. Fünfzig!
„Ich mache ja schon auf. Nur Geduld.“
Er öffnete das Schloss und vor ihm stand statt der lynchwütigen Menge, die er erwartet hatte, ein einzelner, adrett gekleideter Mann, der ihm die Hand reichte.
„Ich heiße Ted Stanzer und komme von Zony. Man hat…ihren Manager gefunden. Na ja, er ist tot und damit wohl auch sein Label. In Folge dessen dachten wir uns, dass sie nun vielleicht bei uns unterschreiben wollen. Dreißig Millionen Dollar für drei Alben in den nächsten sieben Jahren. Wie hört sich das an?“
Jimmy wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab hier zu überleben. Nämlich in dem man bei dem mitspielt, was immer hier auch gespielt wurde. Anscheinend war hier jemand, der wie er aussah, das, was Raggun in seiner Welt war. Und der echte Jimmy-Raggun war anscheinend auch tot.
„Oh, das hört sich sehr gut an. Aber ich verlange totalen Personenschutz, wenn ich unterschreiben soll.“
„Dafür ist natürlich schon gesorgt. Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein; vor allem, wenn man Jimmy Krotz heißt. Nicht wahr?“
„Da haben Sie absolut Recht.“
ENDE