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Regentraum

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02.04.2007
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Regentraum

Der Regen peitschte dichte Nebelschwaden vor sich her.
Im Schutze der Dunkelheit saß sie. Neben ihr rüttelte der Wind an den Bäumen und riss Äste mit sich. Der Sturm nahm an Stärke zu.
Trotzdem blieb sie sitzen. Sie hatte nichts zu verlieren. Selbst wenn einer der mächtigen Baumriesen mit einem letzten Ächzen auf sie niederstürzen würde – es wäre ihr egal. Mit einem mulmigen Gefühl blickte sie an den beeindruckenden, dicken Baumstämmen hinauf, bis in die sich wiegenden Baumwipfel, die gefährlich von links nach rechts schwankten.
An einem der atemberaubenden Baumstämme lehnte sie. Sie fühlte schon längst nicht mehr, wie kalt es hier draußen eigentlich war. Die Kälte des Windes, der stechende Frost... er schien ihren Körper schon längst ergriffen zu haben. Als sie ihre Hand hob und sich durch ihr blondes, zerzaustes Haar strich, spürte sie keine einzige der Strähnen. Ihre Finger waren völlig taub.
Eigentlich wollte sie hinabsehen auf diese blutleeren Finger, die einst ihr gehört hatten und von denen nun die Kälte Besitz ergriffen hatte. Aber sie besaß nicht einmal genug Energie dafür, ihren Kopf zu senken und ihre Augen zu öffnen.
An ihren Wangen vermischten sich salzige Tränen mit dem peitschenden Regentropfen. Sie perlten auf die sowieso schon völlig durchnässte Jeans, die an ihren genauso tauben Beinen klebte. Bis auf ihren Kopf, der schwer an der rauen Baumrinde lehnte, schien alles von der Kälte ergriffen zu sein. Und selbst ihr Kopf...
Er war so schwer und schien sich mit dem durchdringenden, peitschenden Regen voll zu saugen und ihre Gedanken zu überschwemmen. Ihre letzten Gefühle ertranken in dem See, der sich in ihrem Kopf ausbreitete.
Sie wollte ihren Mund aufmachen und noch ein einziges Mal den Namen aussprechen, den sie bis jetzt immer gesprochen oder geflüstert hatte, wenn ihre Stimmung am absoluten Nullpunkt angekommen war. Doch sie hatte den Nullpunkt bei Weitem überschritten.
Wenn sie versuchte zu schlafen, dann träumte sie seinen Namen.
Wenn sie versuchte stark zu sein, dann dachte sie an seinen Namen.
Und wenn sie versuchte zu überleben, dann schrie sie diesen Namen heraus.
Und jetzt, wo ihre letzte Minute verrann wie der Regen in ihrem verfilzten Haar, jetzt wollte sie diesen Namen noch einmal sagen. Vielleicht war auch er es gewesen, der sie hier hinaus in die eisige Kälte getrieben hatte. Vielleicht war dieser Name daran schuld; dieser Mensch, der hinter diesem Namen steckte. Aber das wollte sie nicht wahrhaben. Nicht jetzt.
Wohl kaum war er daran schuld. Denn dieser Mensch... er hatte sie von all dem hier retten wollen. Vielleicht wäre sie ohne ihn schon längst einmal hier gesessen und hätte auf den kalten Tod gewartet. Vielleicht.
Du musst den Namen sagen, dachte sie mit letzter Kraft, bevor die Kälte auch diesen Gedanken eineiste. Welcher Name? Wie war sein Name?
Innerlich sackte sie in sich zusammen, aber äußerlich konnte sie nicht – sie war an der Rinde des Baumriesen festgefroren. Ihre Jacke war an dem mächtigen Gewächs angewachsen.
Der Baum hinter ihr knarrte.
Fantasierte sie? Oder rief der Baum ihren Namen?
