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Raimund Ramsch: Raxans Seelenfänger

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01.09.2005
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Raimund Ramsch: Raxans Seelenfänger

Raimunds Ramsch: Raxans Seelenfänger

Diesen Teil der Altstadt hatte Tim bis dahin nur von Erzählungen auf dem Schulhof gekannt. Es war eine Gegend, vor der die Erwachsenen einen warnten. Von der sein Vater Samstag morgens kopfschüttelnd in der Zeitung las, weil dort jemand für fünfzehn Euro erstochen worden war oder die Polizei eine Großrazzia unternommen hatte. Ängstlich musterte Tim die verwahrlosten Gestalten, die ihm entgegenkamen. Er achtete darauf, die Augen sofort abzuwenden, wenn sich sein Blick mit dem eines der nach Pisse, Kotze und lange nicht gewaschenen Socken stinkenden Ungetüme kreuzten. Was fast jedes Mal geschah, denn auch er wurde von der Mehrheit der Passanten auf der Hellmannstraße angestarrt. Für diese Gegend war er zu jung, zu gut gekleidet und zu gut ernährt. In seinem Freundeskreis galt er als „doch schon etwas kräftiger.“ Verglichen mit den Bewohnern der Hellmanstraße, so kam er nicht umhin zu bemerken, war er ein überfütterter Moloch. Außerdem stand er nicht mal mit einem Bein im Grab, geschweige denn mit beiden und den dürren Fingern sich kraftlos an ein bisschen Restleben krallend wie die Leute hier. Einige waren vermutlich kaum zwanzig, aber sie bewegten sich wie Sechzigjährige und waren so dünn, dass ihre Wangenknochen jeden Moment durch die blasse Haut zu stoßen drohten. Tim musste an den Delorian aus „Zurück in die Zukunft“ und an Zeitreisen denken. Die Damen und Herren hier hatten auch einen Fluxkompensator, und sie betrieben ihn mit einer Mischung aus Heroin und Blut, in dem HIV und Hepatitis ihre Bahnen zogen wie Haie im Ozean. Zack! Schon hatte der Körper in zwei tatsächlichen Jahren vierzig biologische hinter sich gebracht: Großer Gott, Marty, was für eine Riesenscheiße!
„Hey.“
Eine Frauenstimme. Lieblich wie Krähengesang, herbe wie drei Schachteln Zigaretten täglich und Cornflakes mit Weinbrand statt Milch zum Frühstück. Tim sah sie aus dem Augenwinkel. Eine der Prostituierten. Fortgeschrittenes Semester. Von der Sorte, die höchstwahrscheinlich davon lebten, ihre stockbesoffenen Freier abzuzocken, weil kein nüchterner Mann es so nötig haben konnte. Er ging schneller. Wahrscheinlich meinte sie ohnehin nicht ihn.
„Ey! Ey, Kleiner, was glaubst du denn, was du hier machst? Ja, du, mit der Mütze, ich mein dich!“
Scheiße. Natürlich meinte sie ihn. Er begann zu laufen. Das Schaufenster des Ladens konnte er bereits sehen, und darin Pistolen (An denen ein Etikett mit der Aufschrift ‚Nicht funktionsfähig - Nur zu Dekorationszwecken’ hing), Zigarren, Bücher, Fernseher, Pornovideos. Über all dem hing ein Stück weiße Spanplatte, auf der mit schwarzem Edding „Raimunds Ramsch“ geschrieben stand. In der rechten unteren Ecke war das Schaufenster eingeschlagen worden. Ziemlich genau in der Mitte hatte sich ein talentloser Graffiti-Künstler in knallrot verewigt: „Raimund du blöde Nazisau zieh ab!“
Es war alles genau so, wie die Jungs beim Fußball es beschrieben hatten. Aber keiner von den Versagern hatte es je bis hierher geschafft. Tim fühlte sein Herz pochen. Die Nutte rief etwas, aber er hörte nur Geräusche, den Sinn der Worte konnte sein Verstand nicht mehr entschlüsseln. All die abgefahrenen Sachen, die man sich über das Innere des Ladens in der Stadt erzählte, über den Besitzer und natürlich vor allem über die angebotenen Waren, all das würde er in wenigen Sekunden aus erster Hand bezeugen können. Er glaubte bereits ihre neidischen Stimmen respektvoll flüstern zu hören: „Du willst was über diesen total kranken Laden in der Altstadt wissen? Mann, frag Tim Brams, der war schon mal drin.“ In der Schule. Beim Fußball. In der Skatehalle. Nein, diesen Ruhm ließ er sich jetzt nicht mehr von einer verlebten Nutte streitig machen. „Hey, Kleiner, sieh zu, dass du noch Hause kommst, oder...“ Er stieß die Tür auf, so dass sie im Inneren des Ladens gegen die Wand knallte. Eine Bimmel kündigte von seinem Besuch. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Er schmiss die Tür mit derselben Inbrunst zu, mit der er sie geöffnet hatte. Geschafft!
Tim hatte nur Bruchteile von Sekunden Zeit, sich an das exotisch biedere Innere des Ladens zu gewöhnen – es war ein bisschen so, als hätte jemand im Wohnzimmer seiner streng konservativen Großeltern einen Star Wars Fanshop eröffnet – da hörte er lautes, von nassem Husten begleitetes Fluchen. Das unfreundliche Geräusch kam aus einem Raum, in den man offensichtlich durch eine Tür hinter einer Glasvitrine gelangen konnte. Während das Husten und die immer absurderen und primitiveren Schimpfwort-Kaskaden („Wenn die Tür kaputt ist schluck’ ich Rizinus und scheiß’ dir in den Mund bis dir das Gedärm platzt du ochsenpimmellutschende Junkie-Missgeburt!“) sich von der anderen Seite der Tür näherten, hatte Tim kurz Gelegenheit, die Gegenstände im Inneren der Vitrine näher zu betrachten. Darin lagen ein Totenkopf, zwei Filme auf Videokassetten mit den Titeln „Ein Zombie hing am Glockenseil“ und „Ausgeleiert aber geil: Oma reißt die Pflaume auf“, eine Replika von Freddy Kruegers Messerhandschuh und eine Hakenkreuzarmbinde.
Die Tür hinter der Vitrine wurde aufgerissen und heraus schoss der hässlichste alte Mann, den Tim je gesehen hatte. Er näherte sich ihm mit einer Geschwindigkeit, die dem klapperdürren Greis wohl niemand zugetraut hätte, der ihm auf der Straße begegnet wäre. Tim dachte ‚Meine Fresse, er sieht ja aus wie...,’ dann war der Alte bei ihm. Die Beine des Jungen drohten unter ihm wegzuknicken. In der rechten Hand, von der die Haut schlaff und mit Leberflecken übersät herabhing wie an der Leine aufgehängte dreckige Bettwäsche, hielt der Methusalem eine Pistole. Tim erkannte die Waffe. Es war eine Luger, so wie die Nazis in den Filmen sie immer hatten. „Bittebittebittewartensieichichich...,“ stotterte er, und er spürte, dass seine Blase sich auf der Stelle entleert hätte, wäre er nicht zehn Minuten zuvor bei McDonalds in der Innenstadt pinkeln gewesen.
