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Ratschläge am späten Morgen

Beitritt
17.01.2005
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Ratschläge am späten Morgen

Wie jeden Tag wirst du viel später aufwachen, als du es eigentlich vorhattest. Du wirst auf die Uhr sehen, es ist viertel nach elf. Du wirst schwermütig aufstehen und ins Badezimmer gehen, wie ein alter Mann. Du wirst in den Spiegel sehen und merken, dass man mit 38 Jahren jeden Tag schlechter aussieht. Doch damit hast du kein Problem. Darauf muss man sich halt einstellen, dann kommt man damit auch klar. Du bist ein Held! Mit deinem männlichen Charme, trotz 35 Jahren, stehst du da in deiner engen 2 ½ Zimmer-Wohnung, in deinem engen Bad, in deinem alten Bademantel. Du fühlst dein Gesicht, es ist rau. Du holst die Dose und holst die letzten Überreste von Rasierschaum heraus und verteilst es ermüdet auf deinem Gesicht. Du willst gerade deinen Rasierer zum ersten Zug ansetzen, da wirst du die Klingel hören. An deiner Haustür! Ja, es ist wirklich deine, also geh hin! Wehmütig tappst du zu deiner Tür, während du dir schnell den Schaum aus deinem Gesicht wegwischst. Nun öffne die Tür! Du wirst einen kleinen Mann mit schütterem Haar sehen. Es wird ein Postbote sein, der dir einen cremefarbenen Briefumschlag geben wird. Du wirst in Sekundenschnelle überlegen, welche Rechnung du weder erhalten, noch in den Müll geschmissen hast. Nein, du hast alle erhalten. Du wirst noch mal genau nachsehen, doch dein Name steht dort: An Detlef Knausmann. Der Postbote drängt, schnell unterschreibst du noch mit Goofy auf seinem Apparat, das wird er aber nicht merken und du wirst dich umsonst gefreut haben. Du wirst zurück zu deinem engen Badezimmer gehen und neuen Rasierschaum auftragen wollen. Doch das wird nicht gehen, denn die Dose wird leer sein. Egal, du wirst dich auf deine verschmutzte Toilette setzen, da du zu bequem sein wirst, um aus dem Bad rauszugehen. Du wirst erst mal den Brief aus deiner Bademanteltasche herausholen. An Detlef Knausmann. Mit Hilfe deiner Finger wirst du den Brief öffnen. Oh, welch Erstaunen! Der Brief ist von deinem Bruder, Lukas war sein Name, sechs Jahre jünger als du. Ein Glück, dass du sitzt, denn es wird dich härter treffen als du erwartest. Lies nun, was darin steht. Oh, es ist eine Einladung! Zu seiner Hochzeit, mit Daniela, so heißt wohl die Auserwählte. Kein Foto, man will seriös wirken. Überlege kurz, auch wenn es anstrengen mag. Ja, es ist das Einzige, was noch in der Laufbahn deines Bruders fehlt, nach: gute Zensuren in der Schule, eine Glanzleistung von Abitur, Reisen durch die ganze Welt, ein brillanter Studiumsabschluss in Rekordzeit, steile Karriere als Staatsanwalt. Überall geliebt und respektiert. Und nun noch das i-Tüpfelchen: eine repräsentative Frau an seiner Seite, die Kinder werden Anna und Hannes heißen, oder so ähnlich. Vergiss nicht deine Eltern, sie sind so stolz auf ihn und sie werden jetzt noch viel stolzer auf ihn sein. Auch wenn sie ihn im letzten Jahr nur dreimal gesehen haben, dich aber alle zwei Wochen zu Gesicht bekommen. Alte Erinnerungen werden hochkommen. Eigentlich wollte er immer das genaue Gegenteil von dir sein, was er auch offensichtlich geschafft hat. Er wollte nie als der Klassenclown gelten, wollte immer der Beste sein, alles wurde genau geplant. Vielleicht hattet ihr auch deswegen nie so den Kontakt. Sei ehrlich, ihr habt euch nie wirklich gemocht, ihr habt es euch manchmal eingeredet, ja, auch du. Denk doch mal nach! Mit allen Leuten hast du dich immer gut verstanden, hast dein Herz auf der Zunge! Alle sind dir sympathisch, egal wer sie waren! Nur nicht mit deinem Bruder. Dort herrscht eine tiefe Antipathie! Sei ehrlich, du hasst ihn! Warum? Weil er für alles steht, was auch du hättest sein können! Sieh dich doch an, du bist ein Versager!...
Aber Hey, so was sollte dich doch nicht aus dem Konzept bringen, nicht am frühen Morgen, nicht mit nüchternem Magen. Du wirst den Brief jetzt in die Ecke werfen. Dann wirst du raus gehen und etwas essen, egal was. Genieße den Tag! Menschen sind verschieden und das sollte jeder akzeptieren. Der eine will was erreichen in seinem Leben und der andere ist schon so zufrieden, oder etwa nicht?! Ist doch genau deine Rede. Also freu dich einfach für deinen Bruder, geh hin zu seiner Feier, gratuliere dem trauen Paar, trink etwas und verschwinde dann wieder.
Genau das wirst du tun. Nun beweg’ dich endlich! Ist doch auch blöde auf dem Klo zu sitzen und auf ein Blatt Papier zu starren und zu grübeln und zu zweifeln, über sein Leben, vielleicht zu Recht...

 

so ein schöner nick und so eine wehleidige geschichte ...

ist der prot jetzt 35 oder 38 jahre alt? dazwischen können ja welten liegen ...
am anfang fand ich die geschichte gut ... das mit der dose hat mir gefallen ... ich find auch die du-form gut ... aber dann wirds mir zu weltscherzig-selbstmitleidig. man möchte hingehen und den typen aus seiner lethargie reissen ... es gibt ja genug beispiele für solche männer ... völlig ohne ehrgeiz und ziele ...

lg,

h.

 

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