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Randartefakt
Die Leuchtreklame zeigt ein „U“. Über dem Neonblau klafft ein Hohlraum. Ich starre hinein. Heute Morgen freute ich mich noch auf mein Praktikum. Ich beiße mir auf die Zunge. Weich. Aber danach? Mein Daumen liegt über dem Handybildschirm. Kurz flackert ein weißer Ring auf, mein Fingerabdruck wurde erkannt. Meine Mutter hat angerufen. Wie soll ich ihr schreiben, nach heute.
Die Polizei schaute mit mir auf das Überwachungsvideo: Auf dem Körper meiner Kollegin hatte sich etwas ausgebreitet. Erst zaghaft, dann immer schneller. Aber im Film konnte man nur mein Gesicht sehen. Ich sah den Kreis, eine klaffende Öffnung, die mit ihrem Sog alles konsumierte. Ich weinte. Sie griff in sich hinein. Dann knickte etwas in ihr. Ihr Arm verstellt sich in eine unnatürliche Position. Dann fällt innerhalb von Sekunden ihr Körper in sich und verschwindet. Die Polizisten spulten das Video zurück. Ich weinte. Dann spulten sie zurück. Es knackte.
„Wir werden das abklären“, sagte ein Mann langsam, „Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus.“
Meine Klamotten liegen auf dem Stuhl. Unordentlich wie immer. Ich ziehe die Schuhe aus und betrete meine Wohnung. Als wäre nichts passiert. Der Laptop liegt noch auf dem Schreibtisch. In der Spiegelung des Bildschirms sehe ich mein Gesicht. Es ist noch unfertig. Die Augenbrauen sind zu behaart, das Kinn ist zu hart. Aber jetzt schon: Eine junge Frau mit Zahnlücke lächelt mir entgegen. Jetzt macht sie den Mund zu.
Ich glaube, das bin noch ich.
Die Augen, Nase, alles gleich. Aber ich kann mich daran erinnern - wie sich meine Haut anspannte, bis ich es nicht mehr aushalten konnte. Wie mein Gesicht aufgesprungen ist. Ich habe gespürt, wie der Wind durch mich ging. Aber im Überwachungsvideo war nichts. Gar nichts war passiert.
Mit leerem Magen stolpere ich in die Küchennische. Ich greife die Packung Fertignudeln. Ich öffne meinen Laptop. Im Blaulicht eines der wenigen Fotos, wo ich mit mir zufrieden bin. In der unteren rechten Ecke werden keine Pixel mehr abgebildet. Die Artefakte stören vor allem, wenn ich meine Schulter schmaler bearbeiten möchte. Aber bald kann ich mir einen neuen Laptop leisten. Und Therapie. Vielleicht auch Urlaub mit meiner Mutter. Ich nehme mein Handy. Tippe auf WhatsApp: „Hey Mamma der erste Tag lief gut. Alle sind nett aber bin erschöpft. Ruf morgen an“
Ich nehme die Flasche mit Sriracha-Soße, lecke die Öffnung an der Spitze. Der Geschmack ist brennender, als ich es in Erinnerung habe. Komisch, ich habe erst gestern davon gegessen. Vorsichtig berühre ich meine Zunge mit dem Finger. Es fühlt sich normal an. Aber während der Zeigefinger mein Gebiss streift, zieht ein kalter Luftzug. Ich drücke gegen meinen Schneidezahn. Mein Finger streift durch einen Hohlraum. Ich ziehe meine Hand langsam zurück. Der Kreis ist in meinem Mund. Ich spucke auf den Teller. Etwas Rotes, Dickflüssiges. Ist das Blut? Ich hebe den Teller vor meine Nasenhöhle. Der Duft verfliegt sofort. Schnuppere weiter. Mein Magen zieht sich zusammen. Es riecht feucht und dumpf. Aber der Duft zieht sofort weg. Als würde es sich verstecken.
Ich spucke in den Abfluss. Tröpfchenweise platscht es auf das Spülbecken.
Platsch. Pause. Platsch. Pause. Unaufhörlich.
Ich will es nicht schlucken. Als das Leitungswasser die Stelle berührt, muss ich mich abstützen - ein Stromschlag zieht durch meinen ganzen Körper. Ich hole tief Luft. Das Loch wehrt sich. Es greift an meiner Zahnwurzel und die Flüssigkeit hört nicht auf.
Was ist mit mir los? Neben dem Herd ist mein Handy. Ich lege meinen Daumen auf den Bildschirm. Ich aktiviere die Selfie-Kamera. Das Bild friert kurz ein.
Die klaffende Öffnung lässt mich aus meiner Haut herausfahren. Ich sehe mich, kann mich nicht stoppen. Sie rennt zur Schublade. Es muss raus, es muss raus. Sie schaut auf das Handy, um die Zange richtig anzubringen. Benachrichtigung. Mama hat geschrieben. Ein Herzemoji. Als das kalte Metall der Zange gegen die Zähne drückt, zieht ein zaghaftes Knacken durch ihren Schädel.
Jemand spult zurück. Es knackt. Zurück. Ich kann mein Gesicht nicht sehen.
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