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Raubtierkapitalismus
23: 27
Der Fahrstuhl stieg nahezu geräuschlos an der Außenseite des Gebäudes empor. Jenseits der verspiegelten Fensterscheiben erstrahlte die nächtliche Skyline der Stadt irreal in tausend Lichtern. Jan sah verträumt in die lebhaften Straßenschluchten hinab und dachte an nichts Besonderes. Auf einmal musste er zwanghaft gähnen; nach mehreren durchwachten Nächten war er einfach nur noch hundemüde.
Neben ihm im Fahrstuhl stand die Assistentin der Firmenleitung und lächelte ihn strahlend an. Ihre lockigen rotbraunen Haare waren akkurat nach hinten gekämmt und keine einzelne Strähne fiel über ihre ovalen randlosen Brillengläser.
„Bin ja mal gespannt, was es so Dringendes gibt, dass man uns noch kurz vor Mitternacht hierher zitiert.“ Ihre Stimme klang freundlich, mit gespielter Verärgerung.
Jan wurde aus seiner Lethargie gerissen und murmelte etwas, das Zustimmung signalisieren sollte.
„Sind Sie nicht der Neue aus der Buchhaltung? Jan Mac Guffin, stimmts?“
Jan nickte kurz.
„Herr Dr. Gruber hält große Stück auf Sie, wussten Sie das eigentlich? Ihre Bilanzen seien absolut wasserdicht, erzählt er mir jedes Mal.“
Kein Wunder, dachte Jan und lächelte innerlich. Er hatte nicht umsonst seinen Master of Business Administration mit Auszeichnung bestanden. Die tölpelhaft verschleierten Transaktionen in der Quartalsbilanz waren ihm sofort aufgefallen. Und obwohl er noch ein unbeschriebenes Blatt innerhalb der Firma war, hatte ihn sein „Fachwissen“ schon nach wenigen Monaten bis in die Vorstandsetage katapultiert. Er hatte die Regeln des Spiels verstanden und davon profitiert.
Der Fahrstuhl verminderte sanft seine Geschwindigkeit und hielt in der 62. Etage. Mit einem glockenhellen Bing fuhren die vergoldeten Schiebetüren auseinander und offenbarten einen dezent beleuchteten Gang, an dessen Ende ein Mann in einem schwarzen Anzug an der Wand lehnte und rauchte. Als er auf Jan und seine Begleitung aufmerksam wurde, drückte er seine Zigarette hastig in einem bereitstehenden Aschenbecher aus und begrüßte Jan mit einer heranwinkenden Geste.
„Ah, Herr Mac Guffin, na endlich tauchen Sie auf. Alles wartet nur noch auf Sie, es gibt Neuigkeiten.“
***
23:39
Im Sitzungsraum waren bereits sämtliche Vorstandsmitglieder um einen ausladenden kreisförmigen Tisch aus edlem Mahagoni-Holz versammelt. Dr. Gruber, der Geschäftsführer machte einen erleichterten Eindruck als Jan herein trat.
„Wo haben Sie denn solange gesteckt, Jan? Ich habe mir schon ernsthaft Sorgen gemacht, dass Ihnen etwas passiert sein könnte.“
„Stau“, erwiderte Jan beiläufig und ging geradewegs auf seinen Platz mit dem polierten Namensschild zu. Den Koffer mit seinen Unterlagen verstaute er wie gewöhnlich unter dem Tisch, rechts neben seinen Beinen.
Wenig später saßen alle wichtigen Personen beisammen, die in der Firma etwas zu sagen hatten, und warteten darauf, dass ihr Vorsitzender endlich das Wort ergriff. Die Anordnung des Raumes, speziell der runde Versammlungstisch in der Mitte, sollte Gleichheit unter den Anwesenden symbolisieren, als Anspielung an die Ritter der Tafelrunde. Die komplett verglaste Südwand erlaubte einen beeindruckenden Ausblick auf die nächtliche Stadt und den rötlich schimmernden Horizont.
„Nun denn, meine Freunde, vielen Dank, dass sie es einrichten konnten. Ich kann Ihnen versprechen, dass Ihr Erscheinen zu so später Stunde im Anschluss belohnt werden wird.“
Dr. Gruber, ein charismatischer Mann Ende fünfzig mit graumeliertem Haar sprach in einem sonoren Tonfall zu den Anwesenden.
„Wie Sie ja alle wissen“, fuhr Gruber fort, „haben wir unsere Dividende im vergangenen Jahr kontinuierlich steigern können und unseren Aktionären einen unverhofften Bonus beschert. Janus International ist auf dem besten Weg, Weltmarktführer zu werden und darauf bin ich sehr, sehr stolz.“
Spontanes Klatschen. Müde bewegte Jan die Handflächen auf- und wieder auseinander und bemerkte nicht, wie Gruber ihn aufmerksam beobachtete.
„Doch genug der Selbstbeweihräucherung, schließlich ist unser Finanzgenie, Jan Mac Guffin der eigentliche Anlass für unser spontanes Meeting heute Nacht.“
Jan hatte nicht gerade aufmerksam zugehört, doch plötzlich waren alle Blicke gebannt auf ihn gerichtet und er erwachte aus seinem Dämmerzustand.
Was war das eben?
„Ja, mein hochgeschätzter Freund und Kollege, Sie haben mich ganz richtig verstanden. Ihr Engagement für die, sagen wir mal, hintergründigen Geschäftsbeziehungen unserer Firma haben bewirkt, dass die Prophezeiung früher als erwartet in Erfüllung treten wird.“
Gruber hatte die Arme feierlich ausgebreitet und vermittelte den Eindruck eines fanatischen Priesters. Wieder wurde spontan Applaus gespendet, doch dieses Mal ohne Jans Beteiligung.
Was für eine Prophezeiung? Wovon zum Teufel redet der Mann?
„Jan, ich will mich im Namen der Firma und aller hier Anwesenden bei ihnen bedanken. Frau Lykan, bringen Sie Herrn Mac Guffin doch bitte eine Tasse Kaffee. Er scheint mir noch etwas verschlafen zu sein.“
Grubers Assistentin entfernte sich aus dem Zimmer und Jan empfand auf einmal ein flaues Gefühl in der Magengegend. Irgendetwas stimmte hier nicht.
„Entspannen Sie sich, mein Lieber, keine Angst. Wir zelebrieren heute Nacht Ihren einzigartigen Erfolg. Und seien Sie versichert, Ihre Bemühungen werden entsprechend belohnt.“
Die versammelten Schlipsträger grinsten lakaienhaft. Frau Lykan kam wieder herein, in ihren zierlichen Händen hielt sie eine dampfende Tasse Kaffee. Die seltsame Atmosphäre in der Runde verunsicherte Jan und ließ ihm kalten Schweiß auf die glühend heiße Stirn treten.