„Halts Maul, Junkietunte!“ schrie der schreckliche alte Mann und stieß den Lauf der Luger schmerzhaft in Tims Wange. „Halts Maul oder ich schieß deinen Unterkiefer in Stücke, du kleines Miststück. Was hast du gedacht, häh? Ich geh’ zu Raimund, ja, ich geh’ zu dem alten Sack, der schon keinen mehr hochgekriegt hat, als ich dummes Stück Menschenmüll noch nicht geboren war, und dann nehme ich mir halt, was ich kriegen kann. Das hast du gedacht. Du bist noch nicht lange hier, was? Hast vorher auf Bahnhofsklos in anderen Pissstädten deine Spritzen gesetzt, was? Sonst wüsstest du nämlich, dass man hier nicht einfach reinspaziert und Geld für den nächsten Schuss aus der Kasse nimmt, weil der senile Trottel Raimund sich eh’ nicht wehren kann. Er wehrt sich nämlich sehr wohl, du mieses Stück. Ich wette mit der Situation, in der du jetzt gerade steckst, hast du heute morgen beim Aufstehen am Allerwenigsten gerechnet, oder?“
In seinem Kopf versuchte Tim, ein Gebet zusammenzubringen, kam aber vor Angst nicht weiter als „Lieber Gott“, eine Begrüßungsformel, die sich vor seinem inneren Ohr ständig wiederholte, bis die Worte schließlich überhaupt keinen Sinn mehr ergaben.
„Hören sie, ich, ich, also ich...“
Der alte Mann legte den Kopf schief wie ein Hund, der ein unbekanntes Geräusch hört.
„Ich was? Stotterst du von Natur aus oder hast du dir das Sprachzentrum im Gehirn rausgefixt?“
„Ich nehme keine Drogen. Und ich will sie auch nicht überfallen. Ich bin hier, weil ich mir den Laden mal ansehen wollte. Quasi ’ne Art Mutprobe. Weil alle in der Schule darüber reden, wie cool dieser Laden ist. Was man hier alles kaufen kann. Wissen sie, die labern alle nur. Wenn man nachhakt, merkt man schnell, dass niemand jemals wirklich hier gewesen ist. Die Gegend ist zu... heiß, und ich glaube, ein bisschen haben die auch Angst vor... also...“
Tim spürte, wie der Druck auf seiner Wange nachließ. In der zitternden Hand des aufgebrachten Alten tanzte der Lauf der Luger jetzt direkt vor seinem Gesicht. Raimund hustete in ein Taschentuch. Als er es wieder von den Lippen nahm, sah Tim kurz einen rotbraunen Fleck auf dem schmierigen Weiß des Tuches. Wieder legte der Alte den Kopf schief.
„Warum stürmst du dann hier rein als wärst du auf irgendwas drauf? Und warum knallst du die verdammte Tür so?“
Mit erhobenen Händen machte Tim einige Schritte nach rechts und drehte sich um, so dass er durch das Schaufenster sah. Er deutete auf die Hure, die ihm hinterhergerufen hatte. Sie stand vor dem Laden und schien zu überlegen, ob sie es wagen sollte, ihn zu betreten. Sie betrachtete die Eingangstür mit dem Blick eines Bungee-Springers, der plötzlich Zweifel bekam und sich fragte, ob die Sache es wirklich wert sei.
„Die klang so, als wolle sie mich am Nacken packen und ans Ende der Straße schleifen.“ erklärte Tim. „Mutterinstinkt oder so, weiß nicht.“ Der alte Mann kramte eine Brille mit dreckigen Gläsern aus der Hemdtasche, aus der er auch das Taschentuch hervorgezogen hatte. Er fixierte die Frau vor seinem Laden, sah Tim an, sah wieder die Frau an, sah noch einmal Tim an und ließ die Waffe sinken. Der Junge spürte Erleichterung, die seine schlotternden Knie festigte wie langsam trocknender Zement.
Der Alte rotzte noch einmal in sein Taschentuch. Tim verzog sein Gesicht zu einem Ausdruck des Ekels, als der braune Speichelfaden durch die blassrosa Lippen des Alten schoss.
„Nutten.“ zischte der mit so angewiderter Stimme, dass Tim das Wort zuerst gar nicht als ein solches erkannte und stattdessen weiteren Auswurf hinter dem merkwürdigen Klang vermutete. „Drecksnutten. Zigeuner. Und aus Osteuropa. Gibt keine Schwanzseuche, die sie dir nicht anhängen, wenn du dich auf ihre siffigen Dreckfotzen einlässt.“
Tim bekam den Mund nicht wieder zu. Einen Mann, der sein Großvater hätte seien können, so reden zu hören, erschütterte sein Weltbild in den Grundfesten. Jetzt fiel ihm ein, an wen der Alte mit seinem Geiergesicht, den gelblich trüben Augen und den schlabbernden Klamotten ihn erinnerte. Er sah aus wie einer der Skekse aus dem Puppentrickfilm „Der dunkle Kristall“, jenen Wesen, die halb Raubvogel und halb Wiesel oder haarlose Ratte zu sein schienen, und die friedliebenden Elfen die Lebensenergie raubten, um die seelenlosen Hüllen anschließend zu versklaven. Diese Feststellung trug kaum dazu bei, das mulmige Gefühl in Tims Magen abklingen lassen.
Raimund zog sich hinter die Glasvitrine zurück. Er inspizierte seinen Kunden von oben bis unten und polierte die Luger mit seinem Hemd. Der Junge fragte sich, ob die Waffe in Anbetracht des Gestankes nach saurem Schweiß und ranzigem Senf, den das Hemd verströmte, wirklich sauberer werden würde.
„Hat Amon Göth gehört.“ klärte der Alte Tim mit einem Anflug von Stolz in der Stimme auf und hielt die Luger triumphierend in die Höhe. „Weißt du, wer das war?“
Tim schluckte und schüttelte vorsichtig den Kopf.
„Nein, natürlich nicht. Du kennst nur David Hasselhoff und Donald Duck. Die späte Rache der verdammten Amis. Haben mit ihren Judenfilmen und ihrer Negermusik eine Generation herangezogen, die sich nicht selbst die Schuhe zubinden kann.“ Er steckte die Pistole über dem Gesäß in seine Hose.
„Du kannst mich Raimund nennen. Wie heißt du, Dickerchen?“
Tim versuchte zu antworten, doch seine Lippen bewegten sich nicht.
„Hey, ich hab’ dich was gefragt, Pfannkuchenjunge!“ Raimund schlug mit der flachen Hand so fest auf die Glasvitrine, dass es wie ein Wunder schien, dass sie ganz blieb. Tim zuckte zusammen. Seine Lippen bebten, als er sich vorstellte: „T... äh... Tim.”
