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Regenzeiten

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15.02.2003
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Regenzeiten

Mit einem Klick fällt die Haustür hinter mir ins Schloss. In der Luft liegt Stille und der Geruch von Regen. Ich müsste nur einmal auf die Klingel drücken, um wieder reingelassen zu werden. Aber das wäre gegen die Regeln. Was ist, willst du nicht spielen gehen, ja, genau jetzt, hat die Mona Lisa gefragt und schon im Vorraus gelächelt, weil es auf die Frage nur eine Antwort gibt.

Das Dorf ist leer, es schwimmt auf der Welt wie eine einsame Insel. Die Leute sind alle im Himmel und streichen ihn mit grauer Farbe an. Seit gestern regnet es nicht mehr. Die Wolken haben sich über dem Dorf versammelt und beraten über die Frage, wie man sich neues Wasser verschaffen kann. Vorsichtig setze ich den Fuß in die Pfützen, um herauszufinden, wie tief sie sind und ob man darin schwimmen könnte.

Ich laufe zur Kirche. Die Kirche ist das wichtigste Gebäude im Dorf, weil die Turmspitze verhindert, dass der Himmel auf die Dächer fällt. Der große Zeiger der Kirchturmuhr deutet auf den kleinen Friedhof, der gleich daneben liegt. So müssen die alten Leute, die noch in die Kirche gehen, nicht mehr weit laufen, um zu sterben.

Ich steige auf die kleine Mauer, von der man den Friedhof überblicken kann und sehe zu, wie den Bäumen wieder Blätter wachsen. Es ist zu spät, denke ich, es wird schon wieder wärmer. Noch vor einem Monat waren sie nackt, jetzt haben sie Blätter und kleine Vögel an den Ästen. Die Vögel schreien oder singen und die Blätter rascheln, wenn der Wind dagegenstößt. Auf dem Friedhof ist auch niemand, nur die Kreuze und Steine, die sich aus der Erde strecken und verhindern, dass die Toten übersehen werden. Wie die kleinen Fähnchen auf dem Golfplatz verhindern, dass man das Ziel nicht sieht. Wenn sie zuhause wieder schreien oder singen, ist das hier der beste Platz im Dorf, wegen der Ruhe und weil sich nichts verändert.

Weil mich niemand sieht, stehe ich auf und balanciere mit geschlossenen Augen auf der Mauer entlang, bis ich das Gleichgewicht verliere und runterfalle. Das Gras ist weich und mit einem dicken Anorak ist es noch weicher. Ich stehe auf und klopfe den Schlamm von den Kleidern. Das Wasser läuft an den Hosenfalten herab wie an einer Wendeltreppe, direkt in die roten Gummistiefel.

Ich mache mich auf den Rückweg. Man kann nicht sagen, wie lange sie brauchen, aber oft kann man hören, ob sie schon fertig sind. Schon am Gartentor sind zu hören: Posaunen und Geigen und ein Klavier und Paukenschläge. Man öffnet mir die Tür, vor mir steht die Mona Lisa. Sie lächelt und sagt: schlechtes Wetter. In einer Stunde essen wir. Jetzt sehe ich auch, dass es geregnet hat. Aber nur ganz leicht und auch nur unter den Augen der Mona Lisa.

Durch die Wohnzimmertür dröhnt ein Trompetensolo. Der Vater folgt der Melodie, indem er mit der Bierflasche an die Tischkante klopft. Ich gehe in mein Zimmer. Das Zimmer ist klein und vollgestopft wie ein Vorratslager für eine ungewisse Zeitspanne. Da, wo der Kalender hing, ist jetzt eine leere Stelle an der Wand. Ich musste ihn abnehmen, der Kalender hat gelogen. Er redet von Frühling, während ich die Eisblumen vom Fenster schabe und zu den anderen in den Schuhkarton lege. Die Mona Lisa ist auch der Meinung, dass die Wahrheit wichtig ist. Dann lächelt sie und hinter dem Lächeln weiß sie, dass der Vater nicht die Wahrheit sagt.