„Wissen sie Jan, dieses Unternehmen, Janus International existiert aus einem bestimmten Grund. Es existiert, um ein Geheimnis zu wahren, in das alle hier Versammelten eingeweiht sind. Nur sie, mein Lieber, sind es nicht.“
Jans Herzmuskel begann sich auf einmal krampfhaft in seiner Brust zusammenzuziehen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Frau Lykan stand jetzt dicht hinter ihm und setzte den Kaffee vorsichtig vor seinen gefalteten Händen ab. Jan wollte sich trotz seiner nervösen Anspannung bei ihr bedanken als er flüchtig ihre Hand wahrnahm, die den Untersetzer der Tasse hielt. Ihre zarten Fingerglieder waren von struppigem schwarzem Fell überwuchert und ihre lackierten Fingernägel ragten wie Dornen aus dem behaarten Fleisch. Noch bevor er irgendeine Reaktion zeigen konnte, spürte er eine wahnsinnige Hitzewelle in seinem Nacken aufwallen.
Seine Perspektive veränderte sich.
Alles begann sich zu drehen und sein vom Rumpf gelöster Kopf wurde wie in einer mit rasiermesserscharfen Zähnen bestückten Waschtrommel hin- und hergeworfen. Vor seinen Augen drehte sich der gesamte Sitzungsraum. Die versammelten Schlipsträger sahen ihm verzückt beim Sterben zu, während Gruber als einziger langsam in die Hände klatschte.
Dann überfluteten unerträgliche Schmerzen seine Wahrnehmung.
***
01:12
„Okay, und jetzt bitte noch mal die Kurzfassung zum Mitschreiben.“
Inspektor Bruno Falkoni hatte nicht gerade aufmerksam zugehört, was ihm Ginger, seine junge und sehr attraktive Kollegin, da soeben mitgeteilt hatte. Wenn er etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann waren das außerplanmäßige Einsätze bei Nacht. Sein Biorhythmus wurde jedes Mal empfindlich gestört und er fühlte sich, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen. Unter seinen Dackelaugen hatten sich bereits tiefe Ringe gebildet. Ganz im Gegensatz zu ihm machte Ginger noch einen hellwachen, hochkonzentrierten Eindruck.
„Natürlich Herr Inspektor, wir haben es hier allem Anschein nach mit Mord zu tun. Ein Mitarbeiter der Firma, Jan Mac Guffin, der Finanzbuchhalter, wurde während einer Vorstandssitzung vor etwa einer Stunde enthauptet. Der gesamte Vorstand war zum Tatzeitpunkt anwesend. Bisher war jedoch keiner der Herren imstande, den Tathergang zu beschreiben.“
Allem Anschein nach … Falkoni rieb sich frustriert die Schläfen. Wenn er etwas noch mehr hasste als außerplanmäßige Einsätze bei Nacht, dann waren es schwachsinnige Fälle wie dieser hier. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob sein Job bei der Mordkommission die paar Kröten mehr im Monat wirklich wert war.
Mit einem Bing fuhren die vergoldeten Schiebetüren des Fahrstuhls auseinander. Am Ende eines dezent beleuchteten Ganges lehnte eine Frau mit rotbraunen Haaren an der Wand und trat nervös auf der Stelle. Seine Kollegin flüsterte Falkoni etwas ins Ohr, so wie sie es immer tat, wenn sie Hintergrundinformationen loswerden wollte.
„Das ist Frau Lykan, die Assistentin der Geschäftsleitung“, wisperte Ginger. „Von ihrem Apparat aus kam der Anruf in der Zentrale. Nach eigener Aussage war sie gerade nicht im Zimmer, als es passierte.“
„Ja, ja, schon gut“, knurrte Falkoni gereizt. „Und danke, dass Sie mir in den Gehörgang gespuckt haben“. Ginger sah ihn überrascht und verunsichert an, als ob sie sich gerade verhört habe. Dann wandte er sich Frau Lykan zu. Die bemitleidenswerte Person machte einen völlig verstörten Eindruck auf ihn, wahrscheinlich hatte sie den Anblick des Todes eines vertrauten Mitarbeiters nicht ertragen können.
„Frau Lykan nehme ich an. Mein Name ist Inspektor Falkoni von der Mordkommission, nennen sie mich einfach Bruno. Ich wurde damit betraut, den Todesfall an ihrem Buchhalter zu untersuchen.“
Seine Marke wie ein winziges Schutzschild vor sich hertragend, näherte sich Falkoni der verdutzten Geschäftsfrau und lief zielstrebig an ihr vorbei, ohne sie weiter zu beachten.
***
01:20
Falkoni war am Ende des Ganges angekommen und warf einen ersten flüchtigen Blick auf den Tatort. Die Leiche des Buchhalters saß noch immer aufrecht an ihrem Platz; vor ihr auf dem Tisch stand eine Tasse Kaffee, in die in unregelmäßigen Abständen Blut aus dem offenen Halsstumpf tropfte. Der arme Kerl hatte noch die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. Im Schatten unter dem Tisch lehnte ein schwarzer Aktenkoffer an seinen Beinen, den Ginger sofort in Augenschein nahm. Zwei Polizeibeamte von der Spurensicherung standen entspannt mitten im Raum und hielten Smalltalk mit den Herren des Vorstands. Das ganze Szenario machte einen unwirklichen Eindruck auf Falkoni. Lautstark räusperte er sich, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu lenken, woraufhin die beiden Beamten ihre Arbeit sofort wieder aufnahmen.
„Könnte mir vielleicht jemand von ihnen verraten, wo sich der fehlende Kopf des Opfers befindet?“
Ein Beamter deutete auf den Papierkorb rechts neben der Eingangstür. Falkoni stand nur wenige Zentimeter daneben und wirklich: im Papierkorb, verborgen unter zusammengeknüllten Papierkugeln befand sich ein etwa fußballgroßes blutiges Etwas. Als er genauer hinsah, entdeckte er unverkennbare Gesichtsmerkmale. Nase, Mund, blonde Haarbüschel, eine eingefallene Augenhöhle, aus der eine gallertartige milchige Masse quoll. Der Kopf war entsetzlich zugerichtet worden, es machte fast den Eindruck, als wäre darauf herumgekaut worden.
Falkoni beugte sich weit herunter und inspizierte die zahlreichen Wunden, die blutverkrusteten Kratern glichen und bis tief in den Schädel hinein ragten. Wenn es nicht so verdammt unglaubwürdig wäre, dann hätte er schwören können, dass es sich bei den Verletzungen um Bisswunden handelte. Bisswunden, wie sie nur von riesenhaften Hunden verursacht werden können.
