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Raus
„Ihr haltet euch für Götter? Ja! Leben geben, Leben retten, Leben nehmen? Und den Sinn wollt ihr uns auch noch aufzwingen? Kann ich euch vielleicht umstimmen? Soll ich? Seht das flackernde Licht. Die Röhren und die Lämpchen, die alles ins Weiß tauchen. Das Weiß eurer Kleider, auf das kaum Blut kommt, höchstens Kotze!“
Jake schrie laut und von Sinnen. Am Boden zogen sich Tropfen und langgezogene Spuren, verschmiertes Etwas, etwas Rotes, den Gang entlang. Die Ärztin und die drei Pfleger standen in vorsichtiger Angriffsstellung wenige Meter vor ihm. Er konnte weit hinter ihnen die Tür sehen, die eine Tür, die in die Freiheit führte. Er hatte sie schon aufgebrochen, dahinter lag das Treppenhaus, nur ein paar Stufen und er wäre weg gewesen. Aber sie kamen zu früh, er war noch da und jetzt. Was jetzt..? Das vergitterte Fenster in seinem Rücken war zerbrochen, seine Hand blutete stark. In seiner Linken lag ein metallenes Rasiermesser, es war verziehrt und schien wirklich alt.
„Bleib wo du bist!“
Der Pfleger erstarrte in einer komisch unnatürlichen Stellung aber noch gespannt und forschend. Die junge Ärztin, er nannte sie immer nur „Mary“ zitterte am ganzen Körper und versuchte verzweifelt sicher zu wirken.
„Legen sie das Messer auf den Boden. Ihre Hände bluten und sie haben zu lange ihre Pillen nicht genommen! Seien sie doch vernünftig! Ich will nur helfen, kommen sie einfach her, bitte!“
Jakes Linke zitterte und die Klinge kratzte an seinem Dreitagebart, etwas rotes störte die weite, weiße Fläche seiner kurzen Härchen.
„Was ist wenn ich es einfach durchziehe? Von einem Ohr zum anderen? Holt ihr mich dann zurück? Schaffst du Kind das? Glaubst du, dass du das drauf hast?!“
Die Klinge zitterte und vom Licht getroffen, blitzte síe, unter diesem so gleichmäßig weißen Kinn immer wieder auf.
„Was habt ihr für eine Wahl, ich bin in Sekunden Geschichte wenn ihr mich nicht durchlasst! Ist ein entflohender Patient nicht besser als ein toter? Na, Liebes was macht sich besser in deiner Karriere! Denk schneller, ich habe noch Vieles vor!“
Jakes alte Augen waren zu kleinen schmalen Schlitzen verzogen und lange weiße Strähnen fielen ihm ins zerfurchte Gesicht. Die Augen waren feucht und niemand sah es.
„Mary, lass mich gehen! Lass mich! Was macht es schon? Einer von Hundert weg? Es würde doch niemand merken...“
Er flüstere den letzten Satz, welchen er noch schreiend begann.
„Ich will doch nur atmen, ich will doch nur...“
Er war kaum noch zu hören. Das Messer bohrte sich langsam wenige Zentimeter unter seinem Ohr ins Fleisch. Kleine Tropfen rollten an der Klinge entlang und fielen auf den kalten Boden. Die Tropfen wurden zu winzigen Seen, welche langsam in die Ritzen zwischen den Fliesen verschwanden und diese nach und nach wie kleine rote Rahmen umschlossen.
Jakes Stimme wurde wieder ruhig und er blickte Mary direkt in die Augen.
„Lass mich fort oder ich tu es wirklich.“
Er strich sich eine Strähne aus den Augen und die Hand färbte sein halbes Gesicht rot. Er starrte still und ruhig vor sich hin; Mary fest, wie für immer im Blick gefangen. Das Rasiermesser steckte noch tief in der Wunde. Jake dachte keinen Moment lang darüber nach es herauszuziehen. Blut tropfte von der Klinge und er wirkte wie ein alter Dämon, den Tiefen der Hölle entsprungen, beide Hände und sein Gesicht in ein tiefes Rot getaucht und ein irrer, trauriger Blick in den leuchtenden Augen. Wie durch ein Wunder blieb seine weiße Hose und sein weißes Hemd fast sauber. Nur ein wenig Farbe markierte seinen Schmerz, leichfertig über die Brust verspritzt. Es war eine sonderbare Erscheinung, angesiedelt irgendwo zwischen Dämon und Anstreicher, der gerade zu leichtfertig ein mediterranes Flair an eine Wand geklatscht haben musste und nur etwas von der Farbe abbekommen hat. Es war surreal aber niemand hatte Zeit darüber zu sinnieren, schon garnicht Jake.
„Mary, die Zeit läuft.“
„Geh nicht. Bitte! Geh nicht! Du wirst wieder allein sein! Hier kümmern wir uns um dich, ich, ...ich kümmere mich um dich und du wirst wieder glücklich sein!“
Eine kleine Träne bahnte sich ihren Weg, vorbei an der Wimperntusche, sie gleitete, huschte über das zarte Blau ihres Lidschattens hinweg und floss langsam die Wange herab. Mary fuhr sich hastig mit einer Hand durch die Haare und wischte mit dem Ärmel das verräterische Wasser aus ihrem schönen Gesicht. Die Schminke war verlaufen und die Haare nun wirrer als zuvor. Sie ließ beide Hände sinken und stellte sich aufrecht und gerade hin.
„Ich will dich nicht verlieren, nicht an die Welt, nicht an diese Welt dadraußen! Bleib bei uns, bleib bei mir!“
Er trat einen Schritt auf sie zu und spielte ganz ungezwungen mit dem Messer am blutenden Hals. Die Tür, sie war dort, er musste sie nicht ansehen, sie war da. Er trat noch näher und blickte Mary scharf in die Augen. Sie wich zurück. Er musterte die Pfleger und riss den Kopf noch ein Stück weiter zurück. Sie sollten den Schnitt sehen, die Klinge steckte immernoch drin. Mary zog einen der Männer am Ärmel und dieser schritt auch etwas zurück. Die anderen zwei folgten ihm. Nach und nach schritt Jake vor und seine Gegner schritten zurück. Er schwieg und blickte nur zu Mary.