Die Rinde, die ihre Jacke festzuhalten schien, rief ihren Namen. Wie konnte das sein? Der Baumwipfel, der sich unter den heftigen Windstößen hin und her bog, schien ihren Namen voller Angst zu kreischen. Wieso tat er das? Und die brechenden Äste, die unter dem prasselnden Regen nachgeben wollten, flüsterten ihren Namen im Kampf gegen den rüttelnden Wind. Wieso gerade ihren Namen?
Wieso rief der Baum sie?
„Anny....“
Sie wollte den Kopf heben, aber ihr heruntergesacktes Kinn war sich wahrscheinlich ebenfalls an der Jacke festgefroren. Sie konnte ihn nicht heben.
Der See aus Regen und Kälte in ihrem Gehirn schwappte unaufhörlich weiter. Es war eine Flutkatastrophe. Eine Flutkatastrophe in ihrem Hirn.
Aber eine Katastrophe war es doch schon längst. Ihr ganzes Leben war eine. Hier wollte sie sterben, eingelullt von der Kälte. Sie wollte ihrem Leben entfliehen, sie wollte ihre Gedanken eineisen und ihre Gefühle ertränken.
Anscheinend schaffte sie es. Ihr fiel ja schon der Name nicht mehr ein, der sie zuletzt hier her getrieben hatte. Sie wusste nur noch verschwommen die Geschichte um diesen Namen, ihre unendliche Sehnsucht nach Liebe und Berührung.
Und jetzt saß sie hier und spürte nicht mehr die raue Berührung einer Baumrinde an ihrer festgefrorenen Jacke. Sie konnte das kalte Wasser nicht mehr fühlen, das an ihren Schläfen hinab lief. Warum sollte sie es auch noch fühlen? Es war unwichtig geworden.
„Anny....“
Der Baum rief sie. Wie sonderbar. Vielleicht rief er sie in das Reich des Todes.
„Anny....“
Lauter. Stärker. Kraftvoller. Sie wunderte sich. Ein Baum, der sie dahin brachte, wo sie hinwollte? Wie seltsam. Aber bestimmt hatte alles seinen Sinn.
„Anny.... Anny... Anny...“
Das war doch ihr Name. Wer rief ihren Namen? Sie konnte sich nicht regen. Gerade jetzt, wo auch noch die letzten Hirnwindungen von dem Regenwasser überschwemmt zu werden schienen, jetzt sollte sie die Kraft dazu aufbringen, sich zu regen? Nein. Das brachte sie nicht fertig. Sie blieb dort sitzen, ohne jegliche Energie, und lauschte ihrem eigenen Namen.
„Anny...“
Ja, das war ihr Name. Aber die Stimme kam nicht von irgendeinem Baum, der sich hier im eisigen Wind schüttelte. Sie kam von Eric. Der Name durchzuckte ihr Gehirn wie ein Blitz und das dort aufgestaute Wasser schwappte mit einem Male wieder heraus. Anny riss ihre zusammengeklebten Augen auf und starrte vor sich. Nichts als grausige, angstmachende Dunkelheit. Und das vor ihr, neben ihr, über ihr – überall. Sollte sie die Augen nicht wieder schließen und sich zurücklehnen? Wieso nicht?
„Anny...“
Nein, sie konnte doch nicht träumen!
Oder doch. Ein letzter Traum, bevor der Tod sie holte?
Sie wollte ihre Arme heben und sich hochstemmen, aber ihre Finger waren an ihrer Jeans festgefroren. Sie wollte rufen, aber ihre Lippen klebten aufeinander und waren so taub, dass sie sich nicht mehr aus reiner Willenskraft bewegten.
„Anny...“
Der Wind verschluckte die Stimme fast und zum ersten Mal verfluchte Anny diese furchtbare Kälte und diesen rauschenden Wind.
„.... ja.... “
Ihre Lippen hatten sich bewegt. Der Laut jedoch, der über ihre Lippen gekommen war, war nicht mehr als ein heiseres Krächzen gewesen.
„.... ja.... “
Noch ein Versuch. Es verbrauchte ihre letzte Kraft, die Lippen aufzustemmen. Jetzt konnte sie nicht mehr. Sie spürte, wie der Regen wieder ihr Gehirn eroberte und alles ertränkte. Nein, dachte sie noch, aber da war es schon zu spät.
Eric, dachte sie. „Eric, Eric“, flüsterte sie. „Eric...“, es war ein Hauchen. „Eric.“ Ihre Stimme klang fester und robuster. „ERIC!“
Es war ein greller Schrei, zwar verschluckt durch prasselnden Regen und peitschende Winde, aber er kam an.