“Na dann, was kann ich also für dich tun, T...Tim. Etwas gegen Stottern? Comics mit Titten? Ein Messer? Eine Pistole? Für die müsste ich natürlich deinen Ausweis sehen, damit ich weiß, wo du wohnst, falls du mit den Dingern gepackt wirst und erzählst, wo du sie her hast.“ Raimund lachte, wobei das Lachen in ein Husten überging und der Husten in das Hochwürgen von Schleim. Er holte wieder sein Taschentuch hervor.
Tim sah sich um. Von der Decke des Ladens hingen einige ausgestopfte Vögel und eine Nachbildung der schwebenden Käfige, in die man im Mittelalter Menschen gesperrt und dann einfach ihrem Schicksal überlassen hatte. Aus dem Inneren des Käfigs krallten sich Skelettfinger um die Gitterstäbe, die trotz des falschen Maßstabs – etwa 1:3 – beunruhigend echt aussahen. Rechts des Schaufensters befanden sich einige Holzregale, auf denen vollkommen unsortiert Comichefte, Magazine mehr oder wenigen schlüpfrigen Inhaltes und Bücher, auf deren Umschlägen Tim Namen wie „Shakespeare“, „Goethe“ und „De Sade“ lesen konnte, gestapelt lagen. Wesentlich mehr Aufmerksamkeit weckte aber das Regal zu seiner Linken, auf dem er... Ja, was zum Teufel lag da eigentlich drauf?
„Ah, du bist also nicht völlig verdorben, hm? Da gibt es ein Auge für das Besondere, das da aus diesem von Akne geplagten, fetten Gesicht herausglotzt, oder täusche ich mich da?“
Beleidigungen schienen für Raimund eine Konversations-Norm, die es zu erfüllen galt. Tim hatte sich bereits daran gewöhnt und fühlte sich kaum noch verletzt. Das Einzige, was jetzt zählte, war das Regal. Es sah eigentlich genau so aus, wie das mit den Comics und dem anderen Trödel, aber irgendetwas an diesem Ding hier verströmte eine gewisse... Tims Wortschatz versagte. ‚Erhabenheit’ hätte ein Erwachsener es wohl genannt. Eine besondere Art der Erhabenheit. Die eines Grizzlybären, der sich auf die Hinterbeine stellt, bereit, sein Revier gegen Eindringlinge zu verteidigen.
Raimund kam hinter seiner Glastheke hervor – feucht und hellrot in sein Taschentuch röchelnd – stellte sich hinter Tim und beugte sich zu ihm hinunter. Zwar war Tim nicht klein für sein Alter, doch Raimund war ein spindeldürrer Riese, der den Jungen um fast zwei Köpfe überragte.
„Na los.“ flüsterte er in Tims Ohr. Der wusste nicht einmal, was genau es eigentlich war, das seine Konzentration so fesselte. Aber etwas schien ihn... zu rufen. „Geh’ nachsehen.“ Raimund legte eine Hand auf Tims Schulter. ‚Finger wie kalte Bleistifte.’ dachte der Junge kurz, doch sofort musste dieser Gedanke wieder der vernunftlosen Faszination weichen, die ihn in ihrer Gewalt hatte. „Geh’ schon. Vielleicht findest du ja was. Was red’ ich! Mit Sicherheit findest du was. Ein aufgeweckter kleiner Fettsack wie du...“
Tim schüttelte vorsichtig den Kopf. Er betrachtete das Regal und dachte an fleischfressende Pflanzen, die ihre Opfer mit verführerischen Düften anlockten.
„Ich... wollte mich ja nur umsehen, eigentlich suche ich ja gar nichts...“
„Dickerchen, du bist jung, darum lass dir von einem alten Soldaten, der ein dreiviertel Jahrhundert mehr Lebenserfahrung auf dem Buckel hat als du, mal eins gesagt sein: Niemand von uns sucht und findet Dinge in seinem Leben. Die Dinge suchen und finden uns.“
Raimund kramte mit der Hand, die nicht auf Tims Schultern ruhte, nach seinem fleckigen Taschentuch und hielt es dem Jungen unter die Nase.
„Das war vielleicht ein bisschen abstrakt für ein Kind aus deiner Idioten-Generation, darum verdeutliche es mal anhand eines Beispiels. Ich meine hier,“ er wedelte mit dem Taschentuch, „Sieh dir mal diesen Mist hier an. Meinen Freund hier. Hab’ ich nicht gesucht. Aber er fand mich. Gestatten, Krebs. Ha! So schnell geht das.“
Tim machte einen Schritt auf das Regal zu. In seinem Rücken glaubte er Raimunds Lächeln zu spüren. Sollte der alte Nazi sich vor Lachen in die Hose pissen. Alles war egal. Was immer da auf dem Regal lag, hörte nicht auf ihn zu rufen. Jetzt, wo er genau davor stand, erkannte Tim, dass das hölzerne Ding nur auf den ersten Blick dasselbe war wie das, auf dem in der anderen Ecke des Ladens die Comics und Bücher gestapelt waren. Dieses hier sah älter aus, edler, nicht so sehr nach Ikea-Ausschuss. Das dunkelbraune Holz war mit einem Muster verziert, eine hypnotisierende Anordnung von Linien, die sich so fein über seine Oberfläche schlängelten, dass man sie nur aus nächster Nähe erkennen konnte. Zwar erkannte man einzelne Linien, aber es war unmöglich, irgendeinen Anfang oder Ende auszumachen. Es erinnerte Tim an das Symbol in der Unendlichen Geschichte, in dem sich die beiden Schlangen in den Schwanz beißen.
Die Dinge, die auf dem Regal lagen, schienen auf dem Muster zu treiben wie führerlose Boote auf dem Meer. Tim erkannte jede Menge Broschen und Amulette, von denen einige sich sicher gut unter einer Kristallglocke in einem Museum gemacht hätten.
„Die meisten Leute würden auf diesem Regal nur billigen Kitsch und wertlosen, antiken Nippes sehen.“ Raimund war Tim die paar Schritte zum Regal gefolgt und stand neben ihm. „Du wirst gesucht, Dickerchen. Du bist gar nicht so plump, wie du aussiehst. Na los. Nimm dir eins.“
Tim atmete vorsichtig, so als könne die Luft aus seine Lungen irgendetwas kaputt machen. „Ich weiß nicht... welches.“ flüsterte er.
„Was immer es ist, weiß, dass es dich will.“ entgegnete Raimund. „Greif einfach zu.“
Tim sah, wie seine Finger sich nach einem der Amulette streckten. Er hätte seine Hand in diesem Moment nicht zurückhalten können, hätte sie nach einer fauchenden Klapperschlange gegriffen. Seine Faust schloss sich um ein Stück, das an einer einfachen, silberfarbenen Kette hing. Das Amulett selbst war ein Kristall, der von blassem Gold eingefasst war. Der Kristall war hohl. In seinem Inneren waberte eine dunkle, fast schwarze Flüssigkeit.
„Ah...“ Raimund legte seinen rechten Arm um Tim und schloss seine Hand um die des Jungen, die das Amulett hielt. „Eine fantastische Wahl. Ein wunderbares Stück. Raxans Seelenfänger.“
