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Real Live

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03.07.2006
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Real Live

Der Raum ist dunkel. Ein bisschen unheimlich. Die Stille tut richtig weh. Im Hintergrund ein Leuchten. Lampen beginnen zu brennen. Alle Farben, alle Formen. Modern, altmodisch, kitschig. Funkeln wie Sterne am Himmel. Es gibt unendlich viele Sterne. Wenn du nur einen kleinen Ausschnitt davon siehst, sind es noch immer unendlich viele. Die kühle Logik der Mathematik. Es wird heiß. S. spürt die Helligkeit. Die vielen Lampen entwickeln ein Eigenleben. Im Hintergrund ein Piepsen. Wird immer lauter. Unerträglich.

Hier ist Ö3, es ist 6 Uhr. Die Nachrichten. Ah, das war nur ein Traum. Jetzt beginnt der übliche Tagesablauf. Aufstehen, Kind aufwecken, Frühstück. Kelloggs mit frischer Milch. Kakao. Kind in die Schule bringen. Zurück nach Hause. Jetzt eine Zigarette. Ein kleiner Blick in den Wandspiegel. Schwarze Haare, eine Brille. Stupsnase. Sommersprossen. Für eine vierzigjährige ...gut erhalten. Schöne braune Augen. Die Spiegel zur Seele. Die Figur – sagen wir ganz viel Frau. Der tägliche Kampf mit den Kalorien. Früher hat sie Lampen verkauft. In einem grossen Möbelhaus. Rationalisierung. Danach Kassierin in einem Supermarkt. Danach wieder arbeitslos. Dann die Scheidung. Der Mann ist zu einer jüngeren Freundin gezogen. Das alte Lied..

Der Tagesablauf beginnt. Tägliche Routine, ein Tag ist wie der andere.

Der Computer wird zum Leben erweckt. Die Bill-Gates Gedenkminute. In den Chat einloggen. Jetzt taucht S. in ihre virtuelle Welt ein. Dort fühlt sie sich zu Hause. Viele Freunde. Eigentlich nur flüchtige Bekannte, die meisten hat sie schon einmal kennen gelernt. Manche auch sehr nahe. Sätze huschen über den Bildschirm. Dazwischen lustige kleine Symbole. Smilies. Ein kleiner Kuss, eine Rose, Winke-Winke. T. erzählt von gestern. Wärmt die alte Sache mit den Zwillingen wieder auf. Gemeinsam waren sie schon 42. Und ein Mann ist für T. zuwenig. Sehr hohe Ansprüche. Aber dafür bietet sie auch viel. Die Profile durchgesehen. T. hat ein neues Bild – das nenn ich mutig – von vorne … S. schmunzelt. Die Mailbox checken. Voll wie immer. Lauter Nieten, Loser. Delete, delete, ab damit in den virtuellen Papierkorb. S. ist schon lange hier in der community. Sie kennt schon alle, und alle kennen sie. Der täglich Ablauf ist immer gleich: Hallo, wie geht’s. Winke-Winke; Grins; Das Megafon; Im Öffentlichen Bereich werden nur leere Worthülsen ausgetauscht, aber hinter den Kulissen läuft die Sache anders: flüstern. Flüstern trifft die Sache nicht genau, denn da können ja die nebenstehenden mithören. Flüstern ist eigentlich ein geheimes Gespräch zwischen zwei Chattern. T. gibt gerade dem jungen Mann ihre Handynummer. Ruf mich an. Besuche mich, wenn du in der Gegend bist.
Ist ja urpeinlich, wie die sich den Männern an den Hals wirft. S hat in den langen Jahren, die sie hier verbracht hat, ein eigenes Klassifizierungssystem entwickelt:

F- Partner, G-Partner und D-Partner.

F-Partner sind jüngere Männer, lieb, nett, ungebunden. Ideal fürs Bett. Nicht nur im Herzen frei, sozusagen. Hier ist die Qualität höchst unterschiedlich, der Negativrekord waren 2 Minuten. Wurde gleich zum D-Partner erklärt. Niete. Versager.

G-Partner dienen nur zur Unterhaltung, für Gespräche, eventuell zum Theaterbesuch. Das sind die geduldigsten. S. verachtet in Wirklichkeit diese Männer. Die sind ja so etwas von naiv. Sie verwendet eine eigene Methode, diese Männer auf Abruf, bei Laune zu halten: Im chat ein Grüss dich, eine kleine, kurze mail, bei dates: ich würde ja soo gerne, aber diese Woche – leider keine Zeit. In Wirklichkeit sind sie nur die Lückenbüßer, falls ein F-date mal ausfällt, da stehen sie gerne bereit, wie ein Hund, der dankbar nach dem Knochen schnappt.

D-Partner werden gleich gelöscht. Terminiert im virtuellen Mistkübel. Uninteressant.

