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Reise ins Dunkel

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04.08.2001
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Reise ins Dunkel

Der Zug setzte sich sanft in Bewegung und einige der Menschen draußen auf dem Bahnsteig gerieten in Hektik. Keine Spur von Wiener Gemächlichkeit - sie winkten und johlten, schwangen Taschentücher und liefen nebenher. Die Bahn gewann an Fahrt und schließlich verschwand der letzte Junge auf dem Bahnhof und wurde ersetzt durch vorbeiflatternde Häuser und Bäume. Und endlich tat sich offene Landschaft auf, Wiesen zogen vorüber, Baumgruppen in der Ferne, und der Zug begann sein beruhigendes Rattern zu entfalten. Als sie einen Tunnel durchquerten, blickte Linda in ihr eigenes Spiegelbild im Fenster. Das Fehlen von Farbe, das Verblassen in Kontur – das war, wie sie sich fühlte.
Sie lehnte sich zurück. Durfte sie durchatmen, konnte sie sich in diesem Abteil mit den drei weiteren, unwissenden Gästen sicher fühlen? Das Gewusel auf dem Bahnhof hatte ihr Angst gemacht, sie war nervös geworden und hatte sich dem emsigen Treiben angepasst. Jetzt erst normalisierte sich ihr Herzschlag wieder.
Der Mann gegenüber war ihr behilflich gewesen, ihren Koffer im Gepäcknetz zu verstauen, und er hatte es fertiggebracht, dabei nicht ein Wort zu sprechen. Er hatte sich wortlos in den Sitz fallen lassen und sich wieder seinem Handy zugewandt. Linda musterte ihn.
Er hatte einen viel zu engen Anzug an, der Hals wurde vom Hemdkragen abgeschnürt und die Ärmel waren zu kurz. Er kam ihr vor wie eine Wurst in den Darm gepresst. Seine Fingernägel hatten Ränder und das Gesicht war rot und verschwitzt.
Er tippte ohne Pause auf der Tastatur seines Handys herum, als wäre es neu für ihn und ungewohnt.
Linda wandte den Kopf zur Seite, um ihre Nachbarin anzuschauen. Das junge Mädchen lächelte sie an, und die Offenheit in ihrem Blick ließ sie zurücklächeln. Doch dann wandte sie sich sofort ab; sie hatte keine Lust auf ein Gespräch, unverfänglichen Smalltalk. Sie würde in dem harmlosen Geplätscher nicht mithalten können, die Miene versteinert, die Gedanken ganz woanders im Zug. Linda war noch nie gut gewesen im Vortäuschen guter Laune.
Dem Mädchen gegenüber saß eine ältere Frau am Fenster, sie schätzte, dass es die Großmutter der Kleinen war. Sie schlief, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Als Linda ins Abteil getreten war, hatte sie kurz aufgeschaut und in ihren wässrigen Augen war Mitleid aufgeblitzt. Auch sie hatte sicher schon einmal Schwarz getragen, einen Menschen verloren, den sie geliebt hatte.
Dabei war doch alles ganz anders.
Sie war wieder eingeschlafen und Linda beobachtete fasziniert, wie ein feiner Speichelfaden sich aus ihrem Mund zog. Sie ertappte sich, wie sie die Frau anstarrte und darauf wartete, dass der Strang endlich nach unten tropfte. Die Alte bewegte sich, griff, ohne die Augen zu öffnen, nach ihrem Mund und wischte die Spucke weg.
Linda schloss die Augen.
Es gab Momente, da fürchtete sie, dies alles nicht durchstehen zu können. Sie fühlte die Panik in sich aufsteigen, wenn sie an ihren Mann dachte, an seine bleiche Haut, mit Rouge gepudert – eine abstrakte Parodie des Lebens. Im Gegensatz zu dem, was sie gehört hatte, hatte er im Tode ganz und gar nicht so ausgesehen, als lebe er noch; blass und wächsern war er gewesen. Man hatte ihm vor der Überführung die Augen geöffnet und notdürftig hergerichtet. Der Sarg noch offen, doch der Deckel schon bereit. Während sie vor ihm verharrt hatte, hatten zwei Männer im Hintergrund gestanden, wartend, dass sie den Raum verließ.

Linda nestelte nach dem schwarz gebundenen Buch in ihrer Tasche. „Sprüche zur Trauer“ – Bibelzitate, Gedichtauszüge. Es war nur konsequent, dass der Mann, der jede Situation mit einem Gedichtauszug kommentierte, eben mit einem Gedicht von der Welt verabschiedet werden sollte. Mit Versen hatte er sich vorgestellt, hatte sie umgarnt und erobert. Ihre Freundinnen hatten sie gewarnt. Was sollte man von einem Mann denken, der nach dem Sex ein ‚Schweige still, oh Herz!’ rezitierte.
Linda überflog das Inhaltsverzeichnis. Eichendorff, da! Das kannte sie.

Hände lasst von allem Tun,
Stirn vergiss du alles Denken
alle meine Sinne nun
Wollen sich in Schlummer senken.

Schlummer. Zertrümmerte Körperteile, ausgeblutet in Minuten. Oh weiter, stiller Friede! So tief im Abendrot…
Er hatte Strauss verehrt, die Blutbäder in ‚Elektra’ und ‚Salome’ ebenso wie den abgeklärten Frieden der ‚Vier Letzten Lieder.’ Das hätte ihm gefallen – Barbara Hendricks Engelsstimme, das ‚Abendrot’ über einem Meer von roten Lilien. Der Sarg aus Kirschholz, er in schwarzem Anzug und roter Krawatte, das Hemd geschlossen über dem eingedrückten Brustkorb.

Sie schlugen dich im Bade tot
das Blut trat über deine Augen
das Bad dampfte von deinem Blut…

Linda merkte, wie sie sich anspannte. Sie warf einen schnellen Blick auf das Mädchen neben sich, dann stand sie auf und verließ das Abteil. Der Mann mit dem Handy sah sie vorwurfsvoll an, als sie seine Beine streifte; sie versuchte ein entschuldigendes Lächeln und schloss die Tür.
Der Gang war stickig, doch menschenleer und das war das wichtigste. Sie ging langsam an den Abteilen vorbei, und hielt ihr Gesicht mit Absicht zur anderen Seite hin. Keine Augen, keine Blicke, sie wollte allein sein.
Die Toilette war schmutzig. Ihr Spiegelbild war durchbrochen von blinden Stellen, sie schaute fort – Augen ersetzt durch Dreck, blind und stumpf.
Sie stützte sich auf kalten Stahl des Waschbeckens. Das sterile Weiß der Kacheln, das raue Metall der Armaturen. So war es gewesen in dem unterkühlten Raum des Krankenhauses. Der Beamte mit dem starken Akzent stellte die Frage, die sie nur mit ‚nein’ zu beantworten geglaubt hatte. Wie hätte er sie aufspüren können, hier in Wien?
Das ‚Nein’ war so verlockend beim Anblick des unbekannten Gesichtes, unrasiert, deformiert, grau. Die Tränen, als sie sich abwandte, waren echt. Das Brechen ihrer Stimme ebenso, als sie sagte: „Ja, er ist es. Es ist mein Mann.“