„Was?“
Raimund löste seine Umarmung. „Raxan war Priester am Hofe Xerxes I. im antiken Persien. Offiziell predigte er die Staatsreligion, aber insgeheim war er im Bunde mit anderen Mächten, von denen er wusste, dass sie noch die Geschicke der Menschheit lenken würden, lange nachdem das persische Reich zu Staub zerfallen sein würde.“
„Was? Ich meine... woher wissen sie ’n das?“ Tim sah den Alten nicht an, während er sprach. Wie ein frisch Verliebter hatte er nur Augen für das Objekt seiner Begierde.
„Was ist da drin? Das Flüssige da? Ist das Blut oder so?“
Raimund grinste und entblößte ockerfarbene Zähne mit einigen Spritzern des Zeugs, dass er ständig in sein Taschentuch rotzte.
„Nachdem Xerxes I. umgebracht worden war, ließ sein Sohn und Nachfolger, Artaxerxes, den Attentäter mit den Mulden hinrichten. Der Mörder wurde zwischen zwei Hälften eines tönernen Gefäßes gelegt, die seinen Rumpf umschlossen, so dass Gliedmaßen und Kopf frei lagen. Ich denke, man muss sich das ungefähr wie eine Schildkröte in ihrem Panzer vorstellen.“ Raimund kicherte, hustete, rotzte in sein Taschentuch und erzählte weiter: „Dem Delinquenten wurde zu Essen und zu Trinken gegeben. Wer isst und trinkt, muss scheißen und pissen, und hier fing dann der eigentliche Spaß an. Fäkalien und Urin konnten nicht aus den Mulden entweichen, so waren sie konstruiert.“
Tim sah, wie das Entsetzen in seinem Gesicht den alten Raimund entzückte.
„Einige Wochen später verstarb der gute Mann. Er war bei lebendigem Leibe verfault. Raxan als Hohepriester genoss mehr oder weniger uneingeschränkten Zugang zu jedem Winkel des Palastes. Auch zum Kerker. Er hatte das Sterben des Attentäters aufmerksam verfolgt, und er wusste, dass, wenn jemand auf so unerfreuliche Weise ging, er Energie hinterließ, die sich... formen ließ. Vorrausgesetzt natürlich, sie fällt in die Hände von jemandem, der weiß, wie er damit umzugehen hat. Und so jemand war Raxan ja.“
Angeekelt betrachtete Tim das Amulett in seiner Hand. Fast hätte er es fallen lassen.
„Ich sehe, du ahnst, was das Zeug da drin ist, darum beende ich die Geschichte mal an dieser Stelle. Lass mich dir einfach versichern, dass der alte Raxan die Energie des hingerichteten Königsmörders nutzte, um dieses Amulett mit hochinteressanten Fähigkeiten auszustatten.“
„Was?“ Tim hatte die Geschichte des unglücklichen Attentäters bereits fast vergessen. Gier spiegelte sich in seinen Augen. „Was? Was kann es?“
„Mmmh, na ja, es macht dich nicht unbesiegbar oder so, jedenfalls nicht direkt... Weißt du, Unterhaltung ist für die Menschen nicht erst seit der Erfindung des Fernsehens wichtig.“
Tim glotze Raimund an. „Häh?“
„Ach, Dickerchen... Warte hier.“
Raimund schlurfte rüber zum Regal auf der anderen Seite des Ladens und kam mit einem Comicheft wieder. Er reichte es Tim, der es fragend musterte. Batman. Auf dem Cover war der Joker, der mit seinem breiten Grinsen und durch den Sucher einer Kamera blinzelnd den Betrachter der Umschlagseite fotografierte.
„Ähm... und jetzt?“
„Halte das Heft und greife das Amulett, so fest du kannst. Versuche, an nichts zu denken. Schließe deine Augen.“
Zunächst war Tim sicher, der Alte würde ihn auf den Arm nehmen. Nichts passierte. Doch dann begann die Welt zu verschwimmen. Raimunds heiseres Atmen verstummte. Tim roch kalte Luft. Nachtluft. Und Popcorn. Um ihn herum manifestierte sich eine Welt aus Karussells, Losbuden und Geisterbahnen. Ein leerer Rummelplatz! Im Dunkeln ungefähr so vergnüglich wie ein Clown im Mondlicht. Ein Clown...
Tränen standen in seinen Augen. Er lag auf dem Boden. Er schmeckte Blut. Stechender Schmerz malträtierte sein Hirn. Seine Nase war gebrochen. Seine Gedanken sinnlos. Oder? Er konnte nicht aufhören zu lachen. Es war ganz großes Theater gewesen, die Tochter des Comissioners zu erschießen und den alten Tattergreis selbst an diesen irrwitzigen Ort zu entführen, um ihn hier in den Wahnsinn zu treiben. Aber natürlich gab der Dunkle mal wieder den Spielverderber.
Was? Was zum Teufel machst du in meinem Kopf? Tim spürte die Luft schmerzhaft aus seinen Lungen weichen, als er in die Rippen getreten wurde. Er sah auf und vor ihm stand Batman, so real wie sein Mathelehrer. Tim hob die Hand und wollte schreien. Stattdessen spürte er, wie sich seine Mundwinkel zu einem breiten Grinsen verzogen. Er sah kalkweiße, dürre Finger. Das... Ein Wahnsinniger hieß eine weitere Stimme in seinem Kopf willkommen. Es ist immer aufregend, neue Leute kennen zu lernen.
Tim schrie, riss die Augen auf und stand in Raimunds Laden. Der Alte hielt ihn am Arm und schüttelte ihn. Das Comicheft lag auf dem Boden. Es roch wieder nach alten Dingen und alten Menschen. Und nichts tat mehr weh.
„Oh Mann, oh Mann, oh Mann.“
„Hat es dir gefallen, Dickerchen?“
„Oh, oh, oh meine Fresse!“
„Fantastisch, nicht wahr? Ein unangenehmer Tod, ein bisschen Magie, ein fähiger Mann und rums. Ficken ist nichts dagegen, oder? Na ja, das kannst du kleiner Fettsack wohl noch nicht beurteilen, aber lass dir gesagt sein...“
„Was war das?“ Tim spürte Speichel seinen Mundwinkel herunterlaufen. Es war ihm egal. „Was verdammt noch mal ist denn gerade passiert. Ich meine... was...“
„Du bist durch eine Tür gegangen. Aus der Realität in diese, wahrscheinlich saudumme, Amigeschichte.“ Raimund trat verächtlich nach dem Batman Heft auf dem Boden. „Raxans Amulett ist der Schlüssel für diese Tür.“
„Man kann damit... in Comichefte einsteigen?“
Raimund wischte sich die Lippen mit seinem Taschentuch und verdrehte genervt die Augen.
„Was glaubst du denn, wie viele Comichefte es im alten Persien gab, du Schwachkopf? Es geht nicht um Comichefte im Besonderen, sondern um Abbildungen der Realität im Allgemeinen. Geschichte und Geschichten. Mythen und Legenden. Die Form ist völlig egal. Bilder, Bücher, wahrscheinlich klappt es sogar beim Fernsehen, das weiß ich nicht genau. Das Ganze hat nur zwei Nachteile.“