Draußen beginnt es zu regnen. Erst nur wenig, dann immer mehr. Ich höre auf, die Tropfen zu zählen. Es sind zuviele. Ich bin mir sicher, dass es dem Vater trotzdem gelungen wäre, heute natürlich nicht mehr, aber früher. Früher, lacht die Mona Lisa und die Augen lachen nicht mit. Der Blick aus dem Fenster zeigt den kleinen bewaldeten Hügel, der wie ein Fehler aus dem Boden ragt. Jeden Abend rutscht die Nacht den Hang hinunter und verschluckt das Dorf.

Dann drücke ich die Spitzen meiner Finger an das abgekühlte Glas und versuche mir vorzustellen, was draußen passiert, während es dunkel ist. Weil man dann nichts sieht, muss man sich ganz auf sein Gehör verlassen. Man hört die aufgeregte Stimme der Mona Lisa und selten auch den Vater. Meist sagt der Vater nichts, er sitzt nur da, klickt mit den Bierflaschen und zieht die Augenbrauen zusammen wie der Himmel seine Wolken. Manchmal höre ich das Klicken, obwohl gar niemand da ist. Die Mona Lisa lächelt und sagt, es wäre nur in meinem Kopf.

 

hi wolkenkind,

tja, was soll ich zu dieser geschichte sagen.
ich fang mal so an:

ich habe die geschichte ein zweites mal gelesen. ich musste es tun, weil ich dachte, dass ich beim ersten mal etwas überlesen habe.

mein erster eindruck war, dass die szenerie und sprache mich an alice im wunderland erinnert. ein kind, das seine umwelt mit seine phantasie mischt.

mein zweiter gedanke war ... was ist intention und leitgedanke? was geht ab in dieser geschichte? worum geht es? (und wie oft muss ich es noch lesen, um zu verstehen, worum es geht?)
das einzige was du dem leser gibst, sind andeutungen,
tja - dann wurde es mir auf einmal klar klar. es geht um das erleben und phantasieren des elternstreits bei einem kind.

Dann lächelt sie und hinter dem Lächeln weiß sie, dass der Vater nicht die Wahrheit sagt.
und
Ich bin mir sicher, dass es dem Vater trotzdem gelungen wäre, heute natürlich nicht mehr, aber früher.
und
Man hört die aufgeregte Stimme der Mona Lisa und selten auch den Vater. Meist sagt der Vater nichts,
hier geht es offensichtlich um ein familiäres problem, deshalb wird die kleine mit einem höflichen aufgequälten lächeln "spielen" geschickt. dann kommen die pauken und trompeten - das donnerwetter, der streit.
das kind muss sich weit entfernen, um dieses "musikkonzert" nicht mehr zuhören!
genial, die mutter als mona lisa zu bezeichnen - berühmt für ihr ausdrucksloses lächeln.

fazit: es lohnt sich hier unbedingt, die geschichte ein zweites mal zu lesen, wenn man beim ersten mal den kern nicht erkennt. dafür ist die geschichte auch nicht zu lang.
ich finde diese geschichte für ausgesprochen gelungen - der erzählstil ist wirklich herrlich gewählt - einfach traumhaft. deine gewählten metaphern sind genial - genial aus der sicht eines phantasivollen kindes geschrieben.

also - uneingeschränktes lob für dieses m.e. meisterwerks.

hier meine 2 lieblingsstellen:

Seit gestern regnet es nicht mehr. Die Wolken haben sich über dem Dorf versammelt und beraten über die Frage, wie man sich neues Wasser verschaffen kann.

und

Auf dem Friedhof ist auch niemand, nur die Kreuze und Steine, die sich aus der Erde strecken und verhindern, dass die Toten übersehen werden. Wie die kleinen Fähnchen auf dem Golfplatz verhindern, dass man das Ziel nicht sieht.

sehr gute geschichte.

bis dann

barde

 

Hallo Wolkenkind!

ich habe für den Text tatsächlich jetz erst auch die Antwort vom Barden gebraucht... dabie hab ich ihn gestern schon gelesen :rolleyes:

Die Rolle de Monalisa war mir alles andere als klar, aber so, wie Barde es jetz erklärt hat, gibt es Sinn. :dozey:

Super geschrieben, Du lässt die kindlichen Gedanken und Sichtweisen ganz natürlich miteinfließen. Klasse gemacht.

