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Raucherpause

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22.03.2002
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Raucherpause

Ich schaue aus dem Fenster - nicht durch ein Fenster in die virtuelle Realität hinein, sondern aus einem realen Fenster hinaus. Abblätternde Fassadenfarbe an den Mauerfugen, alles verschlingende Russpartikel an den Kunststoffrahmen machen aus dem ursprünglichen Weiss ein Grau mit schäbiger Reflektion, nicht wie das klinisch saubere Grau eines geöffneten Fensters auf einem Monitor. Die reale Welt erzeugt Abnutzung, zerstört, was Menschen geschaffen haben. Nicht einfach löschbar, um Sekunden später in neuem Design zu erscheinen. Deprimierend.

Ich schaue aus diesem realen Fenster und rauche eine Zigarette, 3 Minuten Nikotinzufuhr, angenehmes Gefühl von Entspannung mit einem Kostenfaktor von 18 Cent. Teuer im Vergleich zum Vergnügen, in die weltweite Datenwelt einzutauchen. Und schädlich. Die Atemorgane verschmutzen, genau wie die Gebäudemauern des Hauses. Textur aus Teer auf den Lungen. Reale Konsequenz des realen Lebens.

Mein Fenster liegt zu einem geräumigen Hof, der von Häusern eingegrenzt wird, die Anfänge der Industrialisierung und Hoffnungen des Wirtschaftswunders widerspiegeln. Fast schwarz gewordener Backstein geht mit schmutzigem Beton eine Symbiose ein, dessen Wirkung in keiner Weise von Schönheit tangiert wird. Mit einem Programm könnte man diesen Mauern Leben einhauchen; sequenzielle Farbverläufe vertuschen geschickt die verschiedenen Stilelemente und erzeugen ein homogenes Bild. Harmonisch. Hübsch.

Ideen einer Neuberechnung, Raytracing für hunderte von Rechnerstunden jagen wie eine flüchtige Gedankenkette durch meine Neuronen. Muß am Nikotin liegen. Oder an der frischen Luft. Vielleicht auch nur die ersten Anzeichen eines gleitenden Übergangs der Realitätsebenen. Code, reiner und funktioneller Code ist die Lösung. Zumindest in einer der Realitäten. Bilderfragmente einer Armee von Programmierern mit ihren Notebooks, die wild und rhythmisch ihre Tastaturen malträtieren und dabei Zentimeter um Zentimeter farbig durchgestylte Grundmauern produzieren, erzeugen ein Lächeln auf meinem Gesicht. Es ist ein verbrauchtes Gesicht, keines, das man mit ein paar Codezeilen wieder reparieren oder einen glatten Teint verpassen könnte. Es ist ein Gesicht, das vom Leben verbraucht wurde. Mit Furchen. Abgenutzt wie die Fassadenfarbe oder die Mauern der Häuser. Ein reales Gesicht.

Ich zünde mir eine zweite Zigarette an. Die Dämmerung bricht herein. Die schönste Tageszeit für mich, wenn das hektische Geräusch der Stadt einem ruhigeren und beständigem Rauschen Platz macht. Eine laue Brise verteilt den Qualm in den Hof, in dem die hereinbrechende Dunkelheit den alten Platanen eine andere Dimension verschaffen. Es sind reale Platanen, so alt wie der Hof und die Häuser. Majestätische Größe, tief verwurzelt und Überlebende zweier Weltkriege. In der Dämmerung wirken sie älter und bedrohlicher, aber auch sie leiden unter dem natürlichen Verfall. Anders als ein Bildschirmschoner zeigen sie Lücken. Sturmgeschädigte Regionen unterbrechen das Blattwerk. Ein Pilz sorgt für eine ungewöhnliche Farbvielfalt. Raupen zerstören die Form. Natürliche Gefechte zwischen Flora und Fauna. Wer wird gewinnen?

Prinzipiell ist die Realität auch nur Code. Egal, ob es sich um mathematische Berechnungen der Statik oder genetische Informationen handelt. Es ist Code. Und nicht einmal sauberer. Er ist durchtränkt von Verfall und Schädigungen, von Langzeitfehlern und Umwelteinflüssen. Warum gibt es hier nicht die Möglichkeit der Korrektur? Keine -If then else- Anweisung. Fehlerhafte Schleifenfunktionen, die sich hinter der dem Begriff Realität verstecken. Da hat doch jemand den falschen Debugger beim Fehlersuchen benutzt.

Wie richtig eingelegte Puzzlestücke werden mehr und mehr Fenster beleuchtet und ersetzen das natürliche Licht. Schatten geben dem Innenhof eine andere Struktur und räumliche Abstände verschieben sich durch die zusätzlichen Quellen der Helligkeit. Die Natur reflektiert das Künstliche. Oder ist es anders herum? TV-Geräte und Computerbildschirme, Neonröhren und Glühlampen beschwören ein Kaleidoskop an Farben. Falschfarben, die durch Elektrizität erzeugt der Natur unangemessene Effekte bescheren. Irreal.

