Reine Geschmackssache
Muraths Hand zitterte so stark, dass er das Messer fast fallen ließ. Das kaputte Neonlicht an der vergilbten Decke, zuckte in seinen letzten Zügen und tauchte den ganzen Raum in ein kaltes Blau, welches im Rhythmus der flackernden Birne mal heller, mal dunkler leuchtete.
Seine Hand schloss sich fester um den glitschigen Griff. Das Messer war groß und schwer. Blutverschmiert.
Er konnte nicht sagen, ob diese verdammte Kälte oder der Ekel ihn so zittern ließen, als eine bebende Welle, starker Muskelkontraktionen seinen Körper walkte und er seinen Mageninhalt mit einem Schwall dem Metalltisch übergab.
Es war wohl der Ekel, dachte er, während er sich mit dem Handrücken die Reste des Erbrochenen aus dem Gesicht wischte. Es roch nach saurer Milch.
Sein Kollege Otto klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. „Das wird schon wieder, Alter! Am Anfang kostet es Überwindung, aber irgendwann gewöhnt man sich dran.“ Er zog seine schmutzige Pranke wieder zurück, um ein herrenloses Auge daran zu hindern, vom Tisch zu rollen.
Mit der flachen Hand klatschte er drauf und das Auge zerplatzte, wie eine reife Traube, mit einem lauten „Plopp“. Sein Saft vermischte sich mit frischem und getrocknetem Blut an Ottos Pranken und mit den schwarzen Halbmonden unter seinen Fingernägeln. Otto gickelte und eine Wolke seines Knoblauchatems suchte sich zielsicher den Weg in Muraths Atemwege, was ihn von neuem würgen ließ. Doch seine Magen hatte nichts mehr zu bieten. Sein gesamter Inhalt lag schon vor ihm auf dem Tisch. Nur ein bisschen Magensäure sammelte sich bitter in seinem Mund und ließ ihn erschaudern.
Mit Tränen in den Augen schluckte er sie wieder hinunter.
Immer noch hielt er das große Messer in der Hand. An der Scheide klebte geronnenes Blut, einen süßlichen Geruch ausströmend, vermischt mit alten Geweberesten, die sich wie Eiterpocken überall auf der Klinge verteilten.
Er zwang sich wieder auf den Tisch zu sehen. Ein dunkelroter Haufen Fleisch lag da, hier und da angetrocknete schwarze Stellen. Große, weiße Augen glotzten lidlos und blind an die Decke und Fett und Gedärme durchzogen, wie kleine Bäche, den Kadaverberg.
Otto zog geräuschvoll den Rotz aus Nase und Rachen zusammen und spuckte ihn auf den Tisch. Er nannte das: „das Tüpfelchen auf der L.“.
Dann holte er eine große Metallschüssel und fegte, mit ein paar lässigen Bewegungen seines Armes, den ganzen Matschberg samt Kotze und Rotz, in die Schüssel. Unbekümmert pfeifend klemmte sich Otto die Schüssel unter den verschwitzten Arm und stapfte zur Rührmaschine. Er arretierte die Schüssel in der Maschine und setzte sie in Gang. Dann verließ er den Raum, einen gasförmigen Abdruck seiner selbst in Form von Schweiß und Knoblauchdunst hinterlassend.
Jetzt wo der Matschberg den Tisch verlassen hatte, fühlte Murath, wie sich sein Magen wieder beruhigte. Er nahm einen alten Lappen und wischte über den Tisch, um ihn für die nächste Lieferung vorzubereiten.
Ein schrilles Pfeifen signalisierte, dass die Rührmaschine ihr Werk vollendet hatte. Gerade wollte Murath sich der Maschine annehmen, als Otto wieder im Raum erschien.
Immer noch pfeifend, nahm er die Schüssel wieder heraus und stellte sie auf den Tisch. Dann pulte er noch das schwarze unter seinen Nägeln hervor und warf es dekorativ auf den braunen Fleischbrei. Fertig! Und keinen Moment zu früh, denn schon kam die schmucke Fleischfachverkäuferin aus der Delikatessenabteilung, um die Trüffel-Leberwurst lächelnd in Empfang zu nehmen.
Murath hatte sich seine Ausbildung in diesem Genusstempel ganz anders vorgestellt. Doch bei der heutigen Arbeitsmarktsituation musste man eben Kompromisse eingehen.
Richtig Angst aber hatte er vor den C-Waffen in der Obst- und Gemüseabteilung, in die er in ein paar Wochen versetzt werden sollte...