„Welche?“
„Zunächst mal kannst du dir weder aussuchen, an welcher Stelle du in die Geschichte einsteigst, noch die Perspektive, durch die du sie erlebst. Das kann unter Umständen etwas unangenehm sein, aber natürlich auch besonders aufregend. Kommt ein bisschen drauf an, wie du so veranlagt bist.“
Tim dachte and den Schmerz seiner gebrochenen Nase und den Tritt in seine Rippen. Batman zu sein wäre definitiv besser gewesen. Zumindest in diesem Abschnitt der Geschichte.
„Außerdem kannst du nie alleine gehen. Falls du also irgendwelche... ganz bestimmten Welten erleben möchtest, wird immer wer darüber Bescheid wissen. Du musst jemanden finden, dem du wirklich vertraust, wenn du das Geschenk, das dir dieser Schlüssel macht, auch voll auskosten möchtest.“
„Warum kann man nicht alleine gehen?“
„Gehen kann man schon, aber nicht zurückkommen. Die Geschichte wird dich aufsaugen, wenn du nicht zurückgeholt wirst, denn aus eigener Kraft geht das nicht. Du musst geweckt werden, wie aus einem Traum. Ansonsten bleibst du irgendwann für immer auf der anderen Seite. Das ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn man in irgendein Pornoheft, „gestiegen“ ist, wie du das nanntest, aber stell dir vor, du findest dich als Fortunato in Poes ‚Fass Amontillado’ und kannst nicht mehr zurück. Das wäre für dich die Ewigkeit in Todesangst, während der Montresor dich Stein um Stein ins Mausoleum seiner Vorfahren einmauert.“
„Wer? In was für ein Museum?“
Raimund schnaufte verächtlich.
„Du kennst diesen Film mit dem Hai. Von dem Judenregisseur.“
„Häh? Oh! Spielberg! Der weiße Hai! Ja klar!“
„Stell dir vor, du bist für alle Zeit der hässliche Ami, der dem Hai am Ende ins Maul rutscht. Dazu verdammt, diesen Augenblick immer und immer wieder zu erleben. Bis in alle Ewigkeit. Oder zumindest solange ein Medium existiert, durch das diese Geschichte erzählt wird.“
Tim schluckte. „Oh. Ja. Das wäre echt scheiße.“
„Das wäre es Dickerchen, in der Tat.“ Raimund grinste und befeuchtete mit der Zungenspitze seine Lippen. Dann schlurfte er wieder zurück hinter seine Glasvitrine, nahm seine Luger und machte Zielübungen durch das Schaufenster.
Tim betrachtete das Amulett in seiner Hand. Für einen Moment war er sicher, alles geträumt zu haben. Dann kniff er sich ins Ohrläppchen. Es tat weh. Er war hier. Der Geruch, das Herzklopfen, der ewig röchelnde Alte und schließlich das Amulett – das alles war echt. Sein Kurzurlaub in Batmans Protektorat Gotham City hatte tatsächlich stattgefunden. Es war die unglaublichste Erfahrung seines Lebens gewesen, auch wenn sie wohl nur Sekunden gedauert hatte. Er musste dieses Amulett haben, koste es...
„Was wollen sie denn dafür haben?“
„Du musst einen Vertrag unterschreiben. Mit Blut.“
Tim überlegte, an welcher Stelle er mit maximalem Effekt – Blut – und minimalen Kosten – Schmerz - in seine Haut ritzen könnte, als Raimund anfing zu lachen, wobei das Lachen natürlich wieder in den obligatorischen Kotzhusten überging. Endlich wurde das Taschentuch, das vor lauter aufgesaugter Nässe bereits angefangen hatte, bräunlich-feucht zu schimmern, in einen Mülleimer unter der Glasvitrine geworfen.
„Ha! Dein Gesicht, Pfannkuchen! Das war natürlich nur ein Scherz, du Depp.“ Mit dem Zeigefinger deutete Raimund seinem Kunden, näher zu kommen. Die Geste erinnerte Tim an alle bösen Hexen in allen Märchen dieser Welt.
„Wieviel hast du dabei, Dickerchen?“
Tim legte das Amulett vorsichtig auf die Glasvitrine und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Er durchforstete es sorgfältig und kramte dann noch das Wechselgeld, dass er eben bei McDonalds lose in seinen Rucksack geworfen hatte, hervor.
„26 Euro und 38 Cent.“
Raimund streckte Tim über die Glasvitrine hinweg seine offene Hand entgegen. Der Junge zögerte einen Moment.
„Alles?“
Raimund nickte. Tim legte das Geld – zwei Zehner, einen Fünfer und Kleingeld – in die gierig ausgestreckte, knochige Hand.
„Das ist natürlich noch lange nicht alles. Wie viel Taschengeld kriegst du?“
„30 Euro im Monat von meinem Vater, und von meiner Mutter noch ab und zu...“
„Du kommst hier einmal im Monat vorbei und gibst mir Fünfzehn Euro. Bist du eine Schuld abgezahlt hast von,“ Raimund nahm das Amulett von der Vitrine und musterte es abschätzend, „sagen wir tausend Euro. Natürlich kannst du zwischenzeitlich größere Teile der Summe abstottern, an Geburtstagen und dergleichen.“
Tim dachte kurz nach.
„O.k.. Aber was wäre, wenn ich einfach nicht mehr wiederkommen würde?“
Raimund legte wieder seinen Kopf schief, ein fellloser Hundewelpe direkt aus Dantes Inferno, so süß wie faules Fleisch. „Was?“
Tim hielt dem Geierblick des Alten nicht den Bruchteil einer Sekunde stand. Er sah zu Boden. „Ach, nichts.“
„Dann herzlichen Glückwunsch zu deinem Kauf, Dickerchen.“
Tim nahm das Amulett und konnte den Blick nicht davon abwenden, während er sich langsamen Schrittes in Richtung Ladentür bewegte. Er wollte gerade nach der Türklinke greifen, als er sich noch einmal umdrehte.
„Und sie wollen wirklich bloß Geld?“
Raimund lachte sein ratterndes Krebslachen.
„Pfannkuchen, ich wünschte wirklich, ich hätte edlere Motive, deine Seele oder dein Erstgeborenenrecht oder so. Aber weißt du, die linken Hunde haben über fünf Jahrzehnte mein sauer verdientes Geld Schmarotzern wie denen da draußen in den Arsch geblasen, und jetzt sind die Rentenkassen leer und ’n alter Kriegsheld wie ich muss zusehen, wo er bleibt.“
„Ich werde zahlen.“
Raimund schloss die Augen und lächelte. Er sah aus wie ein Weinkenner, der gerade einen Schluck von einem besonders edlen Tropfen genommen hatte. „Hmmm, das wirst du. Davon bin ich überzeugt.“ Dann zielte er mit seiner Luger noch einmal auf Tim und machte sich auf, wieder in der Tür hinter der Vitrine zu verschwinden. „Und jetzt, Dickerchen... Meine Zeit ist weiß Gott schon knapp genug. Verpiss dich endlich.“
Das machte Tim.