Die dritte Zigarette ist nur noch ein Glühen kurz vor meinen Fingern. Hab gar nicht bemerkt, dass ich sie angezündet habe. Gedankenfetzen zentrieren sich wie Materie um ein schwarzes Loch, einem Strudel gleich verschwinden sie und weichen kontrollierten Überlegungen. Zurück zum Computer. Codezeilen, ordentlich gestaffelt und in ihrer Funktion perfekt, scrollen auf dem Bildschirm nach unten und warten auf eine Entscheidung. Sie erzeugen Pixel, die sich zu einer Grafik aus dem kommenden Millenium zusammenfügen. Einem Bild aus der Zukunft. Klinisch rein, ohne Anzeichen der Alterung. Bezeichnend für die andere Realität. Virtuelle Realität. Das wirkliche Leben hat diese Grafik nicht berührt. Steril, kalt und tot. Ich überlege einen kurzen Moment und lade mir eine neue Farbtabelle.
Ein wenig Rost, ein wenig Verfall, die wahrhafte Realität ist ein guter Lehrer.

 

Hallo CountZero,

Mir hat deine kurze, tatsächlich philosophische, Abhandlung zum Thema virtuelle vs. "echte" Realitäte gut gefallen. Ich bezweifle zwar, dass jeder etwas mit dem Thema in dieser Form anfangen kann, aber Leute mit einem beruflichen Hintergrund im Bereich IT dürfte sich angesprochen fühlen. Besonders gut hat mir das Ende gefallen, es rundet den Gedankengang ab, indem es einen Kontrast zum größten Teil des Textes bildet. Während du über weite Teile die Unterschiede von virtueller Welt und Realitäte betonst, findet die Realität zum Schluss doch einen Weg in die virtuelle Welt. Die so offenkundige Trennung wird mit dem letzten Satz zum Teil aufgehoben.
An deinem Ausdruck kann ich nichts bemängeln. Es gelingt dir gut, Bilder und Gefühle auszulösen, sowohl durch anschauliche Vergleiche, als auch durch angenehme Beschreibungen (z.B. die Beschreibung der Dämmerung).
Zu Kritisieren bleibt nur:
1) die Rechtschreibung. Einmal durch Word jagen, würde ich vorschlagen, denn Fehler wie "Ralität" erkennt jedes brauchbare Textverarbeitungsprogramm mit Rechtschreibprüfung.
2) die Leerzeichen vor den Fragezeichen.
3) der Titel im Text (also doppelt)

Insgesamt eine gelassene, angenehme Geschichte :)

mit freundlichem Gruß,
HienTau

 

Hallo HienTau,

danke für deine Einschätzung und die recht positive Kritik.
Die von dir angemahnten Fehler habe ich berichtigt (hoffentlich alle :-) .
Du hast natürlich recht, die kleine "Fingerübung" von mir ist wahrscheinlich auf eine sehr begrenzte Leserschaft zugeschnitten.

Es ist mehr ein Experiment, ein Versuch, technische und poetische Sprache miteinander zu verbinden. Dabei war der Sinn der Übung keine Handlung zu konstruieren, sondern lediglich Gedanken für den Leser attraktiv zu beschreiben.

Anscheinend, und dein Urteil bestätigt es teilweise, ist es mir recht gut gelungen.

Danke für die Zeit, die du mir geschenkt hast.

Gruß
Jürgen

 

Hallo CountZero!

Erst mal ein ein großes Lob für dich, mir hat deine Geschichte wirklich sehr gut gefallen, und noch viel wichtiger du hast mich ganz schön zum Grübeln gebracht.

Ich muss allerdings die Annahme, dass mit dieser Geschichte nur der etwas anfangen kann, der sich intensiv mit dem Thema IT beschäftigt widerlegen. Ich selbst bin das beste Beispiel ;)
Bin viel eher der Ansicht, dass man deinen Text nicht auf diesen Bereich begrenzen sollte, für mich liegt darin durchaus eine allgemeinere Thematik.
Ich habe mich nach dem Lesen nämlich mit der "Perfektionswut" der modernen Menschen konfrontiert gefühlt. Deine Geschichte enthält für mich nicht nur ein Aufzeigen der verschiedenen Realitäten, sondern auch Kritik an eben diesem Zwang zur Perfektion, an dem Bild der ewigen Jugend und an der fehlenden Akzeptanz der Schönheit und Weisheit, welche ein "Verfall" oder nur das Altern mit sich bringt.

