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Regentropfen

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15.02.2002
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Regentropfen

Sie saß da und spürte, wie die Sonne ihr Gesicht wärmte und eine leichte, aber frischer werdende Brise sich in ihren dünnen Haaren verfing. Sie fühlte die harte, knorrige Rinde des Baumes an den sie sich angelehnt hatte. »Verrat...« dieses eine Wort ging ihr durch den Kopf – doch fast im gleichen Augenblick glitten ihre Gedanken schon wieder in das Dickicht ihrer Tagträume, das sich immer mehr in ihrem Kopf ausbreitete. Irgendwann rappelte sie sich mühsam hoch und machte sich schwer auf die Krücken gestützt, auf den Weg zu ihrer kleinen Wohnung.

Der Weg kam ihr heute endlos vor. Auf einer Parkbank ruhte sie ein klein wenig aus. »Verrat...«. Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken doch so recht gelang es ihr nicht.

Der letzte Tag in diesem Park und es fing an zu regnen. Ganz plötzlich regnete es, als ob der Himmel versuchte, ihre Tränen zu weinen. Jeder Tropfen, der ihre Stirn berührte, erinnerte sie an einen Traum. Träume, die zerplatzten wie die Regentropfen auf ihrer Stirn. Platsch: Lernen, mehr als das, was die Schule damals bieten konnte ... Plitsch: die eine Liebe... Platsch: ihre Kinder... viele Tropfen fielen auf Ihre Stirn. Der Regen bahnte sich seinen Weg über ihr Gesicht.

Langsam stand sie auf und nahm die Gefährten der letzten Jahre beinahe liebevoll in die Hände: ihre Krücken, die ihr mehr waren als Gehhilfen. Diese Krücken hatten sie nie verlassen, nie im Stich gelassen. Sie setzte ihren Weg nach Hause fort. Ein letztes Mal ging sie hier entlang. Ein letztes Mal schaute sie an dem alten Gebäude hoch, in dem sie seit 50 Jahren lebte. Ihr Zuhause. Sie kletterte mühsam die ausgetretenen Holzstufen hinauf bis in das 2. Stockwerk.

Dann stand sie in ihrem Wohnzimmer und schaute sich um. Was sollte sie mitnehmen? Alles, was ihr all die Jahre so lieb geworden war, hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Ihr Blick fiel auf ein Glas. Ein Glas mit zarten, transparenten Blumen bemalt und einem silbrigglänzenden Schraubdeckel. Sie nahm das Glas aus dem Schrank und humpelte auf den Balkon. Es regnete noch immer. Sie schraubte das Glas auf und hielt es in den Regen: platsch, plitsch, platsch... Dann ging sie wieder in ihr Wohnzimmer und setzte sich in den Ohrensessel mit dem abgewetzten, dunkelroten Samtbezug. In den Händen hielt sie das Glas mit den Regentropfen.

So saß sie da, bis die Dämmerung kam und das unvermeidliche Läuten an der Tür. Sie rappelte sich schwerfällig auf, stellte das Glas auf ein Tischchen und humpelte zur Tür, um ihrem Sohn zu öffnen. Er kam in die Wohnung, sah an ihr vorbei und fragte nur: "fertig?" Sie nickte stumm, humpelte zu dem Tischchen und nahm das Glas in die Hand. "Ja, ich bin soweit." "Gut, dann kann es ja losgehen. Soll ein nettes Heim sein", sagte ihr Sohn und drehte sich schon wieder zur Tür um. Dann stutzte er und fragte sie, was sie denn mit dem alten Glas wolle. Sie sagte: "Mit dem Glas? Oh, das Glas ist unwichtig. Wichtig ist mir nur jeder einzelne Tropfen darin..."

[Beitrag editiert von: MiBo am 17.02.2002 um 15:55]

 

Hi MiBo und herzlich willkommen bei kg.de. Du eröffnest mit einer Geschichte, die ich sehr schön finde. Oft ist es ja so, dass die Pointe des Textes irgendwie klar herauskommt oder mindestens die Richtung klar wird. Das ist bei deiner Geschichte nicht so. Bis zur Ankunft des Sohnes steht alles offen. Deine Formulierungen finde ich sehr schön. Die Regentropfen als "Träume" finde ich von der Idee her gut gewählt. Also, großes Lob von mir :thumbsup:
Neben zwei kleinen Rechtschreibfehlern, die mir aufgefallen sind

Diese Krücken haben sie nie verlassen, nie im Stich gelassen. Sie setzte ihren Weg Nachhause fort.

("hatten", und "nach Hause")

habe ich eine Stelle gefunden, die mir etwas seltsam vorkam.

Und kurz bevor sie wieder in ihre Tagträume abdriften konnte, ging ihr etwas durch den Kopf: »Verrat...«. Just in dem Augenblick glitten ihre Gedanken wieder in das Dickicht aus Chaos ab, das sich jeden Tag in ihrem Kopf mehr ausbreitete.

Der Anschluss mit "Just in dem Augenblick glitten ihre Gedanken (...) ab" finde ich irgendwie unpassend. Du sagtest doch vorher schon, "kurz bevor sie wieder in ihre Tagträume abdriften konnte". Also irgendwie wiederholt sich das. Ich würde mit "Dann" anschließen. Naja, vielleicht passt auch das andere besser, ist halt so mein Gefühl.

Nundenn, ich wünsche dir auf jeden Fall weiter viel Spaß auf kg.de.
Bis denne

Frederik ;)

-carpe diem-

 

Hi MiBo!
mir hat Deine Geschichte gut gefallen. Du fängst die Stimmung gut ein, versetzt Dich hinein.
Ich denke aber, an einigen Stellen könntest Du die Formulierungen noch ausfeilen.

in das Dickicht aus Chaos
das kann ich mir nicht gut vorstellen. Chaos ist durcheinander, und Dickicht ineinander verwoben. Aber irgendwie kriege ich das nicht zusammen ... mag ja an mir liegen.. :shy:

dann noch ein paar Stellen, an denen die Wortwahl meiner Meinung nach nicht geglückt ist:

ihre Krücken .... ihrer kleinen Wohnung
- 2 mal "ihre".. ich denke, Du wolltest den persönlichen Bezug der Person zu den Dingen zeigen.. mir wirkt das aber etwas viel.

Ganz plötzlich regnete es, als ob der Himmel versuchen würde, ihre Tränen zu weinen.
DEN Satz finde ich ganz besonders gelungen! Respekt. mir ist nur eine Kleinigkeit aufgefallen: es müßte - denke ich doch - heißen: als ob der Himmel versuchte.


so genug genörgelt und Erbsen gezählt... Den Nach-Hauses-Geh-Teil finde ich wirklich gut. Und den Teil mit Warten und Abholen auch.
Insgesamt ist mir aufgefallen, daß Du mit unheimlich vielen Verben arbeitst. Das zeigt Bewegung, obwohl sie sich ja nur langsam bewegt oder kaum.
ich hoffe, Du nimmst mir meine Anmerkungen nicht krumm. Ich bin - vor allem bei anderen ;) - sehr genau mit sowas.
Als Gegenleistung biete ich eine breit Angriffsfläche mit meinen eigenen Sachen.

lieben Gruß und viel Spaß beim Weiterschreiben,

arc

 

Moin Frederik und arc,

danke für Eure Kritik - da werd ich doch mal das ein oder andere ändern ;-).

Schönen Sonntag noch!

MiBo

 

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