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Regenzeiten
Mit einem Klick fällt die Haustür hinter mir ins Schloss. In der Luft liegt Stille und der Geruch von Regen. Ich müsste nur einmal auf die Klingel drücken, um wieder reingelassen zu werden. Aber das wäre gegen die Regeln. Was ist, willst du nicht spielen gehen, ja, genau jetzt, hat die Mona Lisa gefragt und schon im Vorraus gelächelt, weil es auf die Frage nur eine Antwort gibt.
Das Dorf ist leer, es schwimmt auf der Welt wie eine einsame Insel. Die Leute sind alle im Himmel und streichen ihn mit grauer Farbe an. Seit gestern regnet es nicht mehr. Die Wolken haben sich über dem Dorf versammelt und beraten über die Frage, wie man sich neues Wasser verschaffen kann. Vorsichtig setze ich den Fuß in die Pfützen, um herauszufinden, wie tief sie sind und ob man darin schwimmen könnte.
Ich laufe zur Kirche. Die Kirche ist das wichtigste Gebäude im Dorf, weil die Turmspitze verhindert, dass der Himmel auf die Dächer fällt. Der große Zeiger der Kirchturmuhr deutet auf den kleinen Friedhof, der gleich daneben liegt. So müssen die alten Leute, die noch in die Kirche gehen, nicht mehr weit laufen, um zu sterben.
Ich steige auf die kleine Mauer, von der man den Friedhof überblicken kann und sehe zu, wie den Bäumen wieder Blätter wachsen. Es ist zu spät, denke ich, es wird schon wieder wärmer. Noch vor einem Monat waren sie nackt, jetzt haben sie Blätter und kleine Vögel an den Ästen. Die Vögel schreien oder singen und die Blätter rascheln, wenn der Wind dagegenstößt. Auf dem Friedhof ist auch niemand, nur die Kreuze und Steine, die sich aus der Erde strecken und verhindern, dass die Toten übersehen werden. Wie die kleinen Fähnchen auf dem Golfplatz verhindern, dass man das Ziel nicht sieht. Wenn sie zuhause wieder schreien oder singen, ist das hier der beste Platz im Dorf, wegen der Ruhe und weil sich nichts verändert.
Weil mich niemand sieht, stehe ich auf und balanciere mit geschlossenen Augen auf der Mauer entlang, bis ich das Gleichgewicht verliere und runterfalle. Das Gras ist weich und mit einem dicken Anorak ist es noch weicher. Ich stehe auf und klopfe den Schlamm von den Kleidern. Das Wasser läuft an den Hosenfalten herab wie an einer Wendeltreppe, direkt in die roten Gummistiefel.
Ich mache mich auf den Rückweg. Man kann nicht sagen, wie lange sie brauchen, aber oft kann man hören, ob sie schon fertig sind. Schon am Gartentor sind zu hören: Posaunen und Geigen und ein Klavier und Paukenschläge. Man öffnet mir die Tür, vor mir steht die Mona Lisa. Sie lächelt und sagt: schlechtes Wetter. In einer Stunde essen wir. Jetzt sehe ich auch, dass es geregnet hat. Aber nur ganz leicht und auch nur unter den Augen der Mona Lisa.
Durch die Wohnzimmertür dröhnt ein Trompetensolo. Der Vater folgt der Melodie, indem er mit der Bierflasche an die Tischkante klopft. Ich gehe in mein Zimmer. Das Zimmer ist klein und vollgestopft wie ein Vorratslager für eine ungewisse Zeitspanne. Da, wo der Kalender hing, ist jetzt eine leere Stelle an der Wand. Ich musste ihn abnehmen, der Kalender hat gelogen. Er redet von Frühling, während ich die Eisblumen vom Fenster schabe und zu den anderen in den Schuhkarton lege. Die Mona Lisa ist auch der Meinung, dass die Wahrheit wichtig ist. Dann lächelt sie und hinter dem Lächeln weiß sie, dass der Vater nicht die Wahrheit sagt.
Draußen beginnt es zu regnen. Erst nur wenig, dann immer mehr. Ich höre auf, die Tropfen zu zählen. Es sind zuviele. Ich bin mir sicher, dass es dem Vater trotzdem gelungen wäre, heute natürlich nicht mehr, aber früher. Früher, lacht die Mona Lisa und die Augen lachen nicht mit. Der Blick aus dem Fenster zeigt den kleinen bewaldeten Hügel, der wie ein Fehler aus dem Boden ragt. Jeden Abend rutscht die Nacht den Hang hinunter und verschluckt das Dorf.
Dann drücke ich die Spitzen meiner Finger an das abgekühlte Glas und versuche mir vorzustellen, was draußen passiert, während es dunkel ist. Weil man dann nichts sieht, muss man sich ganz auf sein Gehör verlassen. Man hört die aufgeregte Stimme der Mona Lisa und selten auch den Vater. Meist sagt der Vater nichts, er sitzt nur da, klickt mit den Bierflaschen und zieht die Augenbrauen zusammen wie der Himmel seine Wolken. Manchmal höre ich das Klicken, obwohl gar niemand da ist. Die Mona Lisa lächelt und sagt, es wäre nur in meinem Kopf.