Liebe Grüße
Kücken

 

Hallo CountZero,

deine Geschichte behandelt in ruhiger, etwas sentimentaler Atmosphäre den Gegensatz von realer und Computerwelt, von Zerfall und Dasein. Die Paarungen finde ich ansprechend, durch die Bezüge zu der Computerwelt wird die altbekannte Thematik aktuell. Der Abschnitt über die Codierung bringt einen neuen Aspekt und ergänzende Möglichkeiten zur Diskussion.
Besonders schöne Bilder:

„Raupen zerstören die Form. Natürliche Gefechte zwischen Flora und Fauna. Wer wird gewinnen?“


„Wie richtig eingelegte Puzzlestücke werden mehr und mehr Fenster beleuchtet und ersetzen das natürliche Licht“

„Prinzipiell ist die Realität auch nur Code. Egal, ob es sich um mathematische Berechnungen der Statik oder genetische Informationen handelt. Es ist Code. Und nicht einmal sauberer. Er ist durchtränkt von Verfall und Schädigungen, von Langzeitfehlern und Umwelteinflüssen. Warum gibt es hier nicht die Möglichkeit der Korrektur?“

- Es gibt ja die Reparatur des genetischen Codes (oder die Eliminierung von Zellen mit falschem Code), aber irgendwann gewinnen – trotz aller Hollywoodfilme - die Bösen…

„Ich schaue“ - Wird wiederholt, kann aber auch Stilmittel sein.

„Depremierend“ - Deprimierend

„Rythmisch“ - Rhythmisch

„Wirkung in keinster Weise von Schönheit tangiert“ – keinster Weise – ist für mich Umgangssprache.

„Majestätsche Größe“ - Majestätische

„Gedankenfetzen zentrieren sich wie Materie um ein schwarzes Loch“

- in einem Schwarzen Loch oder: weit entfernte Materie um ein Schwarzen Loch (ist aber nicht entscheidend).

Daß – dass und ß – ss überprüfen.


Hab´s gerne gelesen.

L G,

tschüß… Woltochinon

 

Hi Jürgen,

selten hier, jetzt wieder öfter? :)

Deine Geschichte hat mich an einen Dialog mit meinem Philosophielehrer erinnert:
Er (entsetzt): "Warum finden Sie Mathematik denn schön?"
Ich: "Weil die Mathematik zum Beispiel die Ästhetik eines Baumes beschreiben kann. Der Baum ist schön, also ist seine Beschreibung schön."
Er: "Aber wird der Baum schöner durch seine Beschreibung."
Ich: "Ja."

Der Akt der Wahrnehmung unserer Umwelt verändert unsere Auffassung der Umwelt. Zugleich bewirkt eine veränderte Lebenswelt eine veränderte Wahrnehmung. So funktioniert das ganze als Regelkreis: Das Bemühen der Computergrafik um Realitätsnähe schafft - durch seine Unvollkommenheit - eine neue Ästhetik, die, statt sich der Natur unterzuordnen, sich der Natur überordnen will.
Dein Protagonist erkennt das, und bemüht sich, diesem Effekt entgegen zu wirken.

Hat mir gut gefallen.

Grüße,
Naut

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Kueken, Woltochinon und Naut,

Danke für eure Kritik. Es freut mich zu lesen, daß mein Beitrag ziemlich gut adaptiert und bewertet wird.

Aber nicht nur das... ich bekomme auch noch von einigen Mitgliedern ein Lektorat umsonst. Feine Sache. :thumbsup:

Die aufgezählten Rechtschreibfehler werde ich umgehend beseitigen (ich weigere mich noch standhaft, den Text durch ein Korrekturprogramm laufen zu lassen, aber Standhaftigkeit und Dickköpfigkeit sind nur durch einen haarfeinen Spalt voneinander getrennt... und ich möchte eigentlich nicht als "beratungsresistent" gelten).
Also einmal durch die Rechtschreibkorrektur. :Pfeif:

@Kueken
Alter und Verfall sind negativ besetzte Worte... Warum nur?
Alter kann durchaus sehr positive Eigenschaften haben, wenn man das positive sehen WILL. Deshalb stimme ich dir in deiner Einschätzung (und vor allem der Form deiner Anmerkung) gerne zu.
Und ist es nicht häufig der Verfall, der aus einem ehemaligen uninteressanten Funktionsobjekt etwas einzigartiges und unter sentimentaler Sichtweise etwas schönes macht?

@Woltochinon
Schöne Bilder... ich verbeuge mich artig vor deinem Lob. Mit Worten Bilder zu erzeugen, ist imho das grösste Kompliment, das man erhalten kann.
Der sentimentale Aspekt ist durchaus gewollt (wie du wahrscheinlich schnell festgestellt hast), denn er ist das "missing link" in der digitalen Welt.

Hallo Naut :-)

Ich werde mich bemühen, wieder mehr zu schreiben. Leider lassen einige WEB-Projekte, darunter auch das "never-ending-projekt" CP-Info-Terminal, kaum Zeit für mein "Hobby" in der Literatur, den Essays und kleinen, alltäglichen Geschichten. Selbst zum Lesen komme ich kaum noch und der hier vorgestellte Beitrag war wohl so etwas wie "Selbstschutz"... es mußte einfach raus, bevor es in den Weiten des Cyberspace verloren geht.

Danke für deine Anmerkung zum Sinn der Geschichte. Treffend formuliert.

Gruß
Jürgen

 

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