Jetzt sehe ich auch, dass es geregnet hat. Aber nur ganz leicht und auch nur unter den Augen der Mona Lisa.
immer wieder die Vergleiche mit dem Wetter, sehr gute Parallelen.

ganz toll gemacht - auch wenn ich ne Zeit gebraucht habe...

schöne Grüße
Anne

 

Servus wolkenkind!

Das Kind welches zum Spielen geschickt wird, die Einsamkeit mit Phantasie füllt. Es sind wieder unglaublich schöne Gedankenflüsse drinnen. Sie verwirren, lassen tiefe Kerben erahnen und lösen sich dennoch im selben Moment in wunderbaren Bildern auf.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hallo!

@Barde
Puh, das Wort "Meisterwerk" lässt mich hier zusammenzucken :) Danke für das Lob und dafür, dass du der Geschichte einen zweiten Versuch gegeben hast.

@Anne, schnee.eule
Auch euch danke ich für die netten Worte, hab schon gedacht, diese...räusper...unspektakuläre Geschichte geht hier unter. Dabei hab ich diesmal besonders auf die Eindeutigkeit geachtet.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hi Wolkenkind, soll ich dir mal was verraten? Maus hat dich erwähnt und empfohlen, deswegen lese ich es. Tja ihr beiden schreibt auch gar nicht so unähnlich.
Klasse!
Schöner Vergleich mit dem Wasser und der Wendeltreppe. Genauso schön, bzw. der plötzliche Satz im 3. Abschnitt, dass die Leute es nicht mehr so weit zum Friedhof haben. Überhaupt sind dir sehr viele Beschreibungen und Metapher ganz toll gelungen. Alles andere schrieben schon meine Vorgänger, ´war in der Tat nicht ganz einfach mit der M. L.

Archetyp

 

Hallo Wolkenkind,

was soll ich noch groß sagen? Ich kann mich mal wieder meinen Vorrednern vorbehaltlos anschließen; diese Geschichte ist voller Metaphorik, voller Melancholie - und genau das liebe ich. Die Parallelen zum Regen haben mir sehr gefallen.
Nur bei der Mona Lisa hab ich auch lange überlegen müssen... Das war mir nicht so ganz klar. Ansonsten aber; super Geschichte! :)

Griasle,
stephy

 

hallo!
die geschichte ist dir wirklich super gelungen!
du lässt deinen lesern allen erdenklichen freiraum, aber schaffst es trotzdem, sie in gewissen schranken zu halten.
wie du das wetter verarbeitet hast, finde ich super,
mfg onida

 

Huhu

Freut mich wirklich, dass ihr euch mit der Geschichte beschäftigt habt. Und dass sie gefällt, natürlich noch mehr :)

Der erste Teil ist vielleicht sogar etwas überladen mit Metaphern, aber Kinder haben ja ne erstaunliche Phantasie.

Für die Mutter ist mir kein besseres Bild als die ML eingefallen, das undeutbare Lächeln kennt ja eigentlich jeder.

Nochmal danke euch fürs Lesen :)

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo Wolkenkind,

Deine Geschichte muß man einfach loben. Die (vielleicht zu oft beschriebene) Thematik hast Du in gelungener, ungewohnter Weise dargestellt. Die vielen unüblichen Bilder vermitteln ein Erdulden, der Vergleich zum Wetter (gut` Wetter machen, Donnerwetter) liegt nahe, erscheint hier aber in einem neuen Gewandt.
So ist dann das Leid, die Unwahrheit, wie ein „Hügel“ „der wie ein Fehler aus dem Boden ragt“.
Ich denke, das Kind verfolgt weniger seine Fantasien, vielmehr versucht es die ihm zweideutige Welt irgendwie plausibel zu machen.

Noch eine Winzigkeit:
„So müssen die alten Leute ...“ - das klingt für mich so, als ob die Leute `weil der Zeiger deutet´ nicht weit zum Friedhof gehen. („So“ als Einleitung einer Folgerung).

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Der Barde hat mir Deine wunderschöne Geschichte gezeigt -
doch leider scheinst Du verloren gegangen zu sein. :crying:
Das wäre sehr schade: Gegangen und verloren wie ein Tropfen im Regen, der Tränenzweig, der aus meinen Augen wächst.


sarpenta

 

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