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Jake rannte so schnell er konnte die Treppe, hinter der dicken Feuerschutztür, herunter. Ein beherzter Stoß an der letzten Tür katapultierte ihn stolpernd und glücklich in die kalte Morgenluft.
Ihm war klar, die Sirenen schallten jetzt durch das ganze Gebäude, die Irren wurden wach und zappelten verschreckt in ihren Betten. Die Pfleger, das Sicherheitspersonal, ihn trennten nur Sekunden davon geschnappt zu werden. Sie würden auch gleich rausstolpern, bei der Kälte zusammezucken und ihn, ihn jagen. Mike nagte sicher wieder an seinen Nägeln und Jenna zog sich wie immer die Decke über den Kopf. Jake lächelte leicht, atmete zum ersten Mal seit drei Monaten tief ein und das alte Messer klackte sonderbar taub, als es zusammen mit den Regentropfen, auf dem Asphalt aufschug.
„Hey! Hey Mann, du rettest mir das Leben! Gib mir deinen Mantel! Ich bitte dich, du hast da noch zwei in deinem Wagen, schau doch! Gib mir den schlechtesten und du rettest einem Freund das Leben!“
Jake fing den Fetzen auf, den ihn der erschrockene, verschlafene Penner zuwarf und rannte weiter die schmale Gasse entlang. Er drehte sich erst nach einigen Metern im Lauf um und schrie in die Stille und ins leise Klacken der Regentropfen, ein viel zu lautes „Danke!“ hinein.
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Nach etlichen Querstraßen und vielen Kilometern, die er im Zickzack gerannt war, sah er ein gelbes Licht, nein, zwei, drei Fenster brannten noch oder sie brannten wieder. Es schien eine Kneipe zu sein, Jake riss völlig durchnässt aber fröhlig die Eingangstür auf. Eine Wärme riss ihn fast von den Beinen, als er reinstürmte. Er blieb, benommen, stehen.
„Was grinst du so alter Mann?“
Die Bar war bis auf drei Gesichter leer und der Barmann blickte skeptisch aber freundlich hinter der Theke zu Jake herüber. Wie von einem Poster geklaut hing ihm ein dreckiges Tuch von der
Schulter, mit dem er ein kleines Glas trockenrubbelte.
Jakes Grinsen erstreckte sich nun noch breiter über sein Gesicht. Der Kragen des Mantels war hochgeklappt und er sah mit dem Grinsen, wie der Grinch zu Weihnachten aus.
„Ich bin frei!“
Jake konnte sein Lachen kaum noch im Zaum halten.
„Wie du aussiehst kannst du auch nur frei sein...“
Der Barmann entspannte sich etwas mehr, seine Schultern sackten einige Zentimeter herab und er nickte Jake zu und dann schaute er auf einen Hocker am Ende des Tresens.
„Setz dich Alter, kann mir ja nicht vorstellen das du Geld hast aber wenn du willst kannst du das Glas Whisky haben. Der Typ hat einmal dran genippt, wurde angerufen und schwupps, weg war er. Dein Glück, dein Glück...“
„Zu gütig, von Ihnen.“
Jake verbeugte sich gekünstelt und zwinkerte dem Barmann zu, als er den Drink nahm und sich in die dunkle Ecke verzog.
Es war warm, der teure Fussel rannte seine Kehle herunter und schien allen angestauten Zorn wegzuätzen, es musste der Himmel sein.
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Der Polizist zog eine Augenbraue hoch und notierte sich schnell etwas in seinen kleinen braunen Block.
„Sie kannten Jake Cooper also von früher? Seit wann genau?“
Mary wirkte noch unsicher, es war laut hinter der Tür, Leute liefen durch die Gänge und man hörte die Bullen an ihrem Gebell sofort heraus. Dieser aber war ruhig und sprach leiser. Sie standen am Treppengeländer, hinter der Feuerschutztür durch die Jake erst vor einer Stunde verschwunden war, hier war es still.
„Ja, ja“ Sie stockte etwas. „Ich kannte Mr. Cooper schon als Kind. Wir waren Nachbarn als ich noch in Queens wohne.“
„Wie war ihr Verhältniss zu Mr. Cooper?“ Der Polizist fragte trocken und sehr roboterhaft. Es war nur Routine.
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„Hey, Fremder – ist hier noch frei?“
Die Frau war wohl Ende Dreißig, sie roch nach Hochprozentigem und versuchte möglichst breit zu lächeln.
„Kann ich mich dazu setzen, Süßer?“
Jake saß tief in sich versunken, über den Tresen gebeugt, der Mantelkragen verdeckte die noch offene Wunde am Hals, ach, der Kragen verdeckte fast den ganzen Kopf. Es müssten nur der Haarbüschel ganz oben sichtbar sein.
Er lächelte etwas verlegen und machte eine einladende Handbewegung. Die Frau setze sich schwankend und ungeschickt. Sie roch nun noch stärker nach Alkohol. Jake wusste nicht wonach genau sie stank, er kannte sich nicht aus, er war kein erfahrener Trinker. Die Frau war ihm unangenehm aber andererseits hatte er sich seit langer Zeit mit Niemand mehr normal unterhalten können. Gerade als er zu der Frage ansetzen wollte, wie die Dame denn hieß, kam sie ihm harsch zuvor.
„Süßer, wir wissen beide das du nicht süß bist.“
Jake stutze und hielt das nun fast leere Glas Whisky fragend vor seinem Mund.
„Süßer, es ist eine Scheißnacht gewesen und du bist kaum ein Lichtblick.“
Die Frau zog an ihrer Zigarette, wo auch immer diese so plötzlich herkam.
