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Regenrequiem
In den braunen Pfützen spiegelte sich undeutlich das Aufglühen ihrer Zigarette wider. Kalt war es, nasskalt, und sie zog fröstelnd die dünne Jeansjacke enger um ihre Schultern. Die Metallbank auf diesem Bahnhof war nicht nur unbequem, sondern auch verdreckt. Kippen, Kaugummis und leere Trinkpäckchen lagen umher und strömten einen penetranten, säuerlichen Geruch aus. Vor dem überdachten Wartebereich vermischte der stete Regen Erde und Abfälle zu einem Morast, aus dem eine zerdrückte Coladose ragte und grotesk um Hilfe zu rufen schien.
Sie wusste nicht, wie sie hierher an diesen Ort gekommen war; doch, natürlich wusste sie es; sie hatte sich am späten Nachmittag in die S-Bahn gesetzt und war dann einfach irgendwann an einem kleinen Bahnhof ausgesteigen, dessen Name für sie auf unbestimmte Art tröstlich klang. Sie war noch nie hier gewesen, vorher. Früher.
Früher, das waren die Stunden, in denen sie mit ihrer Mutter Karten gespielt hatte, am großen Holztisch in der Küche. Warm war es dort immer gewesen, und in ihrer Erinnerung hatte stets der Duft nach frischem Hefeteig in der Luft gehangen. Ihre jüngere Schwester lachte noch einmal, unbeschwert, und ihre Mutter zog die grünen Vorhänge zu, damit die Dunkelheit draußen blieb und nichts ihr kleines Glück störte.
Die Straßenlaterne gegenüber ging mit einem Flackern an und tauchte die Umgebung in ein befremdendes Dämmerlicht, Neongrell versus verwaschenes Blaugrau. Sie zog ihre Beine dichter an sich heran und legte den Kopf auf die Knie. Leute eilten vorbei, allein, zu zweit untergehakt, lachend, redend; sie schloss ihre Augen.
Die Schaukel im Garten ihrer Nachbarn hatte ihre Schwester und sie im Sommer immer wie magisch angezogen. Die Aufhängung quietschte leise, als sie die Seile ungeachtet ihrer heiß und rot gescheurten Handflächen fester packte und sich kraftvoll nach vorne schwang. Sie genoss den angenehm kühlen Wind auf ihren bloßen Beinen, die weit in den endlos blauen Himmel ragten und von der Sonnencreme glänzten, von der Sonnencreme, die einfach selber schon nach Sommer roch.
Eine plötzliche Windböe trieb den Regen unter das Vordach und schlug ihr unzählige kalte Tropfen ins Gesicht. Für einen Moment öffnete sie die Augen, unwirsch, und registrierte kurz, dass ihre Kleidung fast vollständig durchnässt war. Der Jeansstoff legte sich klamm um ihren Körper, aber es störte sie nicht.
Sie blieb einfach so sitzen, zusammengekauert und in Gedanken versunken. Irgendwann hielt ein Zug an, in hell erleuchteten Rechtecken sah sie die Fahrgäste, wie sie in ihren Abteilen saßen und entweder in einer Zeitung blätterten, sich mit ihren Mitreisenden unterhielten oder einfach blicklos nach draußen starrten, ohne ihre durchnässte Gestalt dort auf der Wartebank wahrzunehmen.
Sie versuchte sich vorzustellen, ob ihre Schwester und später ihre Mutter ebenso in der klammen Dunkelheit gesessen hatten, ob sie ebenso die anderen Menschen betrachtet hatten, wie sie es jetzt tat. Ob ihnen auch so kalt gewesen war? ...
Allmählich glaubte sie zu verstehen, wie ihnen damals zu Mute gewesen sein musste. Unverstanden, und nicht verstehend. Verzweifelt, und so unendlich einsam.
Zum ersten Mal konnte sie jetzt nachvollziehen, was ihnen durch den Kopf gegangen sein musste, wie sie sich gefühlt haben mussten. Und sie spürte endlich auch wieder die innere Verbundenheit, die sie früher immer beruhigt hatte... sie waren sich wieder ganz nahe.
Mama. Elisabeth.
Mit vom langen Sitzen etwas steifen Beinen stand sie auf, strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und ging langsam auf den Schienen den sich nähernden beiden Lichtern zu.
(27.2.2006)