„Ein Jammer, wirklich. Und ein tragischer Verlust obendrein.“
Falkoni machte instinktiv auf dem Absatz kehrt. Dicht hinter ihm stand ein älterer Mann mit dünnem grauem Haar. Der Alte schien bereits um die sechzig zu sein, machte aber immer noch einen jugendlichen und vitalen Eindruck. Seine grünen Augen musterten den Inspektor neugierig.
„Ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Victor Gruber, ich bin der Senior-Chef dieses Unternehmens. Ist es nicht furchtbar, dass wir uns unter diesen schrecklichen Umständen kennen lernen müssen?“
„Sicher“, entgegnete Falkoni. „Aber das ist bei meinem Job nichts Ungewöhnliches.“
Gruber streckte Falkoni die rechte Hand zur Begrüßung entgegen, doch der vergrub seine Hände demonstrativ in den Manteltaschen.
„Zunächst einmal etwas, das mich persönlich interessiert. Um was für ein Unternehmen handelt es sich bei Janus International?“
Der Vorstandsvorsitzende versuchte seine Irritation über das Auftreten des Inspektors mit einem professionellen Lächeln zu kaschieren, bevor er ihm antwortete.
„Nun, Janus ist im In- und Export tätig. Hauptsächlich orientalische Gewürze und Elfenbein aus Südostafrika. Wir sind sehr auf Diskretion bedacht, denn in unserer Branche sind wir weltweit führend, wenn sie verstehen was ich meine.“
Falkoni wurde den Eindruck nicht los, dass Gruber gerade die üblichen Werbebotschaften vom Tonband abgespult hatte.
„Na, das klingt ja … hm, großartig. Aber dann verstehe ich wirklich nicht, wie mitten in einer Sitzung ihrem Buchhalter der Kopf abhanden kommen kann und niemand etwas davon bemerkt haben will.“
„Um das herauszufinden, sind sie ja hier“ entgegnete der alte Mann spöttisch und seine Pupillen flackerten kurz auf.
Falkoni bekam ein flaues Gefühl in der Magengrube und sein Pulsschlag stieg leicht an. Dieser Fall entpuppte sich langsam als echte Herausforderung. Entweder war dem Buchhalter einfach so der Kopf abgefallen und hatte sich dann selbstständig in den Mülleimer verfrachtet oder aber … es gab Dinge, die er sich einfach nicht vorstellen wollte. Währenddessen war seine Kollegin Ginger damit beschäftigt, den kopflosen Leichnam näher zu untersuchen. Dessen Aktenkoffer hatte sie vorsorglich auf dem Tisch platziert, wo ihn jeder sehen konnte.
„Gibt es Aufzeichnungen, ich meine, Videomitschnitte von Überwachungskameras für den Tatzeitpunkt?"
Falkoni deutete beiläufig auf eine winzige schwarze Kamera, die kaum sichtbar in einer Raumecke angebracht und auf sein Gesicht fokussiert war. Gruber lächelte und entblößte seine perfekten, strahlend weißen Zähne.
„Natürlich. Wir zeichnen alle unsere Sitzungen auf Band auf, das ist bei seriösen Unternehmen so üblich. Wenn sie die Aufzeichnung sehen wollen …“
Inspektor Falkoni machte eine typisch italienische Handbewegung zur Bestätigung und Gruber begab sich umgehend zu seinem Platz. In das Mahagoni-Holz des Tisches war eine Tastatur aus Edelstahl eingearbeitet, in die Gruber einen fünfstelligen Zahlencode eintippte und abschließend zur Bestätigung Enter drückte. Daraufhin erhob sich, begleitet von einem summenden Geräusch, ein Flachbildschirm aus dem Inneren des Tisches.
***
01:41
Gruber tippte noch schnell etwas in die Tastatur ein, bevor eine grobkörnige Aufzeichnung der Vorstandssitzung auf dem Monitor erstrahlte. In der rechten unteren Ecke des Videofensters wurde der Timecode eingeblendet, dreiundzwanzig Uhr neunundfünfzig.
Gespannt verfolgte Falkoni die Geschehnisse auf dem Schirm. Die Sitzung hatte anscheinend gerade erst begonnen, Mac Guffin und seine Kollegen saßen vereint zusammen, während Gruber eine Rede hielt. Mitten in der Ansprache verließ die Assistentin der Geschäftsleitung den Raum.
Jetzt muss es gleich geschehen, schlussfolgerte Falkoni, denn Frau Lykan war ja nach eigener Aussage nicht anwesend, als es passierte. Doch zu seiner Überraschung kam sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand zurück. Mac Guffin selbst wirkte nervös und unkonzentriert, das konnte Falkoni trotz der schlechten Auflösung deutlich an seiner angespannten Körperhaltung ablesen. Und der Buchhalter hatte auch allen Grund dazu.
Kurz bevor die Assistentin an Mac Guffins Platz angekommen war, veränderte sich ihre Erscheinung. Ihre zarte Haut verdunkelte sich; schwarzes struppiges Fell begann überall auf ihrem sichtbaren Körper zu wuchern, als ob sie einem spontanen Anfall von Haarwuchs erlegen war. Der zierliche Kopf auf ihrem schlanken Hals wuchs auf mehr als die doppelte Größe an und mutierte zu einer grässlich behaarten Fratze mit einem irrsinnig langen Maul, aus dem zähflüssiger Geifer tropfte. Als sie dicht hinter Mac Guffin stand, klafften ihre Kiefer in einem extremen Winkel auseinander und umschlossen den kreidebleichen Kopf des Buchhalters, bis nur noch ein dunkler Schatten von seinem Gesicht zu erkennen war.
Dann wurde das unscharfe Bild zuerst von einem Rauschen verzerrt und schließlich vollkommen von krisseligen Schlieren überlagert. Die nachfolgenden Ereignisse blieben allein der Vorstellungskraft des Inspektors überlassen. Mit offenem Mund starrte Falkoni auf den Monitor, der nur noch ein verzerrtes Flimmern wiedergab. Seine Gedanken kreisten haltlos in seinem Verstand umher. Er war unfähig zu glauben, was er da soeben gesehen hatte, sein rationaler Verstand wehrte sich dagegen.
Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter.
Falkoni nahm die rubinrot lackierten Fingernägel nur aus dem Augenwinkel wahr ehe er sich wieder gefangen hatte und sich vom Bildschirm abwandte. Neben ihm stand Ginger und sah ihn fragend an. In ihrer rechten Hand hielt sie den Koffer des Buchalters fest umklammert.
„Hm … ja, was gibt’s denn?“
Falkonis Stimme klang brüchig und sehr leise. Ginger antwortete nicht, sondern bewegte nur ihre zitternden Pupillen flüchtig in Richtung des Vorsitzenden. Vor der verglasten Südwand stand Gruber, er hatte ihnen den Rücken zugewandt. Aus seinem Nadelstreifenanzug ragte ein hundeähnliches Haupt mit spitzen Ohren.