„Ich geh jetzt zu mir nach Hause, der Schuppen schließt in zehn Minuten, du kannst mitkommen - “
Sie zog nochmal hastig an der Zigarette und blies den Rauch vertikal nach oben als sie den Kopf zurückwarf. Die Augen wieder auf Jake gerichtet.
„ - natürlich nur wenn du willst...“
Jake schluckte das Bisschen herunter, was sich noch in seinem Glas befand. Er war immernoch klatschnass, auch wenn ihn das in der Wärme nicht sonderlich störte und die Alte war zwar betrunken aber nicht gerade hässlich. Sie hatte sicher ihre Gründe ihn einzuladen, nun, er hatte seine mitzukommen. Er musste nicht lange überlegen.
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„Ich war noch ein Kind als wir in die Arlington Road gezogen sind und Mr. Cooper lebte mit seiner Frau gleich nebenan. Unsere Gärten lagen nebeneinander. Meine Eltern verstanden sich auf Anhieb mit den Coopers und Jake lieh mir hin und wieder seine Bücher aus. Er hatte eine riesige Bibliothek zu hause. Da war alles. Ich brauchte ihn nur zu fragen und er griff früher oder später in ein Regal und zog ein Band heraus. Sie wissen, dass er für einen Verlag gearbeitet hat? Hauptsächlich hat er an Schulbüchern gearbeitet, sehr interdisziplinär und erfolgreich. Er interessierte sich brennend für die Jugend und bleib selbst auch ein großes Kind. Er hatte jedes erdenkliche Kinderbuch zur Hand. Am Anfang hatte ich es natürlich auf die abgesehen.“
„Sie gingen also bei ihm ein und aus?“
Der Polizist notierte wieder völlig mechanisch vor sich hin.
„Nein, naja, doch. Wir freundeten uns an und er half mir auch oft bei den Hausaufgaben. Wir waren sowas wie Freunde, und seine Frau, sie hieß Jane, sie kochte und backte so toll, ich wollte manchmal einfach nicht mehr da weg. Meine Eltern waren beide berufstätig und sie waren einfach nur dankbar das jemand auf mich aufgepasst hat.
Wissen sie, er war so ein liebevoller, nachsichtiger Mensch. Ich war keine fünfzehn und er war damals erst knapp über dreißig, seine Frau war noch einige Jahre jünger. Sie hatten keine Kinder, konnten keine bekommen und irgendwie war ich eine Art Ersatz für die Beiden. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen wie sie mich pupertierendes junges Ding ausgehalten haben. Ich muss ihnen so auf die Nerven gegangen sein. Zuletzt benahm ich mich Mr. Cooper gegenüber wie eine kleine Kokotte. Er ließ sich aber nie aus der Ruhe bringen. Kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag sind wir weggezogen. Danach habe ich ihn nie wieder gesund gesehen.“
Mary schnäuzte sich laut und ungeschickt.
„Sie meinen, er war bereits, wie sagt ihr das, 'verrückt' als sie ihn wieder sahen?“
„ Verrückt? Nein, das nichtaber er war eine Gefahr für sich und seine Mitmenschen, er war ein Anderer geworden. Ich hatte Schwierigkeiten ihn wieder zu erkennen. Aber es sind auch fünfundzwanzig Jahre vergangen. Er, er hat mich aber sofort erkannt...“
„Wann sahen sie ihn wieder? Können sie das möglichst genau bestimmen?“
Der Polizist schaute von seiner Brille hoch.
„Hören sie, es ist noch lange nichts besonderes wenn sich Arzt und Patient vorher gekannt haben. Ich muss diese Fragen nur stellen weil sie bei seiner Flucht anwesend waren. Aber...keine Sorge, es spricht absolut nichts gegen sie, das ist alles nur Routine.“
Mary versuchte müde zu lächeln.
„Ich habe ihn vor einigen Monaten getroffen, ich glaube in der zweiten Märzwoche.“
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Es regente noch stark, die Frau lief vorneweg, den Schirm fest in der Hand stürmte sie dem Regen entgegen und Jake folgte, den Mantelkragen bis über die Ohren hochgezogen. Es schein noch niemand bemerkt zu haben, dass er barfuß lief aber alle die er in der Bar sah und nun hier auf der Straße waren mit ihrem Kram beschäftigt und zu viele waren zu betrunken etwas beachten zu können. Alles war grau, alles war kalt, die Luft, der nasse Boden unter seinen Füßen, das Wasser durch das er watete. Zumindest hatte der Regen seine Hand von Blut freigewaschen, die Glassplitter waren längst herausgefallen und die Schnitte an seinen Fingern haben aufgehört zu bluten. Sein Hals tat weh, er blutete noch leicht. Jake dachte daran wie eigenartig es war, dass er sich nicht schlimmer verletzt hat, kein Nerv war durchtrennt, kein großes Blutgefäß angezapft. Wie hat er das nur angestellt. Eine Biegung nach Links, zwei nach Rechts, ein halber Block und zwei Etagen hoch. Die Frau schmiss ihren Schirm auf den Boden und ihre Jacke auf eine Stuhllehne, Jake kannte immernoch nicht ihren Namen und er war ihm auch gleich. Als er nackt vor der doch erstaunlich gutaussehenden Gastgeberin stand reichte sie ihm ein paar Pflaster ohne zu fragen woher die Schnitte kamen. Er küsste sie und fuhr mit seiner Hand über ihre Haut, jede seiner Regungen war Willkommen und die Frau ließ erst von ihm ab als er sich nach einer Stunden wieder an seinen Hals erinnerte und um einen neuen Verband bat. Er wickelte sich diesmal ein paar mal den Verand um den Hals und steckte das Ende einfach darunter. Die Frau, die ihm die Sachen gereicht hatte legte sich wieder neben ihn hin und ihr Kopf fiel auf seine Brust.