„Du hast n’ Knall. Ich glaub’ dir kein Wort. Wahrscheinlich ist das Ding aus’m Kaugummiautomaten.“
„Es ist aus dem verdammten Laden, und wenn du es zumindest mal ausprobieren würdest...“
„Genau, und du machst dann wahrscheinlich noch ’n Foto von mir, wie ich mit geschlossenen Augen dastehe und warte, dass ich mich irgendwie metaphysisch auflöse und versuche, mein Astral – Ich in den aktuellen Playboy eintauchen zu lassen. Scheiße, ich bin jetzt vierzehn Jahre alt, für Verarschaktionen wie diese kommst du ungefähr zehn Jahre zu spät.“
Tim seufzte. Natürlich hatte Daniel allen Grund, ihm zu misstrauen. Er selbst hätte nicht anders reagiert, wäre er als sein eigener kleiner Bruder aufgewachsen. Von Abführmittel in den Cornflakes bis zu Cowboy und Indianer Spielen, bei denen der gefesselte Two-Gun-Danny „versehentlich“ einen Nachmittag lang am Marterpfahl vergessen worden war, hatte sein jüngerer Bruder einiges unter seiner Willkürherrschaft zu erdulden gehabt. Dennoch fühlte Tim sich nun ein wenig verletzt durch die Zurückweisung durch sein eigen Fleisch und Blut. Er hatte gerade die großartigste Erfahrung seines Lebens gemacht, und trotz allen Zwistes zwischen ihm und seinem Bruder (den er in Abwesenheit ihrer Eltern manchmal liebevoll „Made“ nannte) spürte er das Verlangen, dieses Erlebnis mit niemand Geringerem als dem Zweitgeborenen seiner Eltern zu teilen. Scheiß drauf, was dem unglückseligen Two-Gun damals südlich des Coyote-River zugestoßen war.
Abgesehen davon brauchte er eine zweite Meinung, um sicherzugehen, dass er keinen Knall hatte. Seit er den Laden verlassen hatte, war er sich dessen nämlich mit jeder Minute etwas unsicherer geworden. Und wer wäre wohl besser geeignet, den einwandfreien Zustand des Gehirns zu verifizieren, als ein jüngerer Bruder, dem man unter Androhung übelster Prügel spielend leicht das anschließende Schweigen abverlangen konnte?
„Made, ernsthaft, check das einfach mal aus. Ich verarsch dich nicht... Du siehst doch das Zeug, das da drin schwimmt, was soll denn das Anderes sein...“
„Was? Der schwarze Siff da? Jetzt, wo du’s sagst. Genau! Was könnte das auch anderes sein als die Kacke von ’nem Kameltreiber, der vor ’n paar tausend Jahren durch Kacken hingerichtet wurde. Keine Ahnung! Oder warte... Alles Mögliche vielleicht? Mann, du solltest Filme drehen. Wie kommt man bloß auf so ’n... Scheiß?“ Daniel fing an zu lachen.
„Ich geh’ jetzt zum Fußball. Du bist ’n Arsch.“ Tim stand auf, verließ das Zimmer seines Bruders und ließ die Tür ordentlich hinter sich krachen. Daniels Lachkrampf löste sich. Er betrachtete das Amulett, das sein älterer Bruder auf seinem Schreibtisch liegen gelassen hatte. Als er danach griff, war es so, als würden nicht seine Fingerkuppen das seidene, kühle Metall streicheln. Es schien umgekehrt zu sein. Jetzt war ihm nicht mehr nach lachen zumute. Er hörte die Haustür zuschlagen, als Tim rausging.
„Kannst du all diese Dinge?“ fragte er das Amulett und sah sich nervös kichernd um, um sicherzugehen, dass ihn niemand hörte. Aber Tim war fort, und auch ihre Eltern würden erst spät am Abend wiederkommen. Heute war Freitag, und da trafen sie sich nach der Arbeit meist noch mit James, einem Engländer, den sein Vater vom Studium kannte und der hier in Deutschland geblieben war, nachdem er in einer Vorlesung über Erbrecht seine mittlerweile an Leukämie verstorbene Frau kennen gelernt hatte.
Daniel wühlte durch den Unrat auf seinem Schreibtisch. Zigaretten (Was zum Teufel lagen die hier so offen? Großer Gott, zum Glück hatte er sie vor der Rückkehr seiner Eltern bemerkt), ein Tupac Best-Of, natürlich gebrannt, ein Star Wars Comic, zwei Ausgaben des Mad-Magazins, sein Geschichtsbuch. Er lächelte unsicher. Ein Laserschwertduell mit Darth Vader? Das wäre schon was. Oder sich in einem dieser herrlich blöden Mad-Cartoons wiederfinden. Wie wäre das, eine Comicfigur zu sein? Wären die Cartoon-Figuren... echt? Ihm wurde eiskalt bei dem Gedanken, einer verformten Karikatur gegenüberzustehen. Daniel bezweifelte, dass diese Gestalten ohne die Zweidimensionalität, die stetig ihre Nicht-Existenz versicherte, besonders lustig wären.
Er schlug sein Geschichtsbuch auf. Erstes Kapitel. Antike. Daniel blätterte, blieb kurz hängen bei dem Diagramm, das die Gesellschaftsordnung im alten Rom veranschaulichte, erinnerte sich an einen vermasselten Geschichtstest und blätterte weiter. Schließlich kam er bei dem Bild an, das sich ihm eingebrannt hatte, seit das Buch am Anfang des Schuljahres ausgegeben worden war.
Das es das wirklich gegeben hatte... Das kein Zeichner oder Schriftsteller sich diese Dinge ausgedacht hatte, sondern das es einmal Realität gewesen war, so echt wie der Stuhl unter seinem Hintern... Daniel verstand nicht, dass Leute wie Markus Stallmann, den er vom Gitarrenunterricht kannte, so etwas vollkommen kalt ließ. „Scheiße ist passiert, Scheiße passiert und Scheiße wird passieren.“ war Markus’ vulgär-existenzialistische Antwort auf alles, vom Holocaust bis zu den Anschlägen in den USA am elften September. Daniel hingegen machte sich fast in die Hose bei dem Gedanken, dass Dinge wie die auf dem Bild tatsächlich passiert waren. Aber obwohl noch fast ein Kind, hatte er bereits das kosmische Gesetz verstanden, nach dem Furcht und Faszination zusammen gehören wie Dracula und Van Helsing.
Er berührte das Bild mit der linken Hand, hielt mit der rechten das Amulett und betrachtete es misstrauisch. „Du hast mich eh’ nur wieder verarscht, also was soll’s.“ versicherte er sich selbst und lachte noch einmal humorlos. Dann schloss er die Augen.