Auf einmal erklang ein unmenschliches Geheul und ließ die gesamte Fensterfront erbeben, hinter der eine fahle Mondsichel den Nachthimmel in ein geisterhaftes Licht tauchte. Gleichzeitig stimmten alle Vorstandsmitglieder wie auf Befehl in das Geheul mit ein und verließen ihre menschliche Gestalt. Die unglaubliche Transformation, die Falkoni gerade eben noch verschwommen auf dem Monitor beobachtet hatte, fand nun leibhaftig vor seinen Augen statt.
Und es kam ihm so vor, als hätte er es schon immer gewusst, als würden sich seine schlimmsten Vorurteile bewahrheiten; hinter der Fassade als unscheinbare Geschäftsmänner mit ihren glatt gegeelten Haaren und den frisch rasierten Milchgesichtern lauerten wilde, triebgesteuerte Bestien.
„Werwölfe“, flüsterte Ginger ehrfurchtsvoll und presste sich ängstlich an Falkonis Schulter.
Dann wurden sie Zeugen eines Massakers, das sich für immer in ihr Gedächtnis einbrennen sollte.
***
01:48
Einer der Werwolf-Geschäftsmänner sprang blitzartig und mit unbändiger Mordlust auf einen Polizeibeamten der Spurensicherung zu. Aus der Bewegung des Sprunges heraus rammte das Biest dem zur Salzsäule erstarrten Mann die Pranke in den Bauch und riss seinem Opfer die Wirbelsäule aus dem gekrümmten Rücken. Mit einem widerwärtigen Krachen zerquetschte die schwarze Pranke des Werwolfs die blanken Wirbel in seiner Umklammerung, bevor sein blutverschmierter Arm wieder aus der Wunde herausschnellte.
Der sterbende Beamte ging zuckend zu Boden, während sich sein Kollege unschlüssig und vor Angst seines klaren Verstandes beraubt rückwärts bewegte. Er bemerkte nicht, wie sich hinter ihm ein mit Reißzähnen bestücktes Maul weit öffnete und einen leuchtend roten Rachen entblößte. Dann sausten die Kiefer wie eine zuschnappende Bärenfalle zusammen. Rasiermesserscharfe Hauer vergruben sich im zarten Muskelfleisch seines Nackens und
eine beeindruckende Blutfontäne spritzte aus seiner zerfetzten Halsschlagader.
Der Polizist begann wie ein kleines Kind zu heulen und zu wimmern, doch das Biest in seinem Nacken kannte keine Gnade. Immer fester und gieriger verbiss sich das Maul in seinem Fleisch und schüttelte ihn wie eine Marionette hin und her. Doch mit einem Mal ließ die Bestie von ihrem wehrlosen Opfer ab, denn der endgültige Todesstoß gebührte dem Alpha-Tier, dem Rudelführer.
Victor Gruber stand jetzt unmittelbar vor dem stark blutenden Mann. Der Anblick des unablässig sprudelnden Lebenselixiers versetzte den Wolf in Erregung und mordlüsterne Gier flammte in seinen glasigen Augen auf. Langsam und sanft, fast zärtlich verhakten sich die Krallen seiner Pranken in der Brust des Mannes, dicht über dem Brustbein. Flehentlich sah der Polizist dem Untier ein letztes Mal in die Augen, das noch vor kurzem ein Mensch gewesen war.
„Oh, bitte … bitte nicht. Ich habe Frau und Kinder.“
Als hätte er nur auf ein geheimes Signal gewartet, fuhren Grubers Pranken tief hinein in den Leib des Mannes und spalteten dessen Brustkorb. Mit einem lauten Knacken hebelte er die Rippen wie einen störrischen Fensterrahmen auseinander und versenkte sein geiferndes Maul in den pulsierenden Eingeweiden. Während er fraß, fiel sein Opfer in eine gnädige Ohnmacht.
Der Inspektor und seine junge Kollegin standen fassungs- und regungslos im Hintergrund und sahen dem grausamen Treiben wie hypnotisiert zu. Auf die Idee, zu flüchten, kamen sie nicht. Unterdessen rissen sich die Werwölfe gierig um jeden Fleischfetzen ihrer Beute. Arme und Beine wurden ausgekugelt, vom Rumpf gerissen und bis auf die blanken Knochen abgenagt. Die schmackhaften Innereien wurden aus den ausgeweideten Leibern herausgezerrt und gierig verschlungen.
Endlich beschloss Falkoni, die Initiative zu ergreifen. Unbeholfen zog er seine Dienstwaffe, einen glänzenden Magnum Revolver, aus dem Halfter und zielte damit auf das Wolfsrudel. Ohne Vorwarnung feuerte er in die Gruppe. Die Kugel verfehlte ihr Ziel, prallte vom Marmor der Wand ab und sauste als Querschläger durch den Raum. Zumindest hatte er damit eines erreicht, Grubers ungeteilte Aufmerksamkeit war ihm jetzt sicher. Der Senior-Chef von Janus International wischte sich die gröbsten Fleischfetzen aus dem blutverschmierten Maul und kam langsam, sehr langsam auf ihn zu.
***
01:55
„Bleiben sie, wo sie sind, oder ich jage ihnen eine Kugel ins Hirn.“
Falkoni glaubte selbst nicht daran, einen derart präzisen Schuss abfeuern zu können, denn seine Hand, die den Revolver zitternd umklammerte, machte eher den Eindruck, als hätte er die Parkinson’sche Krankheit. Dann fiel dem Werwolf-Anführer etwas auf und er wich instinktiv einen Schritt zurück. Irritiert und wütend sog er einen tiefen Luftstrom zwischen seine verkeilten Reißzähne. Anscheinend hielt ihn etwas davon ab, dem Inspektor zu Nahe zu kommen.
In beeindruckender Geschwindigkeit verwandelte sich der Werwolf wieder zurück in seine menschliche Gestalt. Lächelnd und mit wild zerzausten Haaren stand der alte Mann jetzt wenige Meter vor ihnen, als wäre nichts geschehen. Nur an seinem haarlosen Kinn klebte noch ein Fetzen rohes Fleisch.
„Das verzögert ihr Ableben nur unwesentlich, mein Lieber, glauben sie mir …“
Falkoni verstand nicht ganz. Dann sah er seinen Revolver im Mondlicht aufblitzen und es wurde ihm schlagartig bewusst. Die Ummantelung seiner Waffe war aus blankem Silber gefertigt, dem einzig wirkungsvollen Schutz gegen Werwölfe, das wusste Falkoni aus der Lektüre von Groschenromanen. Seine Frau, mit der er eine ereignislose Ehe führte, hatte ein einziges Mal in ihrem Leben einen originellen Einfall gehabt und ihm den mit echtem Silber veredelten Revolver zum 25. Hochzeitstag geschenkt, zur Silberhochzeit.