„Und wovor läuft du davon?“
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„Gut, Vielen Dank. Ah, Moment, noch etwas; Ich werde zwar seine Akte einsehen können aber sie waren seine zuständige Ärztin. Sagen sie, was ist sein Problem? Also was stimmt nicht mit ihm? Ist er sehr gefährlich oder nur verwirrt, was soll ich meinen Leuten sagen?“
Mary drehte sich langsam um, sie stand nun mit dem Gesicht zur Wand, die Beine schräg vor sich, sie lehnte sich mit den Ellbogen an das Geländer hinter ihr.
„Ich fange am Besten von vorne an. Irgendwann im Januar telefonierte ich mit meiner Mutter und sie sagte Mr. Coopers Frau wäre kürzlich verstorben. Die Beiden hielten noch lockeren Kontakt. Ich bat mich auf die Kondolenzkarte mitaufzuschreiben, überlegte sogar eine eigene zu schicken. Ich tat es nicht. Für mich war die Angelegenheit erledigt. Aber etwa eine Woche später rief mich meine Mutter wieder an und bat mich bei Mr. Cooper vorbeizuschauen und mit ihm zu reden. Meine Ma ist nämlich zur Beerdigung gefahren und blieb ein paar Tage lang bei Mr. Cooper. Ich war im Urlaub und fuhr erst zwei Wochen später nach New York. Mr. Cooper hat mich erkannt, das habe ich ja gesagt. Nur, ich sah einen Fremden vor mir. Es war nicht nur seine ganze Art, er hat sich auch äußerlich verändert. Da waren noch Photos aus dem letzen Jahr, er und Jane in den Ferien. Er hatte da wirklich noch Farbe in den Haaren! Verstehen sie, er ist binnen weniger Monate Weiß geworden. Er hatte einen Bart , völlig ungepflegt und Weiß bis in die Spitzen. Er stank. In seiner Bibliothek herrschte Chaos, da waren Bücher zerrissen, sie lagen verteilt auf dem Boden rum. Ich glaube ich sah sogar Reste im Kamin. Er hat auch Bekanntschaft mit der Polizei gemacht. Zwei Mal haben sie ihn schon abgeholt und über Nacht in die Zelle geworfen. Er war nur auf Bewährung draußen. Es fing noch vor der Beerdigung an, seine Frau war kaum kalt. Sie starb kurz nach dem Urlaub, eine exotische Krankheit, hat sie sehr schnell dahingerafft, sie soll nicht mal wirklich gelitten haben. Jedenfalls, er randalierte, zuerst stieß er einen Zeitungsjungen vom Fahrrad und jagte dem Kleinen eine Heidenangst ein, die Nachbarn sagten er wäre betrunken gewesen. Ich habe keine einzige Flasche in seinem Haus finden können. Das zweite Mal, das war als meine Mutter bei ihm war. Er hat am frühen Morgen einen dieser Lowrider angehalten als er an seinem Haus vorbeifuhr, er zerrte den jungen Fahrer aus dem Wagen raus und find an ihn zu beschimpfen und als der sich wechren wollte. Der alte Mr. Cooper hat diesen coolen Möchtegerngangster, der einen Kopf größer und dreißig Jahre jünger war als er zu Brei geprügelt. Der junge Mann ist erst im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Das war als mich meine Ma anrief. Die Polizei ließ ihn gegen ein Schuldeingeständniss und eine saftige Zahlung wieder laufen. Seitdem war er zumindest nicht mehr aggressiv. Als ich aber an seiner Türschwelle stand, kam mir eine so knapp bekleidete Dame entgegen, dass keine Frage bestand welchen Beruf sie ausübte. Ich klopfte aber keiner machte auf, ich ließ mich also selbst hinein. Ich fand ihn in seinem Bürosessel, mitten im Raum. Er drehte sich im Kreis.“
Der Polizist nickte.
„Sie sagten, er habe sie sofort erkannt?“
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„Und wovor läuft du davon?“
Das waren die ersten vernünftigen Worte von ihr gewesen, kein Nonsens, keine Beleidigung sondern eine ehrlich klingende Frage.
„Und wieso glaubst du das ich weglaufe? Habt ihr etwa keine Penner in DC?“
„Du bist kein Penner, das sieht doch jeder Idiot. Du bist ein Ausreißer, einer der seine Pubertät etwas großzügiger auslebt als andere.“
„Du zuerst, was sollte das in der Bar? Ich hätte weiß Gott wer sein können, wieso hast du mich mitgenommen? Wieso liege ich in deinem Bett?“
„Oh, Süßer, warum du hier liegst weiß ich auch nicht, freier Wille würde ich sagen. Aber wenn dus wissen willst: guck dich doch mal um. Sieht für dich alles so aus, wie es sollte?“
Jake richtete sich etwas auf.
Die Wände waren noch grau, das Fenster hinter ihm klopfte leise, der Regen wurde weniger, im Spiegel war die Helligkeit des anbrechenden Morgens zu sehen. Jack schaute durch den Spiegel in die Ferne hinter dem Fensterglas, er wollte Sonnenschein.
Entdlich starrte er wieder die triste Wand an, sie schien jetzt grau aber sie war rot, nein, eher orange, es hingen Bilder an ihr. Einige hingen schief. Jake senkte den Blick. Auf dem Boden lag zerbrochenes Glas, dass kaum merklich das frische Morgenlicht zurückwarf und dazwischen Fotos, Fotos, Fotos, Schmuck und eine leere Weinflasche war unter den Sekretär gerollt. Auf den Bildern war seine Gespielin mit einem Mann zu sehen, sie sahen glücklich aus und sie war so schön.
„Er hat dich verlassen?“
Jake versuchte möglichst ruhig und sanft zu klingen aber er krächtste nur. Der Regen machte ihm zu schaffen, er hustete laut in seine Hand.
