- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Raucherpause
Ich schaue aus dem Fenster - nicht durch ein Fenster in die virtuelle Realität hinein, sondern aus einem realen Fenster hinaus. Abblätternde Fassadenfarbe an den Mauerfugen, alles verschlingende Russpartikel an den Kunststoffrahmen machen aus dem ursprünglichen Weiss ein Grau mit schäbiger Reflektion, nicht wie das klinisch saubere Grau eines geöffneten Fensters auf einem Monitor. Die reale Welt erzeugt Abnutzung, zerstört, was Menschen geschaffen haben. Nicht einfach löschbar, um Sekunden später in neuem Design zu erscheinen. Deprimierend.
Ich schaue aus diesem realen Fenster und rauche eine Zigarette, 3 Minuten Nikotinzufuhr, angenehmes Gefühl von Entspannung mit einem Kostenfaktor von 18 Cent. Teuer im Vergleich zum Vergnügen, in die weltweite Datenwelt einzutauchen. Und schädlich. Die Atemorgane verschmutzen, genau wie die Gebäudemauern des Hauses. Textur aus Teer auf den Lungen. Reale Konsequenz des realen Lebens.
Mein Fenster liegt zu einem geräumigen Hof, der von Häusern eingegrenzt wird, die Anfänge der Industrialisierung und Hoffnungen des Wirtschaftswunders widerspiegeln. Fast schwarz gewordener Backstein geht mit schmutzigem Beton eine Symbiose ein, dessen Wirkung in keiner Weise von Schönheit tangiert wird. Mit einem Programm könnte man diesen Mauern Leben einhauchen; sequenzielle Farbverläufe vertuschen geschickt die verschiedenen Stilelemente und erzeugen ein homogenes Bild. Harmonisch. Hübsch.
Ideen einer Neuberechnung, Raytracing für hunderte von Rechnerstunden jagen wie eine flüchtige Gedankenkette durch meine Neuronen. Muß am Nikotin liegen. Oder an der frischen Luft. Vielleicht auch nur die ersten Anzeichen eines gleitenden Übergangs der Realitätsebenen. Code, reiner und funktioneller Code ist die Lösung. Zumindest in einer der Realitäten. Bilderfragmente einer Armee von Programmierern mit ihren Notebooks, die wild und rhythmisch ihre Tastaturen malträtieren und dabei Zentimeter um Zentimeter farbig durchgestylte Grundmauern produzieren, erzeugen ein Lächeln auf meinem Gesicht. Es ist ein verbrauchtes Gesicht, keines, das man mit ein paar Codezeilen wieder reparieren oder einen glatten Teint verpassen könnte. Es ist ein Gesicht, das vom Leben verbraucht wurde. Mit Furchen. Abgenutzt wie die Fassadenfarbe oder die Mauern der Häuser. Ein reales Gesicht.
Ich zünde mir eine zweite Zigarette an. Die Dämmerung bricht herein. Die schönste Tageszeit für mich, wenn das hektische Geräusch der Stadt einem ruhigeren und beständigem Rauschen Platz macht. Eine laue Brise verteilt den Qualm in den Hof, in dem die hereinbrechende Dunkelheit den alten Platanen eine andere Dimension verschaffen. Es sind reale Platanen, so alt wie der Hof und die Häuser. Majestätische Größe, tief verwurzelt und Überlebende zweier Weltkriege. In der Dämmerung wirken sie älter und bedrohlicher, aber auch sie leiden unter dem natürlichen Verfall. Anders als ein Bildschirmschoner zeigen sie Lücken. Sturmgeschädigte Regionen unterbrechen das Blattwerk. Ein Pilz sorgt für eine ungewöhnliche Farbvielfalt. Raupen zerstören die Form. Natürliche Gefechte zwischen Flora und Fauna. Wer wird gewinnen?
Prinzipiell ist die Realität auch nur Code. Egal, ob es sich um mathematische Berechnungen der Statik oder genetische Informationen handelt. Es ist Code. Und nicht einmal sauberer. Er ist durchtränkt von Verfall und Schädigungen, von Langzeitfehlern und Umwelteinflüssen. Warum gibt es hier nicht die Möglichkeit der Korrektur? Keine -If then else- Anweisung. Fehlerhafte Schleifenfunktionen, die sich hinter der dem Begriff Realität verstecken. Da hat doch jemand den falschen Debugger beim Fehlersuchen benutzt.
Wie richtig eingelegte Puzzlestücke werden mehr und mehr Fenster beleuchtet und ersetzen das natürliche Licht. Schatten geben dem Innenhof eine andere Struktur und räumliche Abstände verschieben sich durch die zusätzlichen Quellen der Helligkeit. Die Natur reflektiert das Künstliche. Oder ist es anders herum? TV-Geräte und Computerbildschirme, Neonröhren und Glühlampen beschwören ein Kaleidoskop an Farben. Falschfarben, die durch Elektrizität erzeugt der Natur unangemessene Effekte bescheren. Irreal.
Die dritte Zigarette ist nur noch ein Glühen kurz vor meinen Fingern. Hab gar nicht bemerkt, dass ich sie angezündet habe. Gedankenfetzen zentrieren sich wie Materie um ein schwarzes Loch, einem Strudel gleich verschwinden sie und weichen kontrollierten Überlegungen. Zurück zum Computer. Codezeilen, ordentlich gestaffelt und in ihrer Funktion perfekt, scrollen auf dem Bildschirm nach unten und warten auf eine Entscheidung. Sie erzeugen Pixel, die sich zu einer Grafik aus dem kommenden Millenium zusammenfügen. Einem Bild aus der Zukunft. Klinisch rein, ohne Anzeichen der Alterung. Bezeichnend für die andere Realität. Virtuelle Realität. Das wirkliche Leben hat diese Grafik nicht berührt. Steril, kalt und tot. Ich überlege einen kurzen Moment und lade mir eine neue Farbtabelle.
Ein wenig Rost, ein wenig Verfall, die wahrhafte Realität ist ein guter Lehrer.