Unglücklicherweise, aber das wusste Gruber Gott sei Dank nicht, hatte er keine Kugeln aus Silber im Magazin, genau genommen hatte er überhaupt keine Kugeln mehr im Magazin. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, zielte Falkoni weiter auf Grubers Stirn.
„Na gut, Sie Wolf im Schafspelz.“ Der Inspektor ging zum Angriff über, wenn auch nur rethorisch. „Dann ist jetzt also der Zeitpunkt gekommen, in dem sie mir erklären, was hier gespielt wird. Vielleicht so eine Art Werwolfweltverschwörung?“
„Nun … nein, nichts dergleichen“, entgegnete Gruber in einer beruhigenden Stimmlage.
„Wir feiern ein kleines Firmenjubiläum, nichts weiter. Sie sind hier als unsere Ehrengäste, unsere einzigartige Jagdtrophäe.“
Falkoni zog irritiert die Augenbrauen zusammen, doch sein eiskaltes Gegenüber blinzelte nicht einmal. Im Gegenteil, wie zur Bestätigung seiner Gelassenheit vergrub der Janus-Vorstand seine Hände in den Taschen seines Nadelstreifenanzugs und ahmte damit das Verhalten des Inspektors nach. Erst jetzt hielt er es für angebracht, die Ratlosigkeit des Inspektors zu beseitigen.
„Mac Guffin war ein Vorwand, nichts weiter. Nur ein Vorwand, um sie hierher zu uns zu locken. Der Polizeipräsident, ihr alter Freund und Vorgesetzter hat anscheinend beschlossen, sie loszuwerden. Schnell, effektiv und spurlos.“
Glänzende Schweißperlen bildeten sich auf Falkonis Stirn und rannen über sein rundes aufgedunsenes Gesicht. Insgeheim wusste er, dass Gruber die Wahrheit sagte, nur versuchte er es für den Moment zu verdrängen.
„Wollen sie noch mehr erfahren? Zum Beispiel warum der Buchhalter sterben musste?“
Falkoni nickte zögerlich, Gruber grinste.
„Seine Bedeutung für Janus war zweifelsohne herausragend, sein Geschick bei der Verschleierung unserer Geschäfte zeugte von einer intensiv ausgeprägten Skrupellosigkeit, ein Wesenszug, wie er bei karrierebewussten jungen Managern häufig anzutreffen ist. Doch leider war ihm in seinem Leichtsinn nicht bewusst, auf welch gefährliches Terrain er sich bei Janus begeben hatte. Sein plumper Erpressungsversuch war dann ein willkommener Anlass, um ihn loszuwerden.“
Ein glitzernder Speichelfaden hing aus Grubers Mundwinkel herab, ohne der Schwerkraft nachzugeben. Unterbewusst war er noch immer ein Werwolf.
„Mac Guffin war ein Glücksfall für die Firma, er verstand es wie kein Zweiter, unsere Aktionären Glauben zu machen, wir würden Milliarden auf den globalen Finanzmärkten verdienen und das ausschließlich mit … es ist mir schon fast peinlich … Elfenbein und Gewürzen. Unfassbar, wie leichtgläubig Menschen doch sind, wenn es um die Aussicht auf schnellen Profit geht, ihre Gier verschleiert jeden Anflug von Vernunft, finden sie nicht auch?“
Falkoni sah Gruber ungläubig an. Unwillkürlich fiel sein Blick auf den silbrig schimmernden Revolver und die gähnend leeren Kammern in der Trommel.
„Entschuldigen Sie bitte, ich schweife schon wieder ab“ entschuldigte sich Gruber förmlich. „Es schien unseren Buchhalter nicht im Geringsten zu interessieren, womit das Unternehmen letztendlich seinen Gewinn erwirtschaftete. Nun, ich will sie auch nicht länger auf die Folter spannen. Wie sie ja bereits sehen konnten, besitzen sämtliche Mitarbeiter von Janus eine zweite Natur, die unser sehr spezieller Kundenkreis teilt. Und wir gewähren unseren Kunden einen einzigartigen Service, oder präziser formuliert, eine Möglichkeit, ihren natürlichen Trieb zu befriedigen.“
„Der da wäre?“
„Jagen, töten und fressen. Das Prinzip der natürlichen Auslese.“
Falkoni würgte einen zähen Kloß die Kehle herunter, so langsam dämmerte es ihm, worin die Bedeutung seiner Anwesenheit an diesem unheilvollen Ort bestand.
„Sehen Sie, Herr Inspektor, Wölfe sind entgegen allen Vorurteilen, die über sie kursieren, sehr soziale und friedfertige Tiere. Das Wolfsrudel hält unter allen Umständen zusammen und macht nur im äußersten Notfall von seinen tödlichen Fähigkeiten Gebrauch. Wie auch immer, wir Werwölfe sind so ziemlich das genaue Gegenteil von unseren tierischen Ahnen. Nichts versetzt uns mehr in angespannte Erregung als der Geruch von Angst, menschlicher Angst. Jetzt in diesem Augenblick kann ich den Angstschweiß auf ihrer Epidermis riechen. Sie verströmen einen intensiven und sehr appetitlichen Adrenalin-Duft, der wiederum meinen natürlichen Jagdinstinkt aktiviert. Wenn Sie so wollen verhalten wir uns beide vollkommen unserer Natur entsprechend und absolut vorhersehbar.“
Falkoni versuchte, den Einruck eines geduldigen Zuhörers zu erwecken. Währenddessen rotierten seine Gedanken ziellos durch seine Hirnwindungen, permanent auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser verfahrenen Situation. Endlich ging ihm ein Licht auf.
„Nebenbei bemerkt betreiben wir natürlich auch Grundlagenforschung“, fuhr Gruber unbeirrt fort. „Sehen Sie, Herr Inspektor, die Zeit des vollen Mondes war für unsere Spezies immer eine Zeit der Verheißung und gleichzeitig eine Zeit existenzieller Bedrohung. Erst vor kurzem ist es unseren Wissenschaftlern nach jahrelanger Forschung endlich gelungen ein Serum zu extrahieren, dass es uns erlaubt, unsere Verwandlung zu kontrollieren. Jetzt sind wir keine Getriebenen mehr, sondern in der Lage, unsere zwei Seelen zu beherrschen und effektiv einzusetzen. Endlich können wir unsere animalische Natur frei auszuleben, frei töten.“
Gruber war völlig in seinen wahnsinnigen Monolog vertieft und bemerkte nicht, wie der Inspektor und Ginger vorsichtig, kaum wahrnehmbar in Richtung Ausgang schlichen. Falkonis Plan bestand darin, die Tür aufzureißen und in Windeseile das Weite zu suchen, kein sehr ausgefeilter Plan aber immerhin. Noch immer hielt er den Lauf seines Revolvers zitternd auf Grubers Kopf gerichtet, in der Hoffnung, ihn damit in Schach halten zu können.