„Nein...Ja! Ich habe ihn fortgejagt aber er hat mich verlassen. Vor Jahren schon. Ich habe es nur heute, - ach der Morgen - , ich habe es nur gestern Abend erst gesehen, ich muss blind und taub gewesen sein!“
Die Fremde versuchte zu lachen und er klang wie das Kratzen von Kreide an einer Tafel. „Wieso, ich meine, woran hast du gemerkt, dass er dich, dass er dich verlassen hatte?“
Jake wollte seine Worte weise wählen, er sprach langsam und schaute die Frau aufmerksam an.
„Er hat mich“ sie zögerte „er hat mich bertogen! So! Du vergnügst dich hier also nur mit der Zweiten Wahl, gefällt es dir?!“
Sie schmiss Jake die letzten Worte fordernd entgegen.
„Du bist“ Jake lächelte etwas „du bist schön.“
Er beugte sich herunter und versuchte sie zu küssen.
„Nein, nein, lass den Quatsch, wir sind doch keine Kinder.“
Oh ja, sie hatte sich wieder gefasst.
„Ich habe es zufällig mitgekriegt, ihn zur Rede gestellt, meinem Anwalt gesagt er soll die Papiere vorbereiten, ich habe das Arschloch aus der Wohnung geworfen und habe mich betrunken“
Jake musste leise auflachen, die Frau sagte das so lapidar und lässig als sei es das gewöhnlichste Ding auf der Welt, das eigene Leben so zerbrechen zu sehen. Sie schaute ihn fragend an, zog eine Augenbraue hoch und griff nach der Zigarettenpackung auf dem Beistelltisch.
„Ja und dann ging ich raus, in diese Bar. Ich bin zuvor schon in Einigen gewesen, nur, die schlossen alle irgendwann aber die Iren halten sich nie an die Sperrstunden. Also bin ich geblieben und sah dich jämmerliche Gestalt in den Laden reinstolpern.“
Jetzt lachte sie, es klang bösartig und schadenfroh.
„Ich war einfach glücklich jemand zu sehen dem es noch so viel schlechter ging als mir.“
Sie lachte schallend, es klang nun hell und das Lachen drang in jede Ecke, jede Ritze, ja, es kam von Herzen. Jake lächelte wieder und ließ sich wieder zurück ins Bett fallen, er nahm es ihr nicht übel. Das Lachen machte ihn glücklich, leicht. Die Frau verstummte.
„Und nun, du, wovor läufst du weg alter Mann?“
Für einen kurzen Moment leuchtet dieses kräftige Rot eines brennenden Glimmstängels im Halbdunkel auf.
„Ihre Mutter, Elle, sie hat mir gesagt, dass sie kommen würde. Sie hat mir erzählt wie Marys Leben verlief. Du musst wissen, ich hatte das Mädchen seit Jahren nicht gesehen. Sie war jetzt Ärztin, sie war in einer Psychiatischen Anstalt beschäftigt und sie sah so wundervoll aus. Elle hat mir nach der Beerdigung ein paar Bilder gezeigt.“
Die Frau neben ihm sah doch sehr stutzig aus. Jake lächelte zerstreut.
„Ach ja! Wessen Beerdigung?“
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„Nein, er hat mich nicht sofort erkannt, er drehte sich noch eine Weile weiter. Er stoppte mit dem Rücken zu mir. Als ich ihn rief, ihm Hallo sagte, zu fragen anfing, stand er promt auf lief geradewegs auf mich zu und – er küsste mich.“
„Und er wusste das es sie sind?“
„Ich kanns nicht sagen, er zeigte keine Regung. Er schaute mich dann an und fragte - er nannte mich beim Namen - er fragte ob ich etwas Tee wollte. So als ob Nichts geschehen wäre. Das war unheimlich! Ich versuchte ihm ein paar Fragen zu stellen, es nutzte nichts, er ging auf nichts ein. Er wollte nur das ich blieb. Aber ich ging, ich hatte Angst. Ich habe die Nachbarn befragt, mit Kollegen telefoniert, ich erfuhr das er ein regelrechtes Hurentreff eingerichtet hatte, sie kamen und gingen wie zu Schichten. Er hatte ja Geld, er hat nie schlecht verdient“
„Und dann ließen sie ihn einweisen?“
„Er wurde kurz darauf an einem Morgen schlafend im Park gefunden, diesmal war er betrunken, er war nackt, es war März. Man hat seine Zurechnungsfähigkeit angezweifelt. Es ging vom Gericht aus. Ein Gutachten und er war ein Fall für die Klapse. Ich fragte an ob er in diese Anstalt verlegt werden könne und man ließ mich gewähren. Wir haben einen ausgesprochen guten Ruf.“
„Und nach den Monaten die er hier verbracht hat, ist er noch eine Gefahr?“
„Er ist eine Gefahr für sich. Aber ich denke nicht das er gewalttätig werden wird. Sehen sie, er ist nach dem Tod seiner Frau völlig ausgetickt. Jetzt fing er gerade an sich damit abzufinden. Wir dachten alle, dass es ihm besser gehen würde und nun das...“
Der Polizist nahm seinen Trenchcoat vom Geländer.
„Gut, Vielen Dank, sie haben uns sehr geholfen. Wenn ihnen etwas wichtiges einfällt rufen sie bitte diese Nummer an. Mja, ansonsten...wir melden uns. Gute Nacht, errm Auf Wiedersehen.“
Der Polizist ging durch die Tür wieder in den Trubel des Geschehens. Mary blieb einen Moment stehen und ging dann ganz langsam die Treppenstufen hinunter. Sie stieß von innen die Tür auf und trat in die Kälte. Es war schon Morgen. Die sonderbar kalte, nasse Augustnacht schien zu weichen, der Regen nieselte nur noch ganz leicht und irgendwo in der Ferne leuchtete in einem zarten Rosa oder Orange die aufgehende Sonne. Der Himmel war bereits hier und da frei von Wolken. Mary atmete tief ein.
