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Regentanz
Ein glitzernder Regentropfen fällt auf den Asphalt zu. In ihm brechen sich unzählige Farben, in deutlichen Abstufungen. Der Tropfen zerplatzt auf dem harten Stein, zersplittert in tausend Spritzer und glitzert als unscheinbares Nass auf der Straße.
Sonnes blonder Lockenkopf lehnt an der Fensterscheibe. Ich sehe ihren Rücken. Er hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen. Ihre kleinen Finger zeichnen langsame Formen auf die beschlagene Scheibe. Im Spiegelbild sehe ich, dass ihr Blick auf die Straße geht. Ich wende mich wieder meinem Buch zu.
„Du, Annelie?“ ich hebe den Kopf. „Du hast gesagt, Mama ist jetzt im Himmel.
“Ja Sonne. Mama ist jetzt im Himmel. Sie schaut auf dich runter und passt auf, dass dir nichts zustößt.“
Sonnes große blaue Augen mit den dichten Wimpern wandern nach oben und fragen den grauen Himmel: „Mama? Kannst du mich hören? Wann kommst du zurück!?“
Die Buchstaben vor meinen Augen verschwimmen. Sie werden dick. Und leer. Noch einmal zerrt der Knoten in meiner Brust. Ich hatte das nicht gewollt. Ich habe ihr Sorgen gemacht. Aber ich hatte nicht mehr, als meinen Papa zurückgewollt. Nun ist sie nicht mehr am Leben. Sie war in das Auto gestiegen und die Reifen schlitterten quietschend über die regennasse Straße. Die roten Rücklichter waren das letzte, was ich von ihr sah. Ich hatte hässliche Dinge zu ihr gesagt. Ich hatte ihr die Schuld zugeschoben, dass Papa weg ist. Nun ist auch sie weg.
„Annelie! Ich habe eine Idee!“ ruft Sonne mit einem mal laut. Ich schrecke zusammen und blicke auf. „Sie kann sich einfach zu einem Regentropfen machen und sich nach unten fallen lassen!“ Ich lege mein Buch zur Seite und setze mich mit angezogenen Beinen neben Sonne auf die breite Fensterbank. Sonnes Blick verfolgt aufmerksam die vereinzelt vom Himmel fallenden Regentropfen.
„Siehst du es nicht? Die Farben, Sonne, die Farben! Was glaubst du, wo sie herkommen? Jede Farbe, jedes Glitzern ist ein bisschen von Mama. Sie zeigt uns so, dass sie da ist!“ ich erschrecke vor meiner Stimme. Sie ist brüchig, leise, müde.
Sonnes Augen beginnen zu strahlen. Ihr kleiner Kindermund verzieht sich zu einem breiten Lachen. „Ich muss raus!“ ruft sie und springt auf. In Windeseile hat sie ihre Schuhe und ihre blaue Jacke angezogen. „Komm schon, Annelie! Lass uns Mama begrüßen! Sonst ist sie vielleicht böse auf uns!“ ruft sie und in ihrer Stimme ist perlendes Lachen. „Ich komme gleich nach. Ich muss noch ein wenig hier sitzen“ rufe ich ihr zu. Ich höre die Haustür ins Schloss fallen. Mit einem lauten Krachen, das mich zusammenfahren lässt. Es dauert keine halbe Minute und Sonne steht auf der Straße. Ihr kleines Gesicht ist dem Himmel zugewandt. Der Frühlingsregen wird etwas stärker. Sie breitet ihre Arme aus und lacht. Langsam beginnt sie sich im Kreis zu drehen. Ich muss lächeln. Auf meinem Gesicht regnet es auch. Immer schneller dreht Sonne sich. Mitten auf der Straße. Ihre Augen strahlen und stehen im Kontrast zu den grauen Wolken. Sonne springt in eine Pfütze, immer wieder und wieder. Glitzernde Wassersplitter werden in die Luft getrieben. Sonne öffnet ihren Mund und langsam fallen glitzernden Tropfen hinein. Prallen von ihren roten Lippen ab und landen zersplitternd in ihren Mund. Ich springe auf. Ich reiße meinen Mantel von der hölzernen Garderobe und schlüpfe in meine schwarzen Halbschuhe. Denn sie stehen an der Tür. Hinter mir kracht die Tür ins Schloss und ich renne durch den Regen, bis ich Sonne erreicht habe. Ich nehme sie auf den Arm und drehe mich mit ihr im Kreis, bis wir beide vor Lachen und Weinen keine Luft zum Atmen mehr haben. Sonne bleibt wieder stehen und reckt ihr Gesicht dem Himmel zu. „Sie spricht mit mir, Annelie! Kannst du sie auch hören?“
Ich bleibe stehen und nehme die Stille in mir auf. Der Regen und das Salzwasser laufen mir über das Gesicht, waschen mich. Jäh stoppt der Regen und die Sonne bricht zwischen den Wolken hervor.