Sie machte sich nur ein wenig frisch und verscheuchte mit kaltem Wasser das Bild der Erinnerung. Sie frischte ihr Make-up notdürftig auf und verließ dann hastig den engen Raum.
Für eine Sekunde hatte sie die Orientierung verloren und wusste nicht zu sagen, welche Richtung sie einschlagen musste. Die Panik wollte nicht weichen. Sie machte ein paar Schritte und schaute sich entsetzt um. Ihr Herz raste schon wieder. Egal, welchen Weg sie einschlagen würde, es würde in die andere Richtung wollen. Was tat sie hier, warum widerstrebte es ihr, in diese Richtung zu laufen?
Sie musste sich Mühe geben, ihre Schritte zu dem Abteil zu lenken, alles in ihr wehrte sich dagegen. Ihr wurde heiß, die Anstrengung ließ sie schwitzen und zittern. Einen Schritt, sagte sie sich, einen Schritt nur. Doch der wollte nicht gelingen. Den Fuß gehoben, weiter noch und ein Stück später wieder aufsetzen, doch plötzlich drehte sie sich um und lief den Gang zurück, vorbei an der Toilettentür; sie versuchte fahrig die Übergangstür zu öffnen. Ein Knacken, das sie registrierte, doch sie ließ sich nicht beirren. Die Hände flogen über den Taster und endlich glitt die Tür beiseite.
Erleichtert stolperte sie durch den Übertritt und fiel beinahe in den nächsten Wagen – das Bordrestaurant. Offensichtlich hatte keiner ihr ungestümes Eindringen registriert.
Als sich die Tür hinter ihr zuschob, spürte sie Befreiung und vermochte durchzuatmen.
Als sie einen freien Platz suchte, strich sie nervös mit ihren Händen über den Rock. Dabei bemerkte sie, dass ein Nagel abgebrochen war.


„Kaffee, schwarz“, verlangte sie. Jetzt erst hatte sie sich so weit gefangen, dass sie ihre Umgebung bewusst wahrnahm. Sie hatte den einzigen freien Tisch ergattert, und das nur, weil bei ihrem Eintreten ein älteres Paar gegangen war. Der Mann ihr schräg gegenüber hatte sich bereits erhoben gehabt – wohl, um den drei schwatzenden Alten an seinem Tisch zu entgehen. Als Linda den Platz mit abweisender Miene in Beschlag genommen hatte, hatte er sich seufzend wieder in den Sitz fallen lassen.
Der Kaffee hatte den Geschmack von heißem Wasser und Asche. Und trotzdem hielt sie die Tasse an die Lippen gepresst, nahm Schluck für Schluck, als wäre es Medizin.
Der Mann beobachtete sie. Er war glatt rasiert und seine Haut so glänzend hell, als wäre sie nie der Sonne ausgesetzt gewesen. Die Haare, ausgedünnt über der Stirn, hatten die Farbe seines Leinenjacketts. Seine Augen aber…
Sie senkte schlagartig den Kopf, als ihre Blicke sich trafen. Die Lippen tauchten in die dampfende Tasse. Sekunden kämpfte sie den Impuls nieder, aufzuspringen und davon zu laufen.

„Darf ich?“, fragte er und saß bereits, bevor sie den Kopf schütteln konnte. Sie sah aus dem Fenster, war sich wohl bewusst, wie er sie musterte. Er sagte ihr einen Namen, den sie nicht registrierte. Dass sie sich ihrerseits nicht vorstellte, schien ihn nicht zu stören.
„Und, wohin geht die Reise?“
Sein Bemühen, ein Gespräch zu beginnen, war lächerlich.
„Der Zug fährt nach Hamburg.“ Sie war sicher, die Antwort abweisend genug gebracht zu haben.
„Soso, Hamburg. Sie sind Hamburgerin, das erkennt man an Ihrem Dialekt.“
Wider Willen musste sie lachen. „Ich bin gebürtige Berlinerin.“
„Himmel, nein!“
Jetzt lachte er. „Ich stamme selbst aus Hamburg, und Ihr Dialekt … Sie müssen schon lange in Hamburg leben! Und, was hat sie nach Wien getrieben?“
Ihre Miene erstarrte wieder; diesmal bemerkte er es und verstummte. Gleichzeitig griffen sie nach ihren Tassen.
„Warten Sie!“
„Was ist?“, fragte sie, die Tasse vor ihrem Mund.
„Vorhin, als Sie mir zugeprostet haben, als ich drüben saß, …“
„Ich habe doch nicht …“
„… da haben Sie mich an etwas erinnert, und jetzt weiß ich endlich an was.“
Er nahm seinen Tee, hob ihn empor, als wolle er eine Rede halten, und intonierte:
„Auf, hebe die funkelnde Schale empor zum Mund
und trinke beim Freudenmahle dein Herz gesund
und wenn du sie hebst, so winke mir heimlich zu,
dann lächle ich und dann trinke ich still wie du …“

Er hob sein Glas mit blutrotem Wein, und sie konnte nicht in seine Augen sehen, starrte verlegen am Glas vorbei, während er sie vor allen Hochzeitsgästen an der Hand fasste und sagte: „Auf, hebe die funkelnde Schale empor zum Mund …“
Sie verschluckte sich am Wein in ihrem Glas, presste sich die Serviette an den Mund, aus Angst, sie würde auf ihr makellos weißes Hochzeitskleid husten. Der Wein färbte die Serviette rot, sie fühlte Tränen der Scham, während einige Gäste mühsam ein Lachen unterdrückten.

„Fehlt Ihnen etwas?“
Sie hatte sich die Lippen am Kaffee verbrannt, zitternd stellte sie die Tasse zurück, dass sie überschwappte. Mit einer Hand suchte sie nach ihrer Handtasche, als er ihr schon seine Serviette reichte. „Bitte, nehmen sie doch.“

Es war leerer geworden im Waggon. An den freien Tischen wurden frische Gedecke aufgelegt – rote Platzdecken, Vasen mit roten Nelken. Vorbereitungen vielleicht für eine private Feier.
„Das sieht aus wie in einem russischen Zug“, scherzte er.