***
02:01
„Ich werde sie nicht an ihrer Flucht hindern“, betonte Gruber kalt.
„Weil ich in ausgezeichneter Stimmung bin, werde ich ihnen sogar einen kleinen Vorsprung gewähren, nur ein paar Minuten, bevor ich sie jagen und töten werde.“
Falkoni runzelte die Stirn, er verstand nicht ganz, warum ihm dieser unverhoffte Vorteil gewährt wurde als plötzlich gleißendes Licht von außerhalb hereinstrahlte. Gleichzeitig vernahm er das unverkennbare Geräusch von kreisenden Rotorblättern. Auf der anderen Seite der Fensterfront schwebte die Silhouette eines Helikopters im pechschwarzen Nachthimmel, seitlich angebrachte Such-Scheinwerfer fluteten jeden Winkel der Etage und blendeten sowohl Gruber und seine Untergebenen, als auch Ginger und den Inspektor.
Jaulend krümmten sich die völlig überraschten Werwölfe am Boden, das gleißende Flutlicht paralysierte die Bestien und versetzte sie in eine Art Schockzustand. Falkoni hielt sich schützend den Unterarm vor sein Gesicht und atmete erleichtert auf, als er die blauweißen Streifen an der Außenhülle erkannte. Wenn er nicht vollkommen verrückt geworden war, dann schwebte dort draußen ein Hubschrauber der Verkehrsüberwachung, der scheinbar nur aus purem Zufall vor Ort war. Falkoni konnte sein Glück kaum fassen, instinktiv schwenkte er seine Marke wie wild in Richtung des Piloten, doch der schien ihn nicht bemerkt zu haben und drehte ab.
Sekundenbruchteile später lösten sich die überraschten Werwölfe wieder aus ihrer Erstarrung. Falkoni wusste, dass er nicht auf den Helikopterpiloten vertrauen, sondern seine Chance nutzen musste. Mit aller Gewalt riss er die schwere Eichentür auf. Grob packte er Gingers Handgelenk und hastete zusammen mit Mac Guffins Koffer aus dem Versammlungsraum, den Flur entlang, während hinter ihnen das hasserfüllte Knurren der mutierten Bestien zu einer unerträglichen Lautstärke anschwoll. Falkoni warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und sah Gruber in seiner Wolfsgestalt, der nur mit Mühe seine Untergebenen zurückhielt. Er gewährt mir tatsächlich einen Vorsprung.
Der eigentlich nur wenige Meter lange Flur schien in Falkonis Vorstellung ins Unendliche zu verschwinden und Ginger hing, trotz ihres jugendlichen Alters von Mitte zwanzig wie ein Klotz an seinem Bein.
„Kommen Sie schon Ginger, verdammt noch mal, jetzt reißen sie sich gefälligst zusammen. Diese Bestien werden jeden Moment die Verfolgung aufnehmen und uns dann genauso zerfleischen wie die beiden armen Kerle von der Spurensicherung.“
Falkoni dachte, dass er seinen Standpunkt unmissverständlich klar gemacht hatte, drehte sich noch einmal kurz um und sah jetzt, warum seine junge Kollegin nicht um ihr Leben rannte, rennen konnte.
Das Hemd über ihrer rechten Schulter war blutdurchtränkt, ihr sonst so vitales Gesicht war jetzt aschfahl und in sich zusammengesunken. Müde, blutunterlaufene Augen blickten ihn aus dunklen Höhlen an. Ginger war gebissen worden. Für einen kurzen Moment dachte Falkoni daran aufzugeben und sich und Ginger eine Kugel ins Hirn zu jagen. Doch dann rannte er weiter, Ginger wie ein widerspenstiges Tier, in das sie sich aller Voraussicht nach verwandeln würde, hinter sich herziehend.
***
02:07
Der Fahrstuhl befand sich noch immer auf derselben Etage. Den Koffer unter den Arm geklemmt hechtete der Inspektor unbeholfen ins Innere der Kabine, nachdem er zuvor Ginger hineingestoßen hatte. Seine schweißnassen Finger glitten wahllos über die Anzeigetafel. Es vergingen wertvolle Sekunden, bevor er sich konzentrieren konnte und endlich auf die Taste mit der Aufschrift EG drückte.
Der Steuerungsmechanismus wurde ausgelöst, woraufhin sich die vergoldeten Schiebetüren langsam aufeinander zu bewegten. Mit geweiteten Pupillen und dem Revolver im Anschlag erwartete Falkoni, dass die krallenbewehrten Läufe der Werwölfe noch im allerletzten Moment durch den Schlitz der Fahrstuhltür hereinschnellten und seine Kehle umschlossen, doch seine Erwartung wurde enttäuscht.
Mit einem hellen Bing schlossen sich die Türen und der Fahrstuhl setzte sich sanft in Bewegung. Das bedrohliche Heulen und Knurren verstummte allmählich. Kontinuierlich näherte sich der Aufzug dem Erdgeschoss und ließ dabei Etage für Etage hinter sich. Für einen kurzen Moment atmete der Inspektor erleichtert auf. Seine von tiefen Sorgenfalten zerfurchte Stirn glättete sich allmählich. Endlich schien der Zeitpunkt gekommen, das Geschehen Revue passieren zu lassen und so gut es eben ging in sein rationales Weltbild einzuordnen. Mit kreisenden Bewegungen massierte er seine pochenden Schläfen, doch ein unterschwelliges, kaum wahrnehmbares Knurren überlagerte noch immer seine Gedankenwelt wie ein resistenter Tinitus.
„Hören sie sofort auf damit Ginger, ich versuche hier gerade nachzudenken. Wenigstens einer von uns beiden muss schließlich einen kühlen Kopf …“
Falkoni verstummte. Der Ursprung des Knurrens ging eindeutig von seiner jungen Kollegin aus. Ginger war kein menschliches Wesen mehr. Ihre Kieferpartie ragte jetzt weit aus ihrem deformierten Schädel hervor, nur ihr hellroter Lippenstift glänzte noch immer auf irrsinnig geweiteten und an mehreren Stellen aufgeplatzten Lippen, hinter denen sich gekrümmte Reißzähne aus dem Zahnfleisch bohrten. Ginger hatte sich verwandelt und Falkoni wusste plötzlich, warum ihm Gruber so bereitwillig einen Vorsprung gewährt hatte. In den glasigen Augen von Werwolf-Ginger spiegelte sich sein eigenes leichenblasses Antlitz.