„Hey, sind Mama und Papa immer noch nicht da...“ Das Zimmer war leer. Tim schmiss seine Sporttasche auf den Boden. „Hey! Daniel?“ rief er aus dem Zimmer raus auf den Flur. Wäre sein Bruder auf der Toilette gewesen, hätte er das Licht im Badezimmer sehen müssen. Schließlich war es mittlerweile dunkel geworden. „Dan...“ Auf dem Schreibtisch lag’ ein aufgeschlagenes Buch. „Nicht allein.“ flüsterte Tim. „Scheiße, ich hab’ doch, hab’ ich nicht gesagt nicht allein, ich, oh Gott Mann Scheiße, ich hab’ vergessen zu sagen nicht allein...“
Er stolperte zwei Schritte auf das offene Buch zu und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte. Jede Kraft floss aus seinen Armen und Beinen wie Wein aus einem undichten Fass. Die Bildunterschrift lautete: „Frustriert von den Kämpfen nehmen die Legionäre im Namen Roms grausame Rache an den sechstausend Überlebenden des Spartacus-Aufstandes – Die Gefangenen werden entlang der Via Appia nach Rom gekreuzigt.“ Das Bild zeigte eine Straße, auf dem nackte und aneinandergekettete Männer von Soldaten vorangetrieben wurden. Rechts und links säumten Kreuze mit bereits gerichteten Kameraden den Weg, auf deren Gesichtern Schmerz und Wahnsinn tanzten, während ihr eigenes Körpergewicht die Nägel dazu brachte, ihre Unterarme bis zu den Handwurzelknochen aufzureißen – an diese medizinischen Fakten des langsamen Kreuzigungs-Todes erinnerte Tim sich aus dem Konfirmandenunterricht. Vor einem der Kreuze stand ein Legionär und inspizierte mit neugierigem Blick etwas, das Tim, während sich ein warmer Pissfleck im Schritt seiner Hose bildete, als Raxans Seelenfänger wiedererkannte. Vor dem Legionär lag ein Gefangener auf dem Kreuz und wurde von vier Soldaten festgehalten, während ein fünfter den letzten noch fehlenden Nagel, den durch die übereinander gelegten Hacken, durch Fleisch und Knochen trieb. Der Gekreuzigte schrie, und sein qualvoll entstellter Blick verfing sich voller Sehnsucht in den Augen des Betrachters, so als könne der Gepeinigte durch den Rand des Bildes wie durch ein Fenster in eine andere, bessere Welt sehen.
Tim schrie hoch wie ein Kleinkind. Das Gesicht des Jungen auf dem Kreuz war das seines Bruders.