Eine ungewöhnliche Hochzeitsreise, für ein ungewöhnliches Paar. 9300 Kilometer durch eine Landschaft, deren Kargheit nur durch den altmodischen Pomp im Zug zu ertragen war. Sie fand keinen Gefallen an der transsibirischen Eisenbahn, jenem Spielzeug für groß gewordene Jungs. Die zwei Tage Aufenthalt am Baikalsee verdeutlichten ihr die kalte Enge der mit roten Stoffen ausgelegten Waggons, in denen der Mief und der Stolz verfallener Zeiten steckten. Das Eingesperrt-Sein im Honeymoon-Abteil – sie bezweifelte, dass es den Namen dafür wirklich gab, denn es unterschied sich in den mickrigen Dimensionen nicht von anderen Abteilen. Jedes Essen, jede Unterhaltung mit den anderen Reisegästen, begriff er als Möglichkeit, sie weiter in der Kunst der ergebenen Ehefrau zu unterrichten. Am Ende der Reise hatte sie begriffen: Der Mann mit den immer roten Krawatten hatte sie mit dem kostbaren Rubinring an sich gekettet.

„Warum sagen Sie das?“
„Was meinen Sie?“
„Sie sagten ‚wie in einem russischen Zug’! Warum?“
„Da ist doch alles rot, nicht? Was haben Sie? War doch nur ein Scherz. Ein dummer, offensichtlich.“
„Ja“, stellte sie fest. Sie hob die Tasse und bemerkte, dass sie leer war. Sollte sie sich entschuldigen bei dem Mann, der nun etwas betreten zur Seite blickte? Hätte sie ihm erklären sollen, welche Erinnerungen seine Gedichte und Scherze in ihr hervorriefen?
Sie stand auf. „Sie entschuldigen mich?“
Er sah sie enttäuscht an und nickte, was sie zu einem etwas hölzernen „Schön, Sie kennen gelernt zu haben“ verleitete.
Da strahlte er. „Der Kaffee geht auf mich!“

Einen schwankenden Gang entlang zu schreiten, sich abstützend an den Abteiltüren, mit starrem Blick geradeaus – die Dame in Schwarz tat genau das, was sie nicht wollte: Sie erregte Aufmerksamkeit. Mit ihrem dunklen Kostüm, den blonden Haaren, streng nach hinten gebunden, und den edlen Gesichtszügen, hätte sie in jedem Hollywoodfilm der Schwarzen Serie mitwirken können.
Mit fahrigen Fingern öffnete sie ihre Abteiltür und ließ ein verhuschtes Lächeln über ihr Gesicht blitzen. Sie setzte sich und atmete tief durch. Falls irgendeiner der Mitreisenden ihr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, so war Linda das entgangen. Der Mann spielte mit seinem Handy, die Großmutter war erwacht und unterhielt sich nun leise mit ihrer Enkelin.

„Wissen Sie schon, wie Sie nach Hamburg kommen?“
Die Frage hatte sie überrumpelt. War das wichtig für einen Bestattungsunternehmer?
„Wie bitte?“
„Ich meine, Sie werden in diesem Zustand nicht mit dem Auto fahren. Holt man Sie ab? Haben Sie schon einen Flug gebucht?“
„Ich … nein, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“
„Dann werde ich, mit Ihrer Erlaubnis, die Fahrt mit der Bahn buchen.“
Es dauerte ein wenig, bis sie verstand. „Sie meinen …“
„Es wäre das einfachste. Das Hamburger Unternehmen wird den Sarg sofort in Empfang nehmen, aber es gibt Formalitäten – es wäre einfacher, wenn Sie dabei sind. Wenn Sie natürlich Bedenken haben oder andere Pläne …“
„Nein, nein, schon gut. Wie Sie an alles denken …“
„Das ist unser Job. Ihnen in dieser schweren Zeit eine Hilfe zu sein.“

„Sie machen einen verstörten Eindruck, Kindchen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?“
Die alte Dame hatte sich zu ihr hinüber gebeugt und schaute sie nun mit ihren wässrigen Augen an.
„Ja. Ja, natürlich! Es geht schon.“ Sie probierte es noch einmal mit einem flüchtigen Lächeln und war dankbar, als die Frau sich zurücklehnte.
„Nun, Ihr Freund war nicht so höflich.“
„Was? Wer?“ Linda schreckte hoch. Der Mann mit dem Handy sah sie missbilligend an. „Was haben Sie gesagt?“
„Aber Kindchen! Ihr Freund. Der Mann, der den Koffer geholt hat. Er sagte, Sie wüssten Bescheid.“
Lindas Blick ging unwillkürlich nach oben, wo das leere Gepäcknetz schwebte. Ihr Koffer war fort! Sie fuhr sich über die Haare.
In dem Gepäck waren alle Papiere, die wichtig waren, ihre Fahrkarte, die Ausweispapiere, die Überführungsdokumente für den Leichnam ihres Mannes. Wenn sie ihn nicht wiederfand, es war nicht auszudenken, was das bedeutete.
Sie wandte sich an die Frau und versuchte, die Panik aus ihrer Stimme zu verbannen.
„Wie sah er aus?“
„Aber, aber, meine Liebe! Sie werden wohl Ihren Freund kennen, was?“
„Wie sah er aus?!“
Der Ton in Lindas Stimme ließ die Frau zusammenfahren und sofort antworten.
„Er war groß, dunkelhaarig, gutaussehend. Sein Blick war angenehm und er sagte, Sie wüssten Bescheid. Ist Ihnen nicht gut, Kindchen?“
„Nein …“, sagte sie, und es blieb in der Schwebe, worauf dies die Antwort war.
Das zerfurchte Gesicht kam ihr besorgt näher.
„Oh je, wir hätten den Koffer nicht hergeben sollen.“
„Wie sah er aus?“ Ihre Stimme war nunmehr schwach, und die alte Dame seufzte.
„Ach, er war jung, und …“
Sie sah Hilfe suchend nach dem Mädchen, das mit piepsiger Stimme antwortete: „Ja, recht jung.“
Der Mann am Handy konnte nicht mehr länger vorgeben, er hätte ihre Frage nicht gehört. „Tut mir Leid“, sagte er, „ich habe nicht auf ihn geachtet.“
In seiner Stimme klang Vorwurf mit.
„Wissen Sie denn wenigstens, was er anhatte?“
Der Mann hob die Schultern, was den engen Kragen um seinen Hals noch mehr zusammenziehen ließ. Die alte Dame kratzte sich über das Kinn, wo Linda ein paar schwarze Härchen sah.
„Hmmm, einen Anzug, nicht?“, und das Mädchen nickte eifrig.
„Dunkel. Und … eine rote Krawatte!“
Sie strahlte, dass ihr das eingefallen war.

