Mitglied
- Beitritt
- 01.07.2016
- Beiträge
- 239
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Randartefakte
Die Leuchtreklame zeigt ein „U“. Über dem Neonblau klafft ein Hohlraum. Ich starre hinein. Ein schwarzer Punkt brennt sich in meine Netzhaut. Egal wie sehr ich blinzele, es verschwindet nicht.
Heute Morgen freute ich mich noch auf mein Praktikum. Aber wie konnte das alles danach nur passieren? Mein Daumen liegt über dem Handybildschirm. Ich muss mich ablenken. Meine Mutter hat angerufen. Soll ich ihr einfach normal schreiben? Nach allem, was passiert ist?
Die Polizei zeigte mir das Überwachungsvideo: Im Film konnte man nur mein Gesicht sehen. Ein Close-Up. Ich schreie. Aber das entspricht nicht der Wahrheit. Ich hatte es gesehen: Auf dem Körper meiner Kollegin verbreitete es sich. Eine kreisförmige Finsternis, eine klaffende Öffnung, die mit ihrem Sog alles konsumierte. Sie griff in ihre expandierende Schwärze. Dann knickte etwas in ihr. Ihr Arm verrenkte sich in eine unnatürliche Position. Innerhalb von Sekunden fiel ihr Körper in sich hinein. Verschwand. Die Polizisten spulten das Video zurück. Nur mein Gesicht. Sie spulten weiter zurück. Da, noch mein professionelles Lächeln. Unversehrt.
„Wir werden das abklären“, sagte der Polizist langsam. „Gehen Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus."
Was hätte ich sonst machen sollen? Rebellieren? Sagen, dass etwas mit der Aufnahme nicht stimmt? Ich ziehe die Schuhe aus und betrete meine Wohnung. Meine Klamotten liegen auf dem Stuhl, unordentlich wie immer. Als wäre nichts passiert. Der Laptop liegt noch auf dem Schreibtisch. In der Spiegelung des Bildschirms sehe ich mein Gesicht. Es ist noch unfertig. Die Augenbrauen sind zu buschig, das Kinn ist zu männlich. Aber jetzt, hinter der Spiegelung: Eine junge Frau mit Zahnlücke lächelt mir entgegen. Dann macht sie den Mund zu.
Ich glaube, das bin noch ich.
Die Augen, Nase, alles gleich. Aber ich kann mich daran erinnern – wie sich meine Haut spannte, bis ich es nicht mehr aushalten konnte. Wie mein Gesicht aufgesprungen ist. Ich habe gespürt, wie der Wind durch mich ging. Aber im Überwachungsvideo war nichts. Gar nichts war passiert. Eine Frau hat geschrien.
Mit leerem Magen stolpere ich in die Küchennische. Ich greife die Packung Fertignudeln, öffne den Laptop. Im Blaulicht eines der wenigen Fotos, wo ich mit mir zufrieden bin. In der unteren rechten Ecke zeigt sich ein schwarzer Fleck, der die Pixel frisst. Die Artefakte stören besonders, wenn ich versuche, meine Schulter schmaler zu bearbeiten. Aber bald kann ich mir einen neuen Laptop leisten. Vielleicht sogar Hormontherapie, vielleicht Urlaub mit meiner Mutter. Ich nehme mein Handy. Tippe auf WhatsApp: „Hey Mamma der erste Tag lief gut. Alle sind nett aber bin erschöpft. Ruf morgen an.“
Ich nehme die Flasche mit Sriracha-Soße, lecke die Öffnung an der Spitze. Der Geschmack ist brennender, als ich es in Erinnerung habe. Komisch, erst gestern habe ich davon gegessen. Vorsichtig berühre ich meine Zunge mit dem Finger. Es fühlt sich normal an. Aber während der Zeigefinger mein Gebiss streift, zieht ein kalter Luftzug. Ich drücke gegen meinen Schneidezahn. Mein Finger streift durch einen Hohlraum. Ich ziehe meine Hand langsam zurück. Der Kreis ist in meinem Mund. Ich spucke auf den Teller. Etwas Rotes, Dickflüssiges. Ist das Blut? Ein muffiger Geruch steigt hoch. Ich hebe den Teller vor meine Nasenhöhle. Mein Magen zieht sich zusammen. Tatsächlich. Es riecht modrig. Aber der Gestank zieht sofort weg. Als würde er sich verstecken.
Ich spucke in den Abfluss. Tröpfchenweise platscht es auf das Spülbecken.
Platsch. Pause. Platsch. Pause. Unaufhörlich.
Ich will es nicht schlucken. Als das Leitungswasser die Stelle berührt, muss ich mich abstützen – ein Stromschlag zieht durch meinen ganzen Körper. Ich hole tief Luft. Das Loch wehrt sich. Der Sog des Lochs fräst sich in meine Zahnwurzel. Und die Flüssigkeit hört nicht auf.
Was ist mit mir los? Neben dem Herd ist mein Handy. Ich lege meinen Daumen auf den Bildschirm. Ich aktiviere die Selfie-Kamera. Das Bild friert kurz ein.
Und ich sehe es. Nicht im Bildschirm. Vor mir. Die klaffende Öffnung breitet sich an meinem Rücken aus. Ich falle aus der Haut. Ich bin nicht mehr ich. Sie rennt zur Schublade. Es muss raus, es muss raus. Sie schaut auf das Handy, um die Zange richtig anzubringen. Eine Benachrichtigung taucht auf. Mama hat geschrieben. Ein Herzemoji. Als das kalte Metall der Zange gegen die Zähne drückt, spüre ich ein zaghaftes Knacken. Nicht in ihrem Schädel. In meinem.
Jemand spult zurück.
Zurück.
Der Teppich in meinem Kinderzimmer roch nach Obst und Staub. Die Sommerhitze machte mir zu schaffen. Ich lag auf dem Boden, mein Nacken tat weh, aber trotzdem hielt ich meinen Nintendo DS dicht vor meinem Gesicht – so, dass ich jedes Detail auf dem winzigen Bildschirm erkennen konnte.
Der Doktor im Spiel lächelte mich an: „Wer bist du? Ich habe meine Brille verloren.“
Ich wusste genau, welche Figur ich wählen wollte. Das Mädchen mit der roten Kapuze. Sie konnte Pirouetten drehen und schöne Kleider anziehen. Der Junge im Spiel konnte nur springen.
„Du bist aber kein Mädchen“, flüsterte es hinter meiner Schulter. Der Bildschirm flackerte. Eine schwarze Ecke fraß sich in das Pixelgesicht der Figur. Randartefakte. Tränen fließen auf das Display und ich wusste nicht, warum. Ich schalte mein Spielzeug aus. Den Rest der Sommerferien habe ich meinen Nintendo DS nicht mehr benutzt.
Ich wünschte, ich hätte bleiben können. Im falschen Körper, aber schön.
Zurück.
Löschen.