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Raub
Niemals zuvor hatte er die Welt so deutlich wahrgenommen. Die Stille war von einer atemberaubenden Perfektion, wie er sie nie erlebt hatte. Er starrte einfach geradeaus. Sah, wie der Regen auf den Asphalt klatschte, und spürte, wie er auf seinen Hut prasselte. Und obwohl es Geräusche gab, war es ganz still. Er hörte, wie die Autos auf der anderen Seite der Gebäude vorbeifuhren, und trotzdem war es still. Er hatte auch das Scheppern der Mülltonne gehört, als die Katze, erschreckt durch den lauten Knall, aus ihr herausgesprungen war und sie dabei umgeworfen hatte, woraufhin sich Müll und Essensreste auf den Boden ergossen. Und doch war es ganz still in diesen Momenten. Es dauerte eine Ewigkeit, so erschien es ihm, bis er erkannte, dass diese Stille aus seinem Inneren kam. Langsam begann der Regen seinen Mantel zu durchnässen, und er spürte die Kälte des Wassers in seiner Kleidung. Doch das war nichts im Vergleich zu der Kälte, die er in seinem Inneren spürte. Er blickte nach unten. Das dreckige Wasser der Pfütze, in der er stand, durchweichte seine Sohlen und schien der Kälte in ihm noch verstärken zu wollen. In Zeitlupe, so glaubte er, bewegten seine Hände sich hinauf zu seiner Brust und berührten die Wunde, die an der Stelle klaffte, wo der Schuss wieder ausgetreten war. Er kannte sich weder mit Waffen noch in der Medizin aus, wobei das auch gar nicht nötig war, um zu erkennen, dass es nicht nur Wasser war, was an ihm hinablief. Der erste klare Gedanke, den er in diesem Moment fassen konnte, war, dass er keinerlei Schmerzen oder Angst empfand, nur die Stille und die Kälte, die sich langsam in seinen Gliedmaßen ausbreitete.
Er sah die Welt wie durch einen Schleier, und auf einmal kreuzten tausend Gedanken und Bilder durch seinen Kopf. Er dachte an den Tag, an dem er Mary das erste Mal gesehen hatte. Es war, als ob er wieder dort wäre, an diesem Tag im Sommer. Er machte sich auf den Weg durch die Erinnerung, dachte an ihren ersten Kuss. Drei Tage vor Sylvester muss das damals gewesen sein, dachte er, aber er wusste es nicht mehr genau, und er fand auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ein anderer Gedanke forderte in diesem Moment seine ganze Aufmerksamkeit. Er dachte an seinen Sohn, der ihm bis heute nicht verziehen hatte, dass er nicht zur Beerdigung seiner eigenen Ehefrau erschienen war. Sie hatten sich lange nicht mehr gesehen, und er dachte an ihre letzte Begegnung. Sie waren im Streit auseinander gegangen, und sie waren beide geblendet gewesen vor Schmerz über den Verlust ihrer Frau und Mutter. Er dachte an ihr Gesicht, und für einen kurzen Moment spürte er ein wohliges Gefühl von Wärme, bevor die Kälte einen neuen Höhepunkt erreichte, als er an die Hochzeit seines Sohnes in der nächste Woche dachte. Er hatte Angst, hinzugehen. Es war für ihn ein Wunder gewesen, überhaupt eine Einladung zu bekommen. Auf eine Versöhnung hatte er gehofft. Er hatte auch schon das ideale Geschenk. Einen alten Sportwagen, genau wie der, den er gehabt hatte, als John noch ein kleiner Junge war. Als Mary noch am Leben war. Der Junge hatte den Wagen geliebt. Es war nicht leicht gewesen, einen Verkäufer zu finden, und als er endlich einen gefunden hatte, musste er feststellen, dass dieser das Geld bar auf die Hand wollte. Etwas gewagt, wie er fand, doch er ließ sich darauf ein. Er hatte die Geldscheine sogar schon in der Tasche. Es waren zehn Stück, und auf jedem prangte die Zahl 1000 in grünen Buchstaben. Und mit einem Mal war der Schleier weg.
Er war wieder in der kleinen Gasse hinter seiner Lieblingsbar, über ihm der schwarze, wolkenverhangene Nachthimmel und die unendliche Zahl der Regentropfen, die noch immer unermüdlich auf den Asphalt hämmerten, als wollten sie ihn zum Bersten bringen. Als ihn schließlich die Kräfte verließen und er auf die Knie fiel, nur um dann vollends in die Pfütze zu fallen, nahm ein einziges Wort in seinem Kopf Gestalt an: "Warum?" Er sah das Wasser, dass ihm nun endgültig in die Kleidung lief, um seine Kälte zu verteilen, und stellte fest, dass es nicht mehr nur dreckig war, sondern mittlerweile auch von roten Schlieren durchzogen wurde, die, so stellte er fest, sein eigenes Blut waren, das in einem einzigen Rinnsal aus seinem Körper floss. Er schloss die Augen und genoss die Stille.
Frank Lloyd starb in dieser Nacht. Hätte sein Leben nur ein oder zwei Minuten länger gedauert, hätte er vielleicht den jungen Mann gesehen, der seine Taschen durchwühlte, bis er ein durchnässtes Bündel von zehn aufgerollten Geldscheinen fand und es in seine eigene Tasche steckte. Ja, hätte sein Leben nur ein paar dutzend Sekunden länger Bestand gehabt, dann hätte er vielleicht das Gesicht des jungen Mannes erkannt, der am späten Nachmittag hinter ihm am Automaten in der Bank stand. Vielleicht hätte er auch das Gesicht des Mannes erkannt, der eine knappe halbe Stunde nach ihm die alte Bar in der siebten Straße betreten hatte und sich allein mit einem Bier in die Ecke setzte. Doch er bekam keine Gelegenheit mehr dazu, und so sollte er die Antwort auf die letzte Frage, die er sich in seinem Leben gestellt hat, niemals erfahren.