„Anny? Anny! Mein Gott, Anny!“
Ein Schatten bewegte sich auf sie zu. Anny konnte es durch die halb geöffneten Augenlider sehen. Da war er. Eric. Wieso um Himmels Willen, war Eric um diese Zeit in diesem Wald bei diesem Wetter?
Sie spürte einen leichten Hauch von Berührung und sie versuchte, die Augen offen zu halten.
Es konnte nur Fantasie sein. Im Leben würde dieser Eric niemals die Arme um sie schlingen. Er schlang die Arme um supertolle Mädchen, die ihn mit einem betörenden Lächeln verschlangen. Aber nicht um sie, ein halb eingefrorenes Mädchen im Wald um Mitternacht. Nein, ganz festgefroren.
„Anny, mein Gott, Anny...“
Anny wünschte sich, dass er etwas anderes flüsterte. Wenn es doch bloß ein harmloser Traum war, dann konnte er doch auch etwas viel Schöneres flüstern. Etwas, mit dem sie dann ruhigen Gewissens sterben konnte. Aber nein, er flüsterte immer wieder nur ihren Namen.
Es knackte, als er versuchte, sie von der Baumrinde loszureißen. Die Jacke zerriss und ein paar Stofffetzen blieben an der Rinde hängen. „Komm, komm schon. Sieh mir in die Augen, Anny.“
Sie versuchte es mit aller Kraft, aber er verschwamm. Sein wunderbares Gesicht mit diesen glitzernd blauen Augen und der schmalen Nase verschwamm hilflos. Was war das hier eigentlich für ein dämlicher Traum? Sie wollte nicht nur ein verschwommenes Bild von ihm in ihrer Erinnerung behalten.
„Anny, verdammt.... schau mich an!“ Seine Stimme klang rau voller Angst und sie blinzelte. Ja, schon besser. Schon ein viel klareres Bild.
„Ich schaffe dich hier raus. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Hörst du mich, Anny?“
Ja, das klang doch schon viel besser. Wie in einem der guten alten Happy-End-Filme. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann...
„Anny, denk an mich. Und bleib wach. Du bist völlig steif gefroren.“
Solche gehässigen Komplimente konnte er sich sparen! Sie wollte gerettet und von ihm zärtlich umsorgt werden, das war das Beste, bevor sie hier erfror.
Ihr verschwommener Blick fiel auf sein Armband, das um sein Handgelenk gebunden war. Ein schlichtes, schwarzes Lederarmband, welches ihm eine der vielen Tussen in seinem Leben geschenkt hatte. Der Knoten daran war locker. Sie wollte ihm sagen, dass er gleich sein Lieblingsarmband verlieren würde, aber sie hatte keine Kraft mehr dazu.
Es fiel zu Boden, vor ihre Füße.
„Anny... ich liebe dich.“
DAS, genau das hatte sie hören wollen. Jetzt war ihr alles andere egal. Sie konnte sterben.
„Eric.“, flüsterte sie. „Ich.... dich auch...“
„Geh nicht.“
„Ich… werde….“
Anny wunderte sich über ihre unheimliche Kraft. Sie hatte viel gesprochen und sank nun erschöpft in sich zusammen. Ihr Rücken schien wieder an der Baumrinde festzufrieren.
„Anny...“
Die Stimme entfernte sich. Oder war es der zunehmende Sturm, der sie verschluckte?
„Anny...“
Hatte das Prasseln und Peitschen des Regens zugenommen?
Nein. Es war ein Traum gewesen. Ein wunderschöner Traum. Jetzt kam der Tod.
„Anny...“
Sie wollte ein „Nein!“ rufen, aber sie konnte nicht. Sie war kraftlos.
Sie schloss die Augen. Der Nebel übernahm ihr Gehirn wieder, der Regen spülte Gedanken und Gefühle davon. Innerhalb ein paar Minuten sank sie völlig in sich zusammen. Jetzt, jetzt war es so weit. Sie fühlte es, wie die Flutkatastrophe endlich zum Ende kam.
Als sie starb, glitzerten auf ihren blassen Wangen eisige Tränen.
Und vor ihren Füßen lag ein schwarzes Lederarmband.