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„Ja, richtig. Damit fing es an. Meine Jane war gestorben. Witzig nicht, Jake und Jane! Wir waren dreißig Jahre verheiratet. Wir waren glücklich. Mal mehr, mal weniger. Nun war sie tot und Elle zeigte mir Bilder der kleinen Mary, einer angesehenen Ärztin, die zu mir kommen sollte um mir über den Tod meiner Frau zu helfen. Ein wenig lächerlich nicht wahr? Schon nach einer halben Stunde, die mir Elle von Mary vorgeschwärmt hat, vergass ich, dass ich je, überhaupt eine Frau gehabt hatte. Ich brannte wie ein kleines Kind darauf Mary zu treffen. Alte Zeiten aufzuarbeiten. Das war noch nicht das Verlangen, dass mich überkam als ich sie dann wirklich sah.
Zuerst wollte ich nur das Mädchen wiedersehen, dass ich von früher kannte. Sie wohnten vor langer Zeit nebenan und ich hatte die Kleine wirklich sehr gern. Aber dann...es passierte nichts. Und ich verlor die Hoffnung. Verstehst du, sie war ein Rettungsengel, der mir versprochen wurde aber sie kam nicht. Elle war freundlich und dumm aber mehr enge Freunde hatte ich nicht. Dieses edle, liebe Wesen, dass mich aus meiner tristen Welt reißen wollte, sie kam nicht!“
„Ach schon wieder so einer.“
Jake drehte sich zur glimmenden Zigarette.
„Wie bitte?“
„Nur ein weiterer Depp ohne jede Bodenhaftung, der Frauen idealisiert bis er auf die Schnauze fällt. Ihr seid so gleich.“
„Ich war krank, ich war alt, Ha! Das bin ich immernoch. Aber das war es nicht. Da hat sich etwas entwickelt, etwas war gebrochen, schon lange bevor Jane starb und Elle mir allerhand Lügen erzählte. Mary war nur das Ventil für einen gescheiterten Geist. Ich war dumm.“
„Das seid ihr alle.“
Die Frau immitierte etwas, was wohl ein Grinsen hatte werden sollen.
„Jedenfalls habe ich allerhand Blödsinn gemacht, Dummheiten nichts mehr, ich ließ mich gehen, meinen Job hatte ich auch nicht mehr, das war ein Zufall. Vielleicht hätte sich alles wieder gelegt aber eines Tages stand sie in meinem Arbeitszimmer, ich war so dicht, ich habe nicht geschlafen, nicht gegessen und als ich sie sah war es eine Erscheinung.
Es war ein alberner Traum, moment, nein, damals war nichts albern, es war ein Traum der in Erfüllung ging und wir verbrachten eine tolle Zeit zusammen bis sie mich fallen ließ. So läuft das!“
Jake blinzelte der wegbrennenden Zigarette wie einem Komplizen entgegen. Er schaute nicht wirklich hoch, er lag in sich zusammengesunken in den Lacken und verschmolz mit der Decke.
„Sie ließ mich irgendwie Einweisen, sie erwischte mich betrunken. In einem wirklich, wirklich schwachen Moment und sie nutze es gnadenlos aus. Sie muss sich gesagt haben, sie tue nur das Beste für mich. Tun sie das nicht alle? Ich landete in ihrem Heim, ihrer Psychiatrie, in ihrem Reich. Und sie war so nett zu mir, so fürsorglich, so allwissend. Sie spielte sich wie meine tote Mutter auf. Ich war ihr Kind, ihr kleiner Junge der hingefallen war. Und sie hockte vor mir, hielt mir das blutende Knie und schüttete Jod drauf bis die Flasche leer war. Meine echte Mutter verbot mir damals das Fahrradfahren, Mary verbot mit das denken, verordnete mir Antidepressiva, Lithium, sie ließ mich ans Bett fesseln und mich mit Löffelchen füttern als ich um mich schlagen und schreien wollte. Sie hat immer gelächelt. Sie wollte mir helfen.“
„Du bist also ein Verrückter?“
„Ja, ja. Ja!“
Jake sprang auf dem Bett hoch, lachte auf und ließ sich wieder fallen. Er grub die Nase ins Kissen und blieb einen Moment lang ruhig liegen.
„Ich habs nicht so gemeint.“
Die Frau zündete sich eine weitere Zigarette an.
„Ich bin es nicht gewohnt mit Wahnsinnigen zu reden.“
Sie lachte bitter auf und fuhr mit ihrer Hand langsam durch Jakes weißes Haar. Jake hob den Kopf und schaute ihr ins Gesicht.
„Ich werde jetzt gehen.“
Er stockte.
„Es ist Zeit, mein Freigang ist nicht unbefristet, ich verliere Sonnenlicht.“
„Das nennst du einen Verlust du undankbarer Spinner?“
Die Frau grinste ihn versteckt hinter dem Rauch an.
„Nein, die Nacht hier war nötig und ich schulde dir ewigen Dank aber ich muss trotzdem gehen und du...schau es ist schon hell!“
Jake drehte sich auf den Rücken und richtete sich im Bett auf.
„Hey, nimm dir was zum anziehen aus dem Schrank, das Arschloch hat etwa deine Größe und seine Besitzansprüche sind in diesen vier Wänden verfallen.“
Jake nickte vor sich hin, murmelte etwas und ging schleppend zum Schrank herüber.
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Er lief durch die Gassen. Die Stadt war längst wieder erwacht und die Menschen irrten und folgten ihren Wegen. Jake kämpfte sich durch die Menge. Er trug einen frischen Anzug und eine leichte Regenjacke baumelte zwecklos von seinen Schulter, es war wieder trocken und warm. Die Sonne stand schon recht hoch als er um die letzte Ecke bog und das weiße Gebäude ihm die Sicht nahm. Es warf einen Schatten der ihm bis vor die Füße reichte. Jake blieb stehen, rückte sich die Krawatte zurecht und zögerte weiterzugehen. Die Eingangstür war Schwarz und sämtliche Fenster ab der zweiten Etage hatten unscheinbare Gitter und man konnte vom nahen die Drähte der elektonischen Sicherheitsanlage sehen. Die Fenster wirkten wie Einschusslöcher in einem sonst makellosen totem Körper. Jake stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vor ihm spielte sich der alltägliche Verkehr ab, Autos, Busse und allerhand Anderes raste an ihm vorbei. Ein Passant rannte ihn fast um. Jake stand mitten auf dem Gehweg und war völlig apart. Als Jake sich wieder gefasst hatte, sahen ihn die wenigen Aufmerksamen queer über die vier Fahrspuren rennen. Der Mantel flatterte und ein Motorradfahrer fuhr fast in einen Laster. Jake war auf der anderen Seite. Ganz in den Schatten gehüllt ging er langsam vor dem Gebäude auf und ab und bog endlich in eine Seitenstraße ein.