Der chat läuft weiter. Fad wie immer. Eine Zigarette. Belanglose Sätze huschen über den Bildschirm. Die Zigarette wird entschlossen im Aschenbecher ausgedämpft. Terminiert. Ich sollte mein Profil auch ändern, denkt S. Zu harmlos. Zieht die falschen Männer an. Die Intellektuellen, die Schwafler. Total unerotisch. Sie sucht ein neues Bild. Das wäre doch was. Ein Aktbild, von hinten. Sitzend. Die 2 Tatoos nicht zu übersehen. Da könnte sich T. ein paar Scheibchen abschneiden. Im Radio dudelt ein deutscher Schlager:

Frauen ab vierzig sind der Hit,
in Puncto Liebe mehr als fit,
sie wissen dies und das und noch viel mehr.
Frauen ab vierzig sind gut,
haben Dynamit im Blut,
bei denen gibt's kein langes Hin und Her.
Frauen ab vierzig sind Frau'n,
denen kannst du blind vertrau'n
weil sie was besondres sind.
Sie kennen jedes Männerleid
wo es drückt und wo es kneift,
ja, Frauen ab vierzig sind der Hit

Verärgert dreht S. den Apparat ab. Jetzt wird das Profil radikal geändert. Ein Imagewechsel. Ein Facelift, ein Relaunch.,eine Neupositionierung. T wird dumm dreinschauen.

Die Texte werden gelöscht:

S. eine Frau, die an die wahre Liebe glaubt.
Eine Frau ab 40 weiss, was sie will.
Ich bin nicht nett.
Nett ist nur der Hund vom Nachbarn.

Das ganze waren doch eh nur Phrasen, S. glaubt schon lange nicht mehr daran. Jetzt muss ein neuer Text her. Kurz. Prägnant.


Anspruchsvolle Frau sucht Männer für erotische Abenteuer. Verbalerotiker, Herumreder unerwünscht. Ich stelle hohe Ansprüche, biete dafür aber auch viel. Alles kann, nichts muss.

Jaaa, das wars. Zufrieden datet sie ihr Profil ab. Das alte Foto mit der Ziggi danach – weg damit. Passt nicht mehr ins Image. Die Klassifizierung wird bei dieser Gelegenheit auch gleich geändert: Nur mehr F – und D Partner. Zufrieden raucht S. eine Zigarette.

Am Bildschirm Winke-Winke, Bussi-Bussi, Lach, Grins. T. erzählt ihre Erlebnisse. Die Sache mit den Zwillingen.

S. versinkt ganz in dieser Welt. Da ist sie zuhause. Bei Ihren Freunden. Da gibts keine Enttäuschungen, man kennt sich.

Um Mitternacht schaltet S. den Computer ab. Die virtuelle Welt verblasst.
Ein Tag ist zuende. Tägliche Routine, ein Tag wie jeder andere.

 

Hallo Markhor!

Dein Text ist eher eine Momentaufnahme als eine Geschichte, es passiert nicht wirklich was. Trotzdem finde ich ihn gut gelungen.

Ich hab mir die Frage gestellt, welche Beziehung die vielen Lampen am Anfang mit dem übrigen Text haben. Vielleicht ist es ja so, dass sie mit den vielen Bekanntschaften, die S. hat, gleichzusetzen sind. Meine Assoziationskette ist dabei so: Seelen - Augen - Lichter - Sterne. So wie die Sterne am Himmel der kühlen Mathematik folgen, so teilt auch S. ihre Bekanntschaften in ein System ein. Vielleicht ist das ja etwas überinterpretiert. ;)

Dass Beziehungen dieser Art beliebig, oberflächlich sind, wird gut vermittelt. In einer großen Zahl von Lichtern = Seelen zählt bzw. leuchtet das/die einzelne nicht mehr. Auch die Leere im Leben der S., die deswegen umso anfälliger ist für Süchte dieser Art, ist gut dargestellt. Es ist ein sehr aktuelles Thema, denn viele Menschen holen sich bereits auf diese Art ein bisschen Farbe in ihr Leben, auch wenn sie spüren, so auch S., sie findet es ja "fad", dass es nicht wirklich erfüllt.

Ach ja, da ich auch eine Frau über vierzig bin: gibt es dieses Lied wirklich?:D

Liebe Grüße
Andrea

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Andrea,

Danke für Deine Gedanken...

Zunächst einmal: Das besagte Lied existiert (leider) wirklich, obwohl es auf mich relativ einfältig wirkt:

"Ireen Sheer: Frauen ab 40 Sind Der Hit"

(Sie Ist hoffentlich nicht Deine Lieblingsinterpretin, oder? :)

Die Lichter / Lampen am Anfang... S. war ja Lampenverkäuferin, und träumt ein bisschen von der guten, alten Zeit, wo Ihre Welt noch in Ordnung war. Das Ganze hat dann in einem Chaos geendet...

edit: Für S. ist mit der Scheidung Ihre kleinbürgerliche Idylle zerbrochen....Sie hat es nie geschafft,
wirkliche Freunde zu finden. Daher die Flucht in den chat.

Real live ist kein Schreibfehler (life) sondern soll bedeuten: die ständig präsente Realität der Prot.

lg.
Markhor

 

Hi Markhor!

Ja, sicher, sie war Lampenverkäuferin, aber wenn Lampen in einer Geschichte derart hervorgehoben werden, dann muss das wohl einen Sinn haben - nicht, dass ich sage, jede Geschichte oder jeder Teil einer Geschichte muss sinnvoll sein, aber als naiver Leser will man ALLES, was in einer Geschichte vorkommt, auch irgendwie einordnen.;)

Naja, in Chaos wohl nicht, sondern eher in Lethargie.

Gruß
Andrea

 

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