 
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Hallo Shelly,

und herzlich Willkommen auf kurzgeschichten.de :)

Also das hier ist meine erste Geschichte:
Danke fürs Lesen!
Solche Zusatzinformationen bitte immer in ein Extra-Posting nach (unter) der Geschichte.

Eine Frau im Wald, bei Sturm, Kälte und dem sich langsam einstellenden Erfrierungstod, sie scheint verlassen worden zu sein, wegen Liebeskummer sich zurückgezogen zu haben.
Die kriechende lähmende Kälte bringst Du schon recht gut zum Ausdruck, auch wenn nicht jedes Bild passt und sitzt, sprachlich ist Dein Erstling ordentlich und erinnert thematisch fast an ein trauriges Märchen. Schliesslich nimmt Eric am Ende in ihren Gedanken Abschied von ihr, hinterlässt ein, sein Zeichen und sie kann sterben.

Sie wollte ihren Mund aufmachen und noch ein einzigstes Mal den Namen aussprechen,
einziges
Du musst den Namen sagen.,
kein Punkt
sie war an der Rinde des Baumriesen festgefroren. Ihre Jacke war mit diesem mächtigen Gewächs verschmolzen.
etwas das festfriert kann nicht verschmelzen, aber z.B. anwachsen, sich nicht mehr lösen...
Und die brechenden Äste, die unter dem prasselnden Regen nachgeben wollten, flüsterten ihren Namen im Todeskampf.
im Todeskampf ist ein etwas zu großes Bild für einen sich lösenden Ast. "...im Kampf gegen die Gewalten" beispielsweise wäre treffender
aber ihr heruntergesacktes Kinn hatte sich wahrscheinlich ebenfalls an der Jacke festgefroren.
besser : war wahrscheinlich ebenfalls, schliesslich ist es keine willentliche, aktive Entscheidung ihres Kinns
Eric., dachte sie. „Eric, Eric.“, flüsterte sie. „Eric....“, es war ein Hauchen. „Eric.“
wenn Du Gedanken oder wörtliche Rede einschiebst, dann kein Punkt, sondern nur ein Komma : 'Eric, dachte sie', '"Eric...", hauchte sie'

Grüße,
C. Seltsem

 

Dankeschön für deine Kritik, ich hab es auch geändert!

LG Shelly

 

Hi Shelly

Der Eingangssatz ist gut, gefällt mir. Danach schreibst du öfters "Sie", besonders am Satzanfang wiederholt, das könnte man schwungvoller gestallten. Die Ereignisse müssen ineinander übergleiten.

Er war so schwer. Er schien sich mit dem durchdringenden, peitschenden Regen voll zu saugen und ihre Gedanken zu überschwemmen.
hier soll die Anapher vielleicht den Satzausdruck verstärken, aber ich rate doch dazu, aus den 2 Sätzen hier einen zu machen und mit einem Bindewort zu schreiben, und die Wortwiederholung von er zu vermeiden.

Du hast sehr viele "Sie dachte, machte, tat", das ist etwas unschön. Versuch einfach mal, das etwas anders zu schreiben, mit anderen Wörtern. Vielleicht das, was passiert, nicht zu direkt zu beschreiben, sondern es einfach passieren zu lassen.

Ansonsten ganz gut, weiter so!


lieben Gruß

 

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