***
02:11
Zeit seines Lebens hatte sich Bruno Falkoni Gedanken über den Tod gemacht. In seiner Familie waren ungewöhnliche Todesfälle nichts Ungewöhnliches. Sein Großvater mütterlicherseits verstarb bei dem Versuch sich mithilfe von Lösungsmitteln die chronisch verstopften Nasennebenhöhlen zu reinigen und eine entfernte Tante erhängte sich in ihrer eigenen Wäscheleine, die sie sinnigerweise über den Dachboden ihrer Scheune aufgespannt hatte. Brunos sehnlichster und geheimster Wunsch war es seitdem, eines natürlichen Todes zu sterben, doch wie sich die Dinge entwickelten, würde er wohl oder übel die unheilvolle Familientradition fortsetzen und von seiner zu einem Werwolf mutierten Kollegin erst zerfleischt und dann verdaut werden.
Missmutig sackte er in sich zusammen und ergab sich in sein grausames Schicksal. Tatenlos verfolgte er, wie sich der überdimensionale Leib von Werwolf-Ginger über ihm aufbäumte und schwarze, aufgespannte Kiefer einen gierig zuckenden Rachen entblößten. Der Inspektor bekreuzigte sich ein letztes Mal, bevor er seine Augen für immer schloss. Dunkelheit umfing ihn.
Moment mal …
Blitzartig schnellten seine Augenlider wieder nach oben, Gingers Maul war nur noch wenige Zentimeter von seinem eigenen Gesicht entfernt. Mit der Reaktion eines präzise programmierten Roboters ergriff seine rechte Hand den am Boden liegenden Revolver und beförderte ihn mit dem Silberschaft voran in die Finsternis von Gingers Maul.
Wie auf Befehl schnappte die Bärenfalle zu und messerscharfe Zähne vergruben sich in seinem Unterarm. Falkoni schrie nicht, biss sich auf die Zunge und versuchte krampfhaft, den Revolver im Inneren von Gingers Kopf zu manövrieren. Die umfunktionierte Schusswaffe schien in der Umklammerung seiner Finger zu verglühen, der direkte Kontakt mit dem Edelmetall zeigte jedoch eine sofort einsetzende Wirkung.
Als hätte er pure Salzsäure in ihre Kehle geschüttet, gab das Biest einen markerschütternden Schrei von sich und öffnete dabei das Maul sperrangelweit bis zum Anschlag. Instinktiv ließ Falkoni den Revolver in Gingers Eingeweide fallen, beförderte seinen, mit einer glänzenden Geiferschicht umschlossenen Unterarm aus der Gefahrenzone und robbte anschließend auf allen Vieren in die entgegengesetzte Ecke der Kabine.
Gingers Anblick war kaum zu ertragen. Selbst ein gestandener Polizist war in keinster Weise darauf vorbereitet, einem Werwolf beim Sterben zuzusehen. Das Silber in Gingers Körper verrichtete sein tödliches Werk mit gnadenloser Präzision. Ihre glasigen Augäpfel rotierten hinter flatternden Lidern, schwollen zur Größe von Tischtennisbällen an und platzen. Eine gallertartige, mit Blut vermischte Melange klatschte an die Plexiglasscheibe des Fahrstuhls. Die behaarte Hautschicht auf Gingers Schädel wurde förmlich vom blanken Knochen geätzt, dampfende Gaswolken stiegen aus ihrem zuckenden Maul empor und verwirbelten im Inneren des Raumes. Der beißende Gestank von Verwesung lag in der Luft.
Falkoni wandte sich von dem grausigen Schauspiel ab und kotzte.
Noch nie zuvor hatte er den Vorgang des Erbrechens derartig genossen. Als er endlich seinen kompletten Mageninhalt nach außen befördert hatte und zaghaft einen Blick in die andere Ecke des Fahrstuhls riskierte, traute er seinen Augen nicht. Von Werwolf-Ginger war kaum etwas übrig geblieben, ein paar angesengte Haarbüschel, einzelne Zähne und Kleidungsfetzen schwammen in einer winzigen Pfütze aus Blut und Eingeweiden. Dazwischen thronte, wie auf dem Präsentierteller, sein Magnum Revolver.
Erneut nahm Falkoni einen tiefen Atemzug der Erleichterung und seufzte. Er hatte soeben seine junge Untergebene ermordet, aber unter den gegebenen Umständen lief es wohl eindeutig auf Notwehr hinaus. Für einen kurzen Augenblick ergab er sich der trügerischen Hoffnung, den Horror der Nacht endgültig überstanden zu haben. Der Fahrstuhl hatte gerade die 19. Ebene des Gebäudes passiert, als plötzlich der Strom in der Kabine ausfiel, das Licht erlosch und der Aufzug stoppte.
***
02:19
Abgeklärt wie er war, konnte Falkoni nicht gerade behaupten, dass er überrascht war. Genau genommen hatte er schon viel früher damit gerechnet. Ratlos und deprimiert kauerte er sich an die Fensterfront, vergrub seinen Kopf in den Handflächen und versuchte zu weinen. Es gelang ihm nicht. Kurz darauf vernahm er ein bekanntes Geräusch.
Ungläubig starrte der Inspektor auf den Hubschrauber der Verkehrsüberwachung, der in aller Deutlichkeit vor ihm im Nachthimmel schwebte. Seine müden Dackelaugen erkannten das Profil des Helikopterpiloten, einen jungen Beamten aus dem Revier, mit dem er ab und an ein paar Höflichkeitsfloskeln gewechselt hatte. Jetzt gab ihm der Pilot mit einer heranwinkenden Geste zu verstehen, er solle seine selbst gewählte Todeszelle irgendwie verlassen und zu ihm in den Helikopter gelangen.
Hoffnung keimte in Falkoni auf. Seine letzten Kraftreserven mobilisierend, warf er sich gegen die Plexiglasscheibe, vergeblich.
Auf einmal ließ eine gewaltige Erschütterung die Kabine erbeben. Jemand, oder etwas war auf dem Dach des Fahrstuhls gelandet. Das unverkennbare Geheul eines Werwolfs setzte ein und verursachte unerträgliche Schmerzen in seinem, nach innen gepresstem Trommelfell.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wusste Falkoni um die Identität der Bestie auf dem Dach des Aufzugs. Gruber höchstpersönlich war zu ihm in die Tiefe gesprungen, um seine rechtmäßige Beute endgültig und eigenhändig zu erledigen.
Mit gezielten und unmenschlich kraftvollen Schlägen hämmerte der Werwolf auf das nur wenige Zentimeter dünne Kunststoff-Dach des Fahrstuhls ein. Die Spitzen seiner Klauen drangen bereits ins Innere der Kabine, doch Falkoni dachte nicht im Geringsten daran, als Trophäe in dessen Privatsammlung zu enden.