Rot.

Rot. Thomas? Niemals. Sie hatte ihn dafür geliebt, dass er Rot verabscheute. Ein Dieb, der sie beobachtet hatte. Wie sie mit dem Koffer in das Abteil gegangen war, wie sie ohne heraus gekommen war. Der Mann aus dem Speisewagen? Nein, sie hatte den Wagen vor ihm verlassen. Und er hatte ja auch … was? Sie erinnerte sich nicht mehr, was er angehabt hatte. Keinesfalls Rot.
Ohne auf die Mitreisenden zu achten – nicht auf die alte Dame, die noch etwas sagen wollte oder ihre Enkelin, und nicht auf den Mann, der sie dieses Mal keines Blickes würdigte – stürzte sie aus dem Abteil und schaute sich verzweifelt um. Sie musste den Mann mit ihrem Koffer finden!
Aber wie? Die nächsten Abteile durchsuchen? Nach ihrem Koffer oder einem Mann in Anzug und Krawatte fragen? Einen Moment lang betrachtete sie die Notbremse und ertappte sich bei der Lächerlichkeit ihrer Überlegungen. Nein, sie musste jemanden informieren. Den Schaffner? Ratlos blickte sie sich um. Der Speisewagen! Dort könnte man ihr weiterhelfen.
Während sie den Gang entlang lief und versuchte, ohne besondere Rücksicht in die Abteile zu schauen, musste sie sich mit den Händen abstützen, weil der Zug mehrere Weichen durchfuhr. Sie schluchzte auf und im selben Moment schalt sie sich. Der Koffer, der Koffer!
Ein alter Mann kam ihr entgegen, sie wich ihm aus. Er bedankte sich auf ebenso umständliche Weise, wie er sich an ihr vorbei drückte. Als sie sich noch einmal nach ihm umdrehte, war sie überzeugt, in die falsche Richtung gelaufen zu sein. Zum Speisewagen ging es dort entlang!
Aber nein! Sie fuhr sich übers Gesicht. Natürlich nicht!
Kann man sich in einem Zug verirren? Lächerlich, dachte sie und wehrte damit die Hysterie ab. Wie konnte sie nur derart ihre Nerven verlieren.

„Verlier jetzt nicht die Nerven!“
Thomas’ Worte. Sie blickte ihn erstaunt an. Selten in der letzten Zeit war sie so ruhig gewesen wie jetzt in diesem Moment, als er aussprach, was sie längst schon in Gedanken geplant hatte.
Sie hob die Hand, strich über die unrasierten Wangen, dann über die flachsblonden Haare, die ihm, wie immer, das Aussehen eines zu großen Jungen gaben.
Schließlich küsste sie ihn, wie sie ihn nie zuvor geküsst hatte. Nicht die verlangenden Bisse beim Liebesspiel zwischen gekeuchten Seufzern, nicht das schwermütige Festsaugen aneinander, wenn es hieß, wieder Abschied zu nehmen von dem Abenteuer, das sie flüchtig aus den Fesseln ihrer Ehe befreite.
Diesmal war der Kuss inniger, verbindender, und sie beide wussten: Gegen welche Gesetzte der Moral auch immer sie bereits verstoßen hatten – mit den Worten, die Thomas eben gesagt hatte und mit dem Kuss, der seine Worte besiegelte, hatten sie beide die Grenze überschritten.
„Du willst es auch?“
Sie stieß ein ungeduldiges Lachen aus. „Ich wollte es schon lange.“
„Dann mache ich’s. Er muss sterben.“
Er sagte es, als plane er ein Abenteuer. Sie küsste ihn wieder.

Als sie am anderen Ende des Waggons die Übergangstür zum Bordrestaurant sah, fühlte sie sich erleichtert. Man würde sich schon um ihren Koffer kümmern, und wenn er nicht mehr auftauchen sollte – was tat es? Es gab Schlimmeres.
Die Durchgangstüre zum Restaurant schwang auf und ein Mann trat hindurch. Er trug einen dunklen Anzug, mit einer Hand nestelte er an der Krawatte. Linda glaubte, rote Farbe durchschimmern zu sehen. Sie blieb stehen. War das…?
Der Mann erblickte sie, hielt seinerseits inne – und verzog seine Mundwinkel zu einem Grinsen. Linda drehte sich um und ging hastig auf den hinteren Durchgang zu. Ihr Herz hämmerte im Takt der Schienenschwellen; sie meinte, im plötzlich stärkeren Schwanken des Zugs stürzen zu müssen.
War das der Mann, der ihren Koffer gestohlen hatte? Und selbst wenn, warum hatte sie bei seinem Anblick eine so starke Angst bekommen, dass ihr davon übel war? Warum sollte sie vor einem Mann fliehen, der ihr hier im Zug nichts anhaben konnte?
Sie hatte bereits zwei Wagen durcheilt und zwang sich nun, langsamer zu laufen. Ihre Nerven waren überreizt, und wen wunderte es, nach allem, was in den letzten Tagen passiert war. Und dann dieser Mann, der keine Ähnlichkeit mit Frederic hatte, und doch …
Sie hielt am nächsten Durchgang inne und spähte zurück. Zwei Jugendliche waren aus ihrem Abteil gekommen und verhandelten wohl darüber, in welcher Richtung die nächsten Toiletten zu finden waren. Und hinter den Jugendlichen …
Kein Zweifel. Linda riss die Türe auf und stürmte hindurch. Die Panik hatte sie wieder in Besitz genommen.

War das der Waggon mit ihrem Abteil? Sie wusste es nicht mehr. Der fremde Mann trieb sie weiter. Irgendwo musste doch ein Schaffner sein.
Im nächsten Wagen standen Kinder auf dem Gang herum, eine Schulklasse wohl. Nervös bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge und konnte nicht verhindern, dass sie einige regelrecht wegschubste, worauf die sich lautstark beschwerten. Immer wieder drehte sie sich um. Sie sah den Mann nicht, aber wusste, dass er ihr auf den Fersen war.
Er musste etwas mit Frederic zu tun haben. Ein Freund von ihm, der sie suchte? Ein Privatdetektiv? Die Panik verstärkte sich noch. Natürlich! Wie hätte er sonst wissen können, dass sie nach Wien geflohen war? Gott, was sollte sie nur tun? Ewig weiter fliehen? Ihr Leben lang, gefangen in einem Zug, der niemals die Sicherheit eines Bahnhofes erreichen würde. Sie bemerkte, dass sie zu schluchzen begonnen hatte.