Mary sah ihn langsam auf den Hintereingang zugehen.
Sie saß hier seit etwa drei Stunden. Ihre Schicht war längst rum. Ohnehin hat von ihr niemand erwartet, dass sie bleiben würde. Irgendwann holte sie sich ihre Jacke und nun saß sie quer auf der Treppe und spielte mit einem Fuß am Geländer vor ihr. Zwischen ihren Fingern qualmte eine Zigarette und einige alte Stummel lagen neben ihr auf dem Asphalt vertreut. In der anderen Hand hielt sie ein Buch. Jake konnte nicht erkennen welches während es wie in Zeitlupe auf den Boden fiel als sich ihre Blicke trafen.
Sie blieb sitzen und bis auf das ihr entglittene Buch änderte sich nichts. Langsam drückte sie ihre Zigarette auf einer Treppenstuffe aus. Sie rückte ihre Jacke zurecht und warf sie in Falten über die Beine. Dann, nach einer Weile in der sie sich aus einiger Entfernung angeschaut hatten, stand sie auf. Diesmal, wirklich so graziös, wie Jake sie immer in seiner Vorstellung sah, richtete Mary ihr Haar und zog den Gürtel auf der Taille enger. Die Sonne schien sie von der Seite an und ihr hellrotes Haar wehte leicht obwohl Jake keinen Windhauch spürte.
Er ging gemächlich auf Mary zu. Das weiße Hemd bedeckte seine noch frische Narbe und über seine Linke war eine unscheinbare Bandage gewickelt. Er sah wie ein gewöhnlicher Passant aus. Vielleicht ein Banker der auf exotische Bartkreationen stand oder ein schräger Psychologe mit Hang zur Exzentrik.
Etwa zehn Schritte von Mary entfernt, blieb er stehen. Sie war ihm zuvor auch entgegengekommen. Sie waren im Niemandsland. Die brodelnde Stadt schien hier keinen Zutritt zu haben und dennoch war es nicht mehr das Gelände der Klinik. Sie standen sich wie zwei Freaks aus feindlichen Straßengangs gegenüber, beide in der Verkleidung gewöhnlicher Menschen. Jake musste an das Bild aus West Side Story denken und verfluchte das lächerliche Schauspiel.
„Warum bist du zurückgekommen? Alle suchen nach dir!“
Mary stand einfach nur da, ihr fehlte nun all die unterkühlte Eleganz, welche sie doch so unnahbar und schön machte. Sie stand einfach nur da und konnte ihren Augen nicht mehr trauen.
„Wirst du bleiben?“
Sie setzte an mehr zu sagen, ihr ging der Gedanke durch den Kopf, dass sie nur etwas Zeit schinden musste und jemand vom Pflegepersonal würde Sie und Jake sehen und er könnte dann nicht mehr einfach verschwinden, vor ihr weglaufen.
„Ich wusste das du zurückkommst!“
In ihrer Stimme klang plötzlich ein eigenartiger Triumph. Jake seuftzte leise.
„Natürlich hast das gewusst, du weißt alles. Ich werde nicht bleiben.“
Er sprach gerade leise genug, dass sie ihn noch hören konnte.
„Du hast mich verraten. Du hast meine Liebe und mein Vertrauen verraten. Du hast mich geliebt und es weggeworfen!“
„Ich habe dich nicht geliebt.“
Mary sprach erstaunlich ruhig, während Jake zu kochen begann.
„Du bist gekommen als ich dich gebraucht habe und dennoch, viel, viel zu spät!“
„Ich bin gekommen weil mich meine Mutter darum gebeten hatte!“
„Und du bist geblieben! Du bist in meinem Schlafzimmer geblieben! Du bist in meinem verdammten Bett geblieben und ich habe es geliebt bis zum letzten Atemzug!“
„Jake, es war ein Fehler von mir, ich habe dich falsch eingeschätzt, ich dachte du wärst so erwachsten wie du grau und weiß bist. Ich habe mich geiirt.“
Mary hatte sich längst gefangen, sie schaute Jake so eindringlich an als ob er ein kleiner Junge wäre der eine Predigt von seiner Mutter hört.
„Du hast mit mir geschlafen und du bist bei mir geblieben! Du kamst wie ein blöder Engel angeflogen und hast mich wachgerüttelt. Mir Sinn gegeben. Ich sah doch in deinen Augen wie du mich geliebt hast!
Du warst mit mir in Museen, wir gingen schwimmen. Kannst du dich an mich alten Mann in einer Schwimmhose erinnern? Weißt du noch wie wir im Park lagen und du mir Märchen nacherzählt hast, die du vor so vielen Jahren von mir zum ersten Mal gehört hast? Ich habe dir die schönsten Blumen gekauft und ließ dich meinen alten Porsche bis zum Anschlag ausfahren und hatte keine Sekunde Angst als du die Landstraße entlanggekurvt bist! Wir tanzten zusammen und ich ließ die Band nur für uns spielen und du hast gelacht. Oh, wie du gelacht hast!“
„Jake, du Narr, nichts davon ist je passiert!“
Mary wurde rot und ihr Haar hob sich kaum vom Gesicht ab.
