Regentropfen
Sie saß da und spürte, wie die Sonne ihr Gesicht wärmte und eine leichte, aber frischer werdende Brise sich in ihren dünnen Haaren verfing. Sie fühlte die harte, knorrige Rinde des Baumes an den sie sich angelehnt hatte. »Verrat...« dieses eine Wort ging ihr durch den Kopf – doch fast im gleichen Augenblick glitten ihre Gedanken schon wieder in das Dickicht ihrer Tagträume, das sich immer mehr in ihrem Kopf ausbreitete. Irgendwann rappelte sie sich mühsam hoch und machte sich schwer auf die Krücken gestützt, auf den Weg zu ihrer kleinen Wohnung.
Der Weg kam ihr heute endlos vor. Auf einer Parkbank ruhte sie ein klein wenig aus. »Verrat...«. Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken doch so recht gelang es ihr nicht.
Der letzte Tag in diesem Park und es fing an zu regnen. Ganz plötzlich regnete es, als ob der Himmel versuchte, ihre Tränen zu weinen. Jeder Tropfen, der ihre Stirn berührte, erinnerte sie an einen Traum. Träume, die zerplatzten wie die Regentropfen auf ihrer Stirn. Platsch: Lernen, mehr als das, was die Schule damals bieten konnte ... Plitsch: die eine Liebe... Platsch: ihre Kinder... viele Tropfen fielen auf Ihre Stirn. Der Regen bahnte sich seinen Weg über ihr Gesicht.
Langsam stand sie auf und nahm die Gefährten der letzten Jahre beinahe liebevoll in die Hände: ihre Krücken, die ihr mehr waren als Gehhilfen. Diese Krücken hatten sie nie verlassen, nie im Stich gelassen. Sie setzte ihren Weg nach Hause fort. Ein letztes Mal ging sie hier entlang. Ein letztes Mal schaute sie an dem alten Gebäude hoch, in dem sie seit 50 Jahren lebte. Ihr Zuhause. Sie kletterte mühsam die ausgetretenen Holzstufen hinauf bis in das 2. Stockwerk.
Dann stand sie in ihrem Wohnzimmer und schaute sich um. Was sollte sie mitnehmen? Alles, was ihr all die Jahre so lieb geworden war, hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Ihr Blick fiel auf ein Glas. Ein Glas mit zarten, transparenten Blumen bemalt und einem silbrigglänzenden Schraubdeckel. Sie nahm das Glas aus dem Schrank und humpelte auf den Balkon. Es regnete noch immer. Sie schraubte das Glas auf und hielt es in den Regen: platsch, plitsch, platsch... Dann ging sie wieder in ihr Wohnzimmer und setzte sich in den Ohrensessel mit dem abgewetzten, dunkelroten Samtbezug. In den Händen hielt sie das Glas mit den Regentropfen.
So saß sie da, bis die Dämmerung kam und das unvermeidliche Läuten an der Tür. Sie rappelte sich schwerfällig auf, stellte das Glas auf ein Tischchen und humpelte zur Tür, um ihrem Sohn zu öffnen. Er kam in die Wohnung, sah an ihr vorbei und fragte nur: "fertig?" Sie nickte stumm, humpelte zu dem Tischchen und nahm das Glas in die Hand. "Ja, ich bin soweit." "Gut, dann kann es ja losgehen. Soll ein nettes Heim sein", sagte ihr Sohn und drehte sich schon wieder zur Tür um. Dann stutzte er und fragte sie, was sie denn mit dem alten Glas wolle. Sie sagte: "Mit dem Glas? Oh, das Glas ist unwichtig. Wichtig ist mir nur jeder einzelne Tropfen darin..."
[Beitrag editiert von: MiBo am 17.02.2002 um 15:55]