Die nächste Tür war verschlossen, und sie prallte zurück. Die Hände rüttelten am Griff, während ihr Verstand rotierte. Tränen tauchten die Konturen der Tür in einen Schleier. Plötzlich machte sie einen Schritt zurück, als ihr bewusst wurde: sie befand sich im letzten Abteil-Waggon. Das, was durch die Glasscheibe der Tür zu sehen war, musste der Gepäckwagen sein. Und dort, vermutlich in einer Ecke, vorm Verrutschen gesichert mit Riemen, matt metallen schimmernd, der Sarg; in ihrer Erinnerung zu klein, als dass er den Körper ihres Mannes zu fassen vermochte.
Sie wich noch ein paar Schritte zurück, ihr Gehirn beschwor das Bild jenes schmucklosen Aluminiumkastens, den sie beim Verladen nicht zu betrachten gewagt hatte. Wie er nun dort im dämmrigen Gepäckwagen lag.
Mit offenem Deckel.

Der Zug war über eine Weiche gefahren. Er wankte heftig, dass sie den Halt verlor und mit dem ganzen Körper gegen die Wand prallte. Der Schmerz verbannte die Vision und brachte ihre andere Angst in den Vordergrund. Der Mann, der sie verfolgte. Sie warf den Kopf in die Richtung, in der sie ihn erwartete.
Der Gang war leer.
Spielte er nur mit ihr? Lauerte er hinter der Durchgangtür, sich der Tatsache bewusst, dass dies der letzte Wagen war, dass sie ihm nicht entfliehen konnte? Ihre Blicke streiften wieder den rot verschmutzten Griff der Notbremse, und instinktiv streckte sie ihre Hand danach. Dann zwang sie sie wieder herunter.
Sie ermahnte sich zum Durchatmen. Durch das Glasfenster des Abteils neben ihr sah sie Menschen, die schlafend oder lesend die Monotonie der Fahrt bekämpften. Keiner hatte sie bemerkt, aber ihre Nähe gab Linda neue Kraft. Was auch immer geschehen mochte, sie war ja nicht allein. Hunderte von Menschen waren hier versammelt – es konnte ihr nichts geschehen.
Unsicher wankte sie den Gang wieder in Fahrtrichtung vorwärts. Die Angst, den Gepäckwagen mit seiner Fracht in ihrem Rücken zu haben, wurde größer als die Angst, jenem Mann zu begegnen, von dem sie glaubte, er hätte sie durch den Zug gejagt. Lächerlich – er konnte ihr nichts anhaben, auch wenn es wirklich der Dieb ihres Koffers war.
Und wenn … und wenn es doch ein Detektiv war? Und ihren Koffer entwendet hatte, um darin nach Beweisen für einen Mord zu suchen, der nicht stattgefunden hatte?
Sie kämpfte den Gedanken nieder. Erst wieder Abstand gewinnen vom Gepäckwagen, zurück in ihr Abteil, oder in irgendein anderes, das ihr Platz und gleichzeitig den Schutz anderer Reisender bieten konnte. Und dann schlafen, schlafen.
Sie durchquerte die nächsten Wagen, und langsam, mit jedem ruhigen Atemzug, gewann sie ihre Fassung zurück. Gerade als sie in Gedanken bereits bei der alten Frau in ihrem Abteil war, schwang eine Türe auf und eine Stimme sagte: „Geht es Ihnen gut?“
Der Mann aus dem Speisewagen! Er hatte sein Leinenjackett und die Krawatte abgelegt; sein Hemd indes war von ähnlich schmutzig-hellbrauner Farbe.
„Es ... ja, es geht mir gut.“ Linda fühlte sich wie ein ertapptes Schulmädchen.
„Ich habe sie vorhin vorbeilaufen sehen, als rannten Sie vor irgendetwas davon. Sie kamen mir … verstört vor. Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“
Linda schwankte zwischen dem Drang, sich alles von der Seele zu reden und davonzulaufen. Sie wusste, er war ein Fremder, sie hatten sich nie zuvor getroffen. Und doch war etwas Vertrautes zwischen ihnen, als ob der Mann ihre Gedanken lesen oder ihre Gefühle erraten könnte.
„Mein Abteil ist leer“, sagte er. „Kommen Sie herein, wollen Sie sich etwas ausruhen?“
Linda überlegte nur kurz. Hegte er Hintergedanken?
Die Vorstellung, in seiner Gegenwart Sicherheit und Ruhe zu haben, überwog.

Es war ein Erste-Klasse-Abteil und bis auf das Gepäck des Fremden leer. Eine graue Reisetasche im Gepäcknetz und ein ebenso grauer Koffer zu Füßen des Sitzes. Linda ertappte sich dabei, wie sie ihren eigenen Koffer suchte. Auf eine freundliche Handbewegung des Mannes hin, nahm sie in dem Polster Platz.
„Also?“, fragte er, und ohne jedes Nachdenken platzte Linda heraus: „Jemand hat mich verfolgt, durch den ganzen Zug! Ein Mann – deshalb rannte ich.“
Er schob die Tür zu. „Verfolgt, sagen Sie?“, fragte er und schüttelte den Kopf. „Da war niemand, der hinter Ihnen herlief. Nein, Sie waren allein im Gang. Hätte Sie jemand verfolgt, wäre ich Ihnen sofort zu Hilfe gekommen.“
„Aber ...“ Linda strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. „Ein Mann, dunkler Anzug, rote Krawatte!“
Er lächelte und schüttelte wieder den Kopf. „Da war niemand, glauben Sie mir.“
„Aber da muss jemand gewesen sein!“
Sie erschrak selbst, als sie den hysterischen Klang dieser Worte hörte. Sein Lächeln gefror und der Ton war eindringlich: „Ich sag’s Ihnen: Da war niemand! Nehmen Sie doch Vernunft an!“