„Jake, Jake, wie kommst du auf all das? Wir haben miteinander geschlafen, ja! Es tut mir leid, ich habe deinen Zustand nicht erkannt. Du warst ein alter Freund, die Gelegenheit war günstig. Ich träumte seit meiner Pubertät davon du Narr, es war ein Spiel. Es war nur ein lächerlicher Traum der verflogen war als ich ihn zu fassen bekam!“
Sie machte ein Pause und sah Jake eindringlich an.
„Was glaubtest du was das werden sollte?“
Jake schaute schüchtern auf den Boden.
„Mary“
„Ja? Was?“
„Mary, all das, all das hätte sein können. Es war in meinem Kopf und als du in meinem Bett lagst, die aufgehende Sonne auf deiner nackten Haut spielte und ich nur dasitzen und dich ansehen brauchte um glücklich zu sein...es begann in Erfüllung zu gehen. Ich war bereit dir alles was ich hatte, alles was ich war zu deinen Füßen zu legen.“
„Ich weiß doch!“
„Hat es etwas genützt? Du bist gegangen, hast flüchtig „bye“ gesagt und verschwandst hinter der Tür. Verdammt was sollte ich tun? Ja ich habe dich angerufen, ja ich habe dir tausend Briefe geschrieben, ich habe dir Blumen geschickt und einmal sogar einen verdammten Schreibtisch! Ja, dämlich! Aber jeder braucht einen und der war dreitausend Wert! Du hast so gern geschrieben...! Ach, fuck!“
Jake schnappte nach Luft und setzte wieder an.
„Ich war wahnsinnig nach dir! Wie stehen die Chancen für einen alten Mann sich nochmal zu verlieben? Ich meine, wirklich, ohne wenn und aber jemand so hörig sein können? Ich glaubte mein Leben sei vorbei bevor ich ein Bild von dir sah und mich an das kleine liebe Mädchen erinnerte, dass mich ehemals vergöttert hat! Du warst doch mehr als eine Bettbekanntschaft! Wieso hast du dich wie eine verhalten? Warum zum Teufel hast du mich so allein gelassen?“
„Weil du ein dummer, neurotischer, greiser Narr bist!“
Es platze aus Mary geradezu heraus.
„Und deswegen hast du mich einweisen lassen, statt in mein Bett zurückzukehren?“
„Ich habe dich nicht einweisen lassen, wie oft denn noch!“
„Ja, richtig, deine alte Yalefreundin hat das für dich erledigt, das macht es natürlich besser! Du hast mich am Boden gesehen als du dich endlich an mich erinnert hast und dein erster Gedanke war der mich einzusperren?“
„Du warst krank!“
„Ich hatte Angst und war allein!“
„Du lagst betrunken und nackt auf der Parkbank vor dem Gerichtsgebäude, fünf Meilen von deinem Haus entfernt! Nebenan war eine Schule!“
„Komm mir nicht mit Semantik!“
„Ich wollte dein Bestes!“
„Du wolltest ein Haustier, dass dir nicht an die Wäsche ging!“
„Als ob du zu mehr fähig wärest!“
„Ich bin kein Kind.“
Jake grinste sie müde an.
„Du hast dich zu lange wie eins verhalten. Hier drinnen...“
Mary zeigte auf die weißen Mauern hinter ihr.
„Dort, dort drinnen, kann ich dir helfen der zu werden, der du mal warst!“
„Du dumme Kuh! Dazu müsstest du schon die Zeit zurückdrehen können! Kleine Närrin! Du kannst nicht alles reparieren!“
„Gut, es reicht, komm mit oder ich hole die Pfleger und überhaupt, wo hast du den Anzug her?“
Ihre Stimme überschlug sich, laut, leise, das Tempo wechselten sich mehrmals in diesem kurzen Satz.
„Mary, ich werde bestimmt nicht zurückgehen. Ich bin nur hier weil ich einen letzten Blick auf dich werfen wollte.“
Jake hielt einen Moment inne und fügte mit einem gequälten Grinsen hinzu.
„Mja, möglichst ohne mich dabei von deinen Pflegern bedrohen zu lassen.“
Mary warf ihm einen Blick zu, den Hunde abbekommen wenn sie sitzen bleiben sollen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und schrie über alle Maßen laut, Jake solle sich nicht rühren.
„Tu das nicht, ich bitte dich!“
Jake blickte ihr traurig nach.
„Mary, machs gut.“
Jake sprach leise und sie hörte es kaum durch den fernen Straßenlärm. Als Mary sich umdrehte sah sie ihn gemächlich aber mit langen Schritten dorthin gehen von wo er gekommen war, zurück in den Schatten, in die Dunkelheit der Wolkenkratzer und zurück zum Lärm.
„Jake bleib gefälligst hier!“
Mary rannte plötzlich auf die Tür zu. Ihre Jacke ging auf und flatterte samt ihrer weißen Uniform hinter ihr. Die Absätze klackten unregelmäßig auf dem Boden und ihre zarten Finger ballten sich zu kleinen Fäusten zusammen. Sie wirkte wie ein rothaariger Engel auf dem Weg in den weißbemalten, hermetisch verschlossenen Himmel.
Jake war schon fast an der Ecke als sie die Tür erreichte, sie müsste noch zwei Treppen hochlaufen, etwa vierzig Stufen, eine Frage von zehn Sekunden, vielleicht weniger, bis sie einen Alarmknopf erreichen würde. Eine halbe Minute bis ein Pfleger voller Tatendrang rausgestürmt wäre, ja, die Zeit müsste reichen. Sie drückte den Griff herunter und schmiss die schwere Metalltür mit Leichtigkeit auf. Mit einem letzten Blick sah sie Jake vor der Ecke zögern und sie lächelnd ansehen.
Nun war er weg. Irgendwo auf dem Gehweg lief ihr Verrückter und starrte vermutlich wieder in die Sonne und, und lächelte dabei.
Mary ließ den Griff loß. Die Tür fiel laut krachend ins Schloss zurück. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und bückte sich langsam nach ihrem Buch.
Ende