 

Holla Proof,

also, dann mal ran an deine lange Geschichte :D

Was fast jedes Mal geschah, denn auch
streichen

und zu gut ernährt.
genährt

In seinem Freundeskreis galt er als „doch schon etwas kräftiger.“
Klingt auch seltsam. Schreib ruhig, dass er dick ist. Da die Geschichte nicht aus der Ichperspektive geschrieben ist, wäre das echt legitim.

Cornflakes mit Weinbrand statt Milch zum Frühstück.
sehr geil :D

Nicht, dass es nötig gewesen wäre.
Und deswegen ist der Satz auch sinnlos. Streichen.

(„Wenn die Tür kaputt ist schluck’ ich Rizinus und scheiß’ dir in den Mund bis dir das Gedärm platzt du ochsenpimmellutschende Junkie-Missgeburt!“)
Also entweder du bringst das in wörtlicher Rede rein, oder streichst es.

und heraus schoss der hässlichste alte Mann
Was für eine Charakterbeschreibung. Bitte etwas detaillierter und weniger wertender.

„Halts Maul, Junkietunte!“ schrie der schreckliche alte Mann
"schreckliche" streichen.

durch die blassrosa Lippen des Alten schoss.
blassrosanen

„Nutten.“ zischte der mit so angewiderter Stimme
"Nutten", zischte er mit

Jetzt fiel ihm ein, an wen der Alte mit seinem Geiergesicht, den gelblich trüben Augen und den schlabbernden Klamotten ihn erinnerte.
Jetzt fiel ihm ein, an wen ihn der Alte mit seinem Geiergesicht, den gelblich trüben Augen und den schlabbernden Klamotten erinnerte.

Es erinnerte Tim an das Symbol in der Unendlichen Geschichte, in dem sich die beiden Schlangen in den Schwanz beißen.
Das folgende muß man öfters Leuten sagen, die noch nicht soviel Erfahrung haben im Schreiben: Vergleiche mit Gegenständen oder Personen aus Filmen kommen nie gut. Ich denke, der hier vorliegende ist bereits der dritte, den du bringst. Einmal sowas zu machen ist okay, dreimal schon wirklich schwach. Laß das und schreib einfach, wie es aussieht, anstatt zu sagen, an was es dich erinnert.

„Stell dir vor, du bist für alle Zeit der hässliche Ami, der dem Hai am Ende ins Maul rutscht. Dazu verdammt, diesen Augenblick immer und immer wieder zu erleben.
Dantes Hölle sozusagen :D

Bist du eine Schuld abgezahlt hast von
du deine Schuld

„O.k.. Aber was wäre, wenn ich einfach nicht mehr wiederkommen würde?“
Pflichtverletzung aus dem Kaufvertrag und so... zivilrechtlich strafbar nach §433 II BGB

„Und sie wollen wirklich bloß Geld?“
Und Sie

„Ich geh’ jetzt zum Fußball. Du bist ’n Arsch.“
Ich schwöre, dies momentan zu schreiben: Der kleine Bruder benutzt das Amulett :D

Heute war Freitag, und da trafen sie sich nach der Arbeit meist noch mit James, einem Engländer, den sein Vater vom Studium kannte und der hier in Deutschland geblieben war, nachdem er in einer Vorlesung über Erbrecht seine mittlerweile an Leukämie verstorbene Frau kennen gelernt hatte.
Bitte, das ist ja vollkommen uninteressant. Streichen!

Ja, das Ende war klar... ansonsten eine feine, im "Gänsehaut" (jetzt komm ich auch mal auf ne Fernseh-/ Bücherserie zurück) Format geschriebene Geschichte. Verblüffend wie fehlerlos. Auch die Ausführlichkeit, mit der du alles beschreibst, hat mich nicht gestört, verhindert dir auf diese Seite nur leider viele Leser.

Manche Vergleiche waren schon stark, andere dafür eher unglücklich gewählt. Insgesamt ein runder Lesevergnügen.

Starsailor

 

Hi Starsailor,

vielen Dank für deine Kritik. Ich dachte schon, ich würde hier aus Gründen, die ich nicht kenne, boykottiert, aber das mit der Länge der Geschichte ist natürlich ein Argument. Wie immer. Verdammt, ich versuch' ja, mich kurz zu fassen, aber irgendwie... :bonk: Vielleicht setze ich mir mal selbst ein Zeilenlimit, das es dann unter allen Umständen einzuhalten gilt. :)

Auch schön, dass mir das mit den Filmvergleichen mal jemand gesagt hat. Bei einem Hollywood-Enthusiasten wie mir (Kann man das aus der Gechichte herauslesen? Ach quatsch, das bildest du dir bestimmt nur ein. :D ) besteht da immer die akute Gefahr, dass die Pferde mit ihm durchgehen.

Ich hatte selber schon öfters Bedenken wegen der Sache, weil man dabei ja davon ausgehen muss, dass den Film auch jeder gesehen hat. Der Leser, bei dem das nicht der Fall ist, guckt ja dann quasi in die Röhre. Asche auf mein Haupt und ich gelobe Besserung. :jack:

Gruß,
Jan-Christoph

 

Hallo Proof,

schon wieder eine Story, die es mir Wert war, gelesen zu haben. Packende und mitreißende Charaktäre sind der Garant für diese spannende Lektüre. Der Plot erinnert mich an, ... aber lassen wir das.
Gut formuliert und perfekt in Szene gesetzt.

Zitat: Über all dem ein hing ein Stück weiße Spanplatte

Über all dem hing ein Stück...

Zitat: hast du gedacht. Du bist noch nicht lange hier was?

Komma, was?


Fazit: Absolut lesenswert, auch wenn mir jetzt zugegebenermaßen die Augen brennen.

 

Jau, auch von mir ein Lob zu der Gecshichte! Orte und Szenen konnte man sich durch die ausführliche Beschreibung richtig vorstellen!
das einzige, worüber ich mir jetzt noch Gedanken mache, ist die Frage, wie der alte Mann Tim aus der Geschichte holen konnte, aber Tim seinen Bruder nicht, da ja der Seelenfänger quasi mit in die Geschichte abhaut, einsteigt, etc. (oder so ...!)
Ansonsten wieder sehr schön! Danke!

Gruß
Leser1000

 

Hallo und Danke für die Kritik Euch beiden!

Leser1000:

Der Seelenfänger hält dich in der Geschichte gefangen, wenn du dich zu lange in ihr aufhältst, und alleine zurückkehren ist prinzipiell schon mal gar nicht drin. Darum soll man ihn auch nicht allein benutzen. Tim wurde von Raimund rechtzeitig zurüchgeholt, für Daniel war es zu spät: Die Geschichte hatte ihn quasi absorbiert.

Oder so ähnlich. :hmm:

Drauf gepfiffen. Richtig Horrorseegang ist erst, wenn man die Logik ordentlich Kiel holen lässt. In diesem Sinne Ahoi und Landratten unter Deck, oh, Captain, my fellow Captain... :cool:

Grüße,
Jan-Christoph

 

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