„Nimm endlich Vernunft an!“
Frederic legte seinen Kopf leicht schief, wie er es immer tat, wenn er etwas von ihr verlangte. Er kniff die Augen zusammen und wiederholte: „Wann nimmst du endlich Vernunft an? Niemand schert sich um diese Leute!“
Sie saßen im Intercity Hamburg-Berlin und der Zug hatte eben den Hamburger Hauptbahnhof verlassen. Sie waren am Bahnsteig Zeuge einer üblen Szene geworden; die Bahnpolizei hatte zwei Obdachlose aus dem Zug entfernt, die wohl schon in Altona eingestiegen und rechtzeitig vom Personal entdeckt worden waren. Linda hatte sich geärgert darüber, wie die Beamten mit den Leuten umgegangen waren. Noch in Bergedorf hatte sie sich nicht beruhigt; sie war außer sich gewesen, obwohl Frederics Unwillen offensichtlich war.
„Sie halten sich nicht an die Spielregeln“, sagte er und seine Stimme hatte schon wieder den gelangweilten Ton angenommen, der Linda erst seit kurzem nervte. Seit kurzem? Nein, schalt sie sich selbst. Sie war angewidert von diesem Tonfall, seit sie erfahren hatte, dass es auch anders ging, seit sie Thomas kannte, der niemals so sprechen würde.
„Wann wirst du dich damit abfinden, dass es immer Menschen geben wird, die sich nicht auf unserer Seite der Moral befinden, die anders ... leben?“
„Wann wirst du begreifen, dass das Ganze mehr als ein Brettspiel ist und es nicht nur darum geht, dass eine Figur vom Feld genommen wird“, hatte sie gegiftet und sich in ihre Ecke zurückgezogen.
Er hatte gelacht über sie – gelacht und dann, ohne weitere Reaktion, einen Gedichtband von Hölderlin zur Hand genommen.

„Ruhen Sie sich erst einmal aus!“
Linda versank in die Polster der ersten Klasse und sah den Mann ermattet an. Sie konnte genau spüren, dass sie kalkweiß im Gesicht war, sie fühlte sich wie die Figur auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie. Einem Bildchen mit sehr wenig Licht, viel Schatten und Finsternis en masse.
Sie schloss die Augen und sah ihn noch immer vor sich. Sein blasses Gesicht, das so seltsam austauschbar war wie seine Bekleidung. Sie dachte daran, wie er sich aufgedrängt hatte im Speisewagen, und wie plötzlich er wieder aufgetaucht war, um sie in sein Abteil zu bitten.
Doch Misstrauen, das spürte sie instinktiv, war fehl am Platz, so unbestimmt war sein Verhalten gewesen.
So sollte das Gewissen sein, dachte sie plötzlich. Nicht so rein wie ein Hochzeitskleid, auch nicht befleckt von Taten, die nie begangen wurden – sondern von der indifferenten Farbe hellen Leinens.
Sie spürte, wie eine Träne sich den Weg über ihre Wange bahnte. Es fühlte sich an, als sei ihr ein Regentropfen ins Gesicht geweht worden.

Sie wischte sie fort und erst mit der Bewegung ihrer Hand wurde ihr bewusst, was sie tat. „Es beginnt zu regnen!“
Thomas war vorausgelaufen, den ganzen Abend schon. Wie ein aufgeregtes Kind war er von einer Attraktion zur anderen geeilt, und wenn Linda endlich hinterhergekommen war, hatte er schon Karten besorgt und stand lachend am Eingang der Geisterbahn, des Kettenkarussells, der Achterbahn.
Sie war das erste Mal auf dem Hamburger Dom und es war eine seltsame Erfahrung, die Unbekümmertheit mitzuerleben, mit der man an solche Vergnügungen herangehen konnte. Sosehr sie sich auch bemühte, sie vermochte sich einfach nicht Frederic in diesem Ambiente vorzustellen.
Thomas hingegen schien hier geboren zu sein!
Er hatte sie wohl nicht gehört, wie er vor dem Riesenrad stand und eifrig wie ein junger Hund mit den Billets wedelte. Sie musste lächeln.
„Hast du nicht gehört? Es fängt an zu regnen, wir sollten uns irgendwo unterstellen.“
Er schaute sie überrascht an. „Warum?“
„Warum was?“ Sie war bei ihm angelangt und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Warum müssen wir uns unterstellen?“ Die Frage war wirklich ernst gemeint. Er stand in Bluejeans und verwaschenem T-Shirt gleicher Farbe vor ihr, hatte zwei Karten fürs Riesenrad in der Hand und die Tropfen begannen immer heftiger zu fallen. Und er fragte mit offenem Herzen, warum sie sich unterstellen sollten.
„Es beginnt zu regnen, Schatz. Wir werden völlig durchnässt!“
„Ja, und?“ Damit fasste ihre Hand und zog sie mit sich. Sie war völlig überwältigt. Wie konnte er jetzt, wo es regnete, in eine Gondel mit ihr steigen und hinauf in Hamburgs Nachthimmel schweben wollen? Das ging doch nicht!
Mehr und mehr Menschen flohen aus den Gondeln. Bald waren sie nahezu die einzigen Passagiere. Vier Gondeln weiter war ein alter Mann, der in seinem grauen Anzug die meiste Zeit die Augen geschlossen hielt und den Regen nicht zu bemerken schien.
Einmal die Konventionen losgelassen, war die Fahrt nach oben herrlich. Sie betrachtete im Wechsel die Aussicht und Thomas’ Gesicht, das in der gedämmten Beleuchtung der Gondel blau schimmerte. Es war nicht kalt und der Regen schien plötzlich unverzichtbar für den Abend zu sein. Als sie den höchsten Punkt des Gefährts erreicht hatten, waren sie vollkommen durchgeweicht, doch Linda lag glücklich in den Armen von Thomas und fühlte sich eins mit dem Nachthimmel von Hamburg.
„Es ist schön“, flüsterte sie und er antwortete: „Natürlich.“

Es hatte zu dämmern begonnen, als sie wieder die Augen aufschlug. Hatte sie gedöst? Sie glaubte nicht. Ihr Kopf war zur Seite gefallen, ihre Hand hatte sich auf das Knie des Fremden gelegt. Sie zog sie nicht zurück – seine Nähe bot so angenehme Wärme.
Hatte er seinen Namen genannt? Sicher als er sich zu ihr gesetzt hatte, mittags im Speisewagen. Sie erinnerte sich nicht mehr – und es war ihr egal. Die Dämmerung nahm jede Farbe aus der Welt, alles erschien so einfach, so gleich. Kein Rot, das sie verfolgte, kein Blau, das sie des Betrugs anklagte. Alles war Grau und Schatten, und für den Moment schien ihr dies die begehrenswerteste Vorstellung zu sein: An der Seite eines Fremden durch eine Zeit zu fahren, die im Zwielicht verharrte; das monotone Stolpern der Räder über die Schwellen, das sie in der Schwebe zwischen Schlaf und Wachzustand festhielt. So könnte sie den Rest der Reise verbringen, bis …
Nein, am besten für immer.

