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Realität
„Warum, frage ich Sie, wird der Tod in der Populärkultur so sehr mit Bedeutung aufgeladen?“ Professor Tubran legte die Hände auf das Pult und ließ seinen Blick über die dicht besetzten Ränge schweifen. Einige seiner Studenten saßen auf der Treppe. Kein Zweifel, sein Kurs war gefragt.
„Ein paar Beispiele gefällig? In dem Film Minority Report, der auf einer Kurzgeschichte des angloamerikanischen Schriftstellers Philip Kindred Dick beruht, heißt es, dass der Mord wie keine andere Tat einen Eingriff in das metaphysische Geflecht des Universums darstellt. Das ist doch ganz beachtlich, finden Sie nicht? In dem leider misslungenen Film Die Abenteuer des Baron von Münchhausen tritt der Tod als personifizierte Albtraumgestalt auf, die dem Titelhelden persönlich nach dem Leben trachtet. Und die Bombe, die der Übeltäter mit seinem Pulsschlag verknüpft, ist ein stehendes Topos im Baukasten angloamerikanischer Drehbuchautoren. Sie wissen schon -“ Tubran griff sich ans Herz, knickte halb mit den Knien ein und machte dann ein lautes Bumm-Geräusch. Der Saal lachte.
„Die Personifizierung des Todes ist fest in unserer Kultur verankert und keinesfalls eine Erscheinung der Moderne. Man verhandelt mit dem Tod. Man spielt mit ihm um sein Leben. Vorzugsweise Schach. Man betrügt ihn. Man trickst ihn aus und hintergeht ihn. Die Moiren spinnen den Schicksalsfaden, die Götter erachten einen als wichtig genug. Sie beschäftigen sich mit uns. Das ist doch beruhigend, finden Sie nicht?“
Tubran strich sich über seinen Mund und streichelte sein Kinn. Wenn der Beamer nur endlich wieder funktionierte, dann hätte er die letzte Passage besser unterstreichen können. Er hatte faszinierende Abbilder von Bronzestichen. Tubran kniff die Augen zusammen und spürte einen leichten Kopfschmerz.
„Die Kirche“, setzte er neu an. „Die Kirche hat sich dadurch finanziert. Ablasshandel. Das war schon das Geschäft mit dem Tod, bevor es Waffenhändler überhaupt gab. Warum ist das so? Warum fasziniert uns der Tod? Er ist doch alltäglich. Gehen Sie mal in ein Krankenhaus oder auf einen Friedhof. Unterhalten Sie sich mal mit einem Pfarrer oder einem Arzt. Für sie ist der Tod alltäglich. Schlimmer noch, für sie ist er banal. Glauben Sie, dass jedes Mal Gott dahinter steckt oder dass es einen Riss auf irgendeiner Ebene gibt, wenn jemand stirbt? Glauben Sie das wirklich? Der Tod macht einen Plan für jeden von uns, wie es in der Filmtriologie Final Destination heißt? Wäre ziemlich anstrengend. Er bräuchte ein paar Elfen, die ihm dabei helfen. Eine Frau Weihnachtstod vielleicht, die eine Liste führt.“
Tubran schüttelte den Kopf. „Nein, aus dem Alter sind wir doch raus. Wir glauben nicht mehr an den Weihnachtsmann und nicht mehr an den Osterhasen, nicht an Rübezahl und auch nicht mehr an Meister Proper, aber an den Tod. Warum ist das so?“
Tubran räusperte sich und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Seine Knie fühlten sich weich an. „Ich will es Ihnen gerne sagen. Weil der Glaube an den Tod unser Leben aufwertet. Ganz einfach. Wenn unser Tod schon keine Bedeutung hat für das große Ganze, was sollte unser Leben dann für eine Bedeutung haben? Kleine Kinder machen das schon. Wenn sie kein Pony bekommen oder sich ungerecht behandelt fühlen, dann legen sie sich ins Bett und stellen sich vor, dass sie tot sind und dass es ihren Eltern leid tut. Na, los. Geben Sie’s zu, wer von Ihnen hat das als Kind gemacht?“
Einige meldeten sich zögerlich. Tubrans Blick war getrübt, so als sähe er sie durch eine Glasscheibe. Mit der rechten Hand schöpfte er von unten nach oben. Wedelte wie ein Dirigent und nun erhoben sich mehr Hände. Studenten blickten unsicher nach links und rechts, meldeten sich dann doch. Schweiß lief durch Tubrans Brauen in die Augen.
„Sehen Sie. Wir brauchen das, wir brauchen den bedeutsamen Tod. Wir brauchen das. Wir wollen, dass man uns vermisst, wir wollen Teil eines großen Ganzen sein, wir wollen wichtig und bedeutsam sein. Das ist einfach so, aber wissen Sie was, das ist alles Quatsch. Keinen kümmert das.“
Tubran hustete und lockerte seine Krawatte ein wenig. „In hundert Jahren werden wir alle tot sein und die Welt wird von anderen …“, Tubran schluckte, „wird von anderen bevölkert sein und die werden auch alle so denken, wie wir, dass sie wichtig sind und dass ihr Tod dann eine Bedeutung hat und das alles, aber die, die …“
Tubrans Knie brachen unter ihm weg. Im Fallen versuchte er noch, sich am Pult festzuhalten, bekam es aber nicht zu fassen. Er schlug mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf und sah an die Decke des Seminarsaals. Er hörte Stimmen, vor allem die der Studentinnen.
Sein Mund war trocken. Tubran leckte sich über die Lippen und starrte weiter an die Decke. Er sah die Lampen, aber sie waren ausgeschaltet. Seltsam eigentlich.
Schließlich schob sich ein Kopf in sein Blickfeld. Ein Mädchen mit länglichem Gesicht und einer Nickelbrille. Tubran flüsterte: „Ich habe mich geirrt. Sag mir, dass ich mich geirrt habe. Bitte.“