Mit neu entflammtem Überlebenswillen stemmte der Inspektor seinen Körper wieder und wieder gegen die besudelte Scheibe. Nach mehreren erfolglosen Versuchen gab sie endlich nach. Schrauben wurden aus der Verankerung gesprengt, der Rahmen des Aussichtsfensters löste sich vom restlichen Gestell und trudelte in die Straßenschluchten hinab. Fast hätte Falkoni sein Gleichgewicht verloren und wäre mitsamt der Scheibe in die Tiefe gestürzt, doch geistesgegenwärtig taumelte er zurück. Der Polizeihubschrauber befand sich jetzt nur wenige Meter vor ihm direkt auf Augenhöhe, doch ein Sprung über diese Entfernung war schierer Selbstmord.
Wie in Trance verharrte die Bestie auf dem Dach des Aufzugs und rührte sich nicht. Falkoni wusste, dass er nur diesen einen Versuch hatte. Blindlings warf er den ledernen Koffer des Buchhalters in Richtung Helikopter. Mit dem Aufschrei der Verzweiflung lief der untersetzte Inspektor kurz an und sprang ins Nichts, wobei er die Augen fest verschlossen hielt. Mitten im Sprung kam ihm der lebensrettende Einfall, doch besser die Augen offen zu halten und kurz bevor er von der Schwerkraft des Planeten in den gähnenden Abgrund gezogen wurde, packten seine Hände die rettenden Kufen der Helikopters.
Das gesamte Szenario erinnerte ihn an einen drittklassigen Action-Film mit Jean-Claude Van Damme, mit dem geringfügigen Unterschied, dass Falkoni vergessen hatte, ein Stunt-Double für sich zu engagieren. Seine verschwitzen Handflächen verloren langsam den Halt an der glatten Oberfläche der Kufen, doch der Pilot umfasste seinen Unterarm und hievte ihn mit einiger Kraftanstrengung ins Innere des Helikopters.
Wortlos nahm der Inspektor im Sitz des Co-Piloten Platz, seinen Blick hielt er dabei starr auf seine Nemesis Gruber gerichtet.
Der Werwolf-Anführer hatte sich extra für die Jagd seines Nadelstreifenanzugs entledigt und stand jetzt in gekrümmter Haltung auf dem Dach des halb zerstörten Aufzugs. Wie ein verwundetes Tier brüllte die Bestie in die Schwärze der Nacht hinaus. Sein vom Höhenwind zerzaustes Fell war von weißen Streifen durchzogen und hinter seinem Rücken spiegelte sich die Silhouette des Werwolfs dutzendfach in der reflektierenden Fassade des Wolkenkratzers. Die Wut und der Hass der Bestie waren förmlich spürbar. Gruber hatte seine Beute davonkommen lassen, was für den Janus-Vorstand eine unerträgliche Vorstellung sein musste.
Langsam aber beständig verringerte der Pilot die Flughöhe des Helikopters und Gruber samt Aufzug entfernte sich aus dem Blickfeld Falkonis. Abermals nahm der Inspektor einen tiefen Atemzug der Erleichterung, Sekunden bevor er den muskulösen Oberkörper der Wolfsbestie näher kommen sah. Der Wahnsinnige war tatsächlich vom Dach des Fahrstuhls gesprungen. Geistesgegenwärtig riss Falkoni dem paralysierten Piloten das Steuer aus der Hand und schwenkte scharf nach rechts, direkt unter den heranrasenden Wolfskörper. Gruber rauschte mit den Läufen zuerst in die kreisenden Rotorblätter und schrie ein letztes Mal gequält und entsetzt auf. Wie ein überdimensionaler Mixer pürierten die unablässig kreisenden Klingen den drahtigen Körper und zerhäckselte Fleischbrocken spritzten zu allen Seiten in den Nachthimmel. Der Werwolfanführer war endgültig Geschichte. Wütend entriss der, zur Besinnung gekommene Helikopterpilot Falkoni den Steuerknüppel und hatte einige Mühe, den stotternden Antrieb wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Verdammt noch mal, warum haben sie das getan. Die Bestie wäre in jedem Fall in den sicheren Tod gestürzt. Sie kranker Bastard hätten mich fast umgebracht. Und ich Idiot rette ihnen auch noch das Leben. Ich muss doch von allen guten Geistern …“
Falkoni tat gut daran, ihm nicht zu widersprechen. Mit stumpfem Blick und völlig abwesend betrachtete er die strahlenden Lichter der Großstadt jenseits der Außenhülle. Er hatte soeben einen Werwolf ins Jenseits befördert und das war das Einzige, was im Moment von Bedeutung war. Sein Rachedurst war gestillt, vorerst. Doch der Fall war für ihn noch lange nicht abgeschlossen. Wie einen heimlichen Schatz umklammerte er den ledernen Koffer des Buchhalters hinter seinen verschränkten Armen.
Nachdem er im Revier eingetroffen war, das nahm er sich fest vor, würde er erst einmal ein Vier-Augen-Gespräch mit seinem Vorgesetzten, dem Polizeipräsidenten führen. In freudiger Erwartung tätschelte Falkoni den blutverschmierten Griff seines Magnum-Revolvers.
***
02:47
Frau Lykan nippte genüsslich an ihrem Kaffee während sie den Hubschrauber hinter einer rötlich schimmernden Wolkendecke am Horizont verschwinden sah. Alles hatte sich zu ihrer Zufriedenheit entwickelt, selbst die unvorhergesehenen Ereignisse fügten sich homogen in das Gesamtbild ein.
Gruber, der alte Narr, war an seiner eigenen Arroganz zu Grunde gegangen und hinterließ mit seinem Tod ein Vakuum in der Vorstandsetage von Janus International, das nur sie selbst, seine langjährige Assistentin ausfüllen konnte. Die Geschäftsleitung war ein begehrter Posten, doch ihre männlichen Mitstreiter waren allesamt viel zu beschränkt und egoistisch, als dass sie eine echte Konkurrenz für sie darstellten. In den frühen Morgenstunden würde sie sich offiziell als neue Rudelführerin ausrufen lassen und jedem Emporkömmling die Kehle zerfetzen, der ihre Autorität auch nur in Frage stellen sollte.
An den Geflüchteten verschwendete sie keinen weiteren Gedanken, schließlich hatte sie bereits alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Der Pilot des Helikopters war vor seinem Abflug infiziert worden und würde sich in Kürze verwandeln. Sollte es Falkoni dennoch gelingen, den Flug lebend zu überstehen, so würde er spätestens bei seinem Eintreffen im Polizeirevier auf vertrauenswürdigere Untergebene von Janus treffen. Und selbst wenn die Unterlagen des Buchhalters an die Öffentlichkeit gelangen sollten, so wäre dies nicht das Ende der Welt.
Zumindest nicht das Ende ihrer Welt.
Frau Lykan lächelte, nahm einen letzten Schluck und machte sich wieder an die Arbeit. Es gab noch viel zu tun.