„Geht es dir gut?“, hörte sie eine Stimme und sie antwortete mit einem wohligen Seufzer.
Geht es dir gut? – das hatte Frederic immer gefragt, nach dem Liebesspiel. Anfangs hatte es sie amüsiert, denn was war es anderes als die versteckte Frage, ob er gut gewesen war. Später hatte sie es als rituelle Frage gesehen, die keine Antwort brauchte.
Und dann, als die Zeit gekommen war, dass sie nach dem Sex möglichst schnell seine Feuchtigkeit aus ihr heraus waschen wollte, da hatte sie die Nichtigkeit dieser Frage so sehr gehasst, dass sie mehr als einmal daran gewesen war, Frederic die Wahrheit an den Kopf zu werfen.
Ihm mit der Wahrheit den Kopf zu zertrümmern.

Geht es dir gut?
Thomas’ Stimme. Das letzte Mal, dass sie miteinander geschlafen hatten, nachdem sie die Einzelheiten ihres Planes wieder und wieder durchgegangen waren. Sie hatte nach einer Gauloises-Packung gegriffen, eine Zigarette mit bläulicher Flamme entzündet, ihm den Rauch ins Gesicht geblasen, hatte ihm dann den Finger auf die Lippen gelegt und gesagt: „Frag das nie wieder. Nicht, wenn wir nebeneinander liegen.“

Unter ihr holperten und ratterten und glitten die Räder dahin, in immer gleichem Takt, dem Schlaflied einer knarrenden Holzwiege gleich.
„Wie lange noch?“, murmelte sie. Sie fühlte, wie ihr der Mann sanft über die Schulter strich; Bewegungen, die sich perfekt dem Rhythmus des Zuges anpassten. Wieder ließ sie sich fallen in das warme Gefühl von Geborgenheit, in die Schläfrigkeit, die die zunehmende Dunkelheit nur verstärkte. Das Wissen, dass der Zug auch ohne ihr Zutun unaufhaltsam dem Ziel entgegen raste, hatte etwas Tröstliches. Immer geradeaus, kein Abweichen, und erst recht kein Zurück.

Kein Zurück. Diese Worte hatten erst ihren Schrecken verloren, als sie Thomas kennen gelernt hatte. An einem strahlend blauen Tag im Frühling war sie beim Joggen entlang des Alsterkanals umgeknickt, und er hatte ihr geholfen, ihren Knöchel notdürftig zu verbinden. Die Fürsorge wich mehr und mehr deutliche Avancen, bis sie merkte, dass sie ihn dazu ermutigte. Statt ins Krankenhaus, wie sie später ihrem Mann gesagt hatte, landeten sie in Thomas’ Studentenbude und ohne Umwege in der marineblauen Bettwäsche, die er wohl schon als kleiner Junge gehabt hatte.
Sie neckte ihn damit, danach.
„Zu Hause haben wir nur rot“, sagte sie, und bevor sie die Erwähnung des ‚wir’ bereuen konnte, meinte er: „Ich hasse rot.“

Da wusste sie, dass sie sich in ihn verlieben würde.

Sein Gesicht tauchte vor ihr auf, dunkelblaue Augen unter strohig hellem Haar, das ungewaschen und gleichzeitig perfekt erschien. Wo mochte er nun sein? Was war geschehen,
dass ihr so sorgfältig vorbereiteter Plan sich so geändert hatte? Dass Frederic in Wien aufgetaucht war und dort bei einem Unfall umgekommen war – konnte das nur Zufall gewesen sein?
Die Fragen drohten sein Bild verschwinden zu lassen und es war ihr unmöglich, es fest zu halten. Langsam entschwand es in der Dunkelheit hinter ihren Augenlidern, und mit einem Mal fürchtete sie sich vor anderen Gesichtern, die nun auftauchen könnten.
„Halt mich fest“, murmelte sie schlaftrunken, und als sie den schützenden Druck um sich spürte, war es ihr egal, wer der Bitte nachgekommen war. Sie schlief ein …

… und erwachte so plötzlich, dass sie überzeugt war, es sei keine Sekunde vergangen.

Sie war allein.

Hinter dem Fenster war es finster; das Licht im Abteil war gedämmt und es war ihr, als würde es unmerklich immer schwächer. Verunsichert richtete sie sich auf und rieb sich die Augen. Ihr wurde bewusst, wie kalt es hier war, und nach einigem Zögern suchte sie nach einer Jacke ihres Gastgebers. Sie fand nichts, und wagte es nicht, seinen Koffer aus dem Gepäcknetz zu ziehen.
Doch dahinter, halb verdeckt von einer großen Sporttasche – das sah aus wie ihr Koffer!
Sie zerrte die Sporttasche herunter, die mit Schwung auf den Boden fiel – etwas darin zersplitterte. Es kümmerte sie nicht. Sie zog am Griff des Koffers, wuchtete ihn Zentimeter für Zentimeter hervor, bis er endlich auf den Sitz polterte. Keine Frage, es war ihr Koffer.
Furcht überkam sie. Nein: Sie wurde sich einer würgenden Panik bewusst. Was ging hier vor?
Impulsiv wollte sie die Abteiltüre aufreißen – und zwang sich sogleich zur Raison. Millimeterweise zog sie den Vorhang vor dem Sichtfenster zur Seite. Niemand stand vor dem Abteil. Sie nestelte an dem Verschluss und schob die Türe langsam auf. Der Gang war menschenleer. Was sollte sie tun?
Sie entschloss sich, den Koffer sofort mitzunehmen und den erst besten Zugbegleiter auf den fremden Mann ansprechen. Und wenn er ihr auf dem Gang begegnen würde, konnte sie immer noch Krawall schlagen.
Den Koffer mehr hinter sich herziehend als tragend, schlich sie den Gang in Fahrtrichtung entlang. Auf der letzten Türe stand das Wort ‚Service‘. Sie klopfte an und rüttelte an der Klinke. Es war abgeschlossen.
Egal, weiter. Sie blickte zurück und schrie leise auf. Von dem Abteil, das sie eben verlassen hatte, bis zu ihr zog sich eine breite rotnasse Spur über den Boden.

Blut.

Ihr blieb keine Luft für einen Schrei. Ein ersticktes Krächzen, das im Rattern der Räder erstarb. Sie sah an sich herab, die Hände zitternd gespreizt, suchte nach roter Nässe auf dem schwarzen Stoff. Da war nichts, sie blutete nicht.
Ihr Blick fiel auf den Koffer. Schwarz, zu groß für eine allein reisende Frau, gerade genug für die Habseligkeiten, die sie auf der Flucht nach Wien mit sich genommen hatte. Kleider aus vergangenen Tagen, in vergangenen Farben. Schmuckstücke, nicht zur Zierde, sondern mehr als finanzielle Rücklage. Dokumente, persönliche Dinge. Nun verborgen in alles schluckendes Schwarz.
Doch das, was da aus den Ritzen drang, über den Metallrand quoll wie dick angerührte Farbe auf nassem Untergrund – das war rot, und es schrie ihr entgegen.

Sie blieb stumm. Das Rattern der Schienenschwellen übernahm ihren Körper, zentrifugierte den Verstand aus ihrem Kopf, presste ihn zu schmerzender Masse hinter die Schläfen. Ihre Knie gaben nach, sie sackte nach vorne, die Arme schoben sich reflexartig nach vorne. Die rechte Hand rutschte beim Sturz weg, sie war in die Blutspur gekommen. Irgendwo in ihrem Kopf wimmerte jemand. Sie sah auf die Hand, folgte dem roten Muster, das sie befleckte, dann folgte sie der Hand, wie sie sich langsam dem Koffer näherte. Sie würde ihren Schlüssel nicht brauchen für das Schloss, es würde sofort aufschnappen. Das wusste sie, auch wenn sie sonst ihre Koffer immer abschloss und mit einem Gurt sicherte. Ihr Daumen fand die Druckmulde, liebkoste sie, färbte sie mit rostigen Tönen. Sie hieß das Schnappen willkommen, war es doch ein Geräusch, das dem monotonen Rumpeln Abwechslung gab. Schon war der Daumen am zweiten Schloss, und hier zögerte er nicht. Es schnappte auf, die Hälften des Koffers fielen auseinander und gaben den Inhalt frei.
Es fiel schwer, aus den Tausenden von Einzelheiten, die ins Auge fielen, ein funktionierendes Ganzes zu machen. Die Dominanz des Rots, in dem sich bleiche Fetzen spiegelten. Ein zerzauster strohblonder Felllappen, der den nassen Brei in sich aufsog. Dunkle Höhlen, aus denen lebloses Blau stach, vernebelt von rotem Schleier. Unnatürlich weiße Zahnreihen, zu einem schiefen Grinsen verzogen. Ein Kinn, das noch vor dem Halsansatz abrupt endete.

Thomas.

Sie schrie ihn heraus, den Namen, den sie oft in seinen Armen geschrien hatte, in der verrückten Hoffnung, Frederic würde aus der Ferne hören, zu welchen Gefühlen sie fähig war. Doch nun lag keine Lust in ihrem Schrei, sondern Entsetzen. Sie warf sich zurück, schob sich panisch auf dem Boden fort von dem Anblick. Sie wandte sich um, rappelte sich auf und rannte. Schon war sie an der Waggontüre, verfehlte im Schwung den Griff und prallte mit der Schulter gegen das Sichtglas. Da war Schmerz, doch die Angst war größer. Sie zerrte und rüttelte am Griff, bis er endlich nachgab und der Durchgang frei war. Sie stürmte durch den nächsten Waggon, ebenfalls menschenleer, und weiter in den wieder nächsten. An dessen Ende blieb sie stehen, keuchend, wimmernd. Sie wandte sich um.

Es war niemand da. Niemand, der der Enge des Abteils oder unangenehmen Mitreisenden entgehen wollte und im Gang am Fenster Ruhe suchte. Niemand, der zur Toilette eilte. Niemand, der im Service-Dress mit gelangweilten Schritten die Länge der Waggons ausmaß.
Niemand.

Niemand.

Aufs Geradewohl öffnete sie die Abteiltüre neben ihr. Es war duster dort, verstaubte Sitze, als hätte seit Jahren niemand mehr dort gesessen.
Sie fröstelte. Mehr noch, als sie das gleiche Bild im Abteil nebenan sah. Etwas Kaltes umfloss ihr Innerstes, lähmte ihre Bewegungen, ihren Herzschlag.
Mit einem Mal wusste sie, dass sie allein war. Völlig allein in diesem Zug, und doch wieder nicht allein. Irgendwo lauerte jemand oder etwas auf sie. Ging bereits langsam von Waggon zu Waggon, im Bewusstsein, dass es für sein Opfer kein Entkommen gab.
Ihre Beine setzten sich wieder in Bewegung. Schneller und schneller lief sie durch Gänge, unter Durchgangstüren, vorbei an mit Tuch verhängten Abteilen, an blinden Fenstern, die nur auf absolute Dunkelheit draußen zeigten. Wie ein gehetztes Tier, dem Jäger ausgeliefert in einem Käfig, in dem es nur Vorwärts oder Zurück gab.
Die Notbremse! Und dann aus dem gestoppten Zug flüchten, fort von dem Wahnsinn. Sie fand sie kurz vor dem nächsten Durchgang, in abgeblättertem Rot, gesäumt von den üblichen Warnhinweisen. Sie griff danach, die Sicherheitsplombe aus geflochtenem Draht riss widerwillig, der Griff gab nach unten nach.
Nichts passierte. Sie zog erneut, riss heftig und heftiger, hängte sich dann mit ihrem ganzen Gewicht daran. Irgendetwas knirschte, plötzlich hatte sie den abgebrochenen Griff in der Hand.
Hinter ihr, am anderen Ende des Ganges ein Geräusch. Die Durchgangstüre wurde beiseite geschoben. Der Jäger hatte sie erspäht.

Er trug schwarz. Am Körper, an den Haaren, in den Schatten des Gesichts. Nur um den Kragen war eine rote Krawatte gebunden, wie ein Schnitt durch sein Revers. Er war ein Fremder und doch wieder nicht; er hatte sie bereits gejagt, Stunden zuvor, durch einen von Menschen belebten Zug. Nun waren sie beide allein.

Kaum fand Linda die Kraft, die Türe beiseite zu schieben, kaum die Kraft, sich hindurchzuzwängen. Zwischen den Wagen war es laut und zugig, das Rattern schluckte ihr Wimmern. Wäre der Durchgang ungeschützt im Freien wie in vergangenen Zeiten, sie hätte sich herausgestürzt, um dem Grauen zu entgehen. So, mit den sich verschiebenden Metallplatten, blieb ihr nicht einmal diese Möglichkeit. Sollte sie sich in einem Abteil verstecken?
Er würde sie finden.
Eine Scheibe einwerfen und herausspringen?
Sie wusste, dass es bei dem Sicherheitsglas unmöglich war. Nein, ihre Flucht hatte nur eine Richtung: nach – zurück. Er trieb sie ans Ende des Zuges. In die Richtung der verschlossenen Türe.
Es war eine Farce. Eine Treibjagd, gehetzt von einem unbekannten Treiber, zu dem Ort, an dem der Jäger still und vergnügt wartete. Die Beine versagten ihren Dienst, und doch schleppte sie sich vorwärts, ohne sich umzusehen, immer im Bewusstsein, dass ihr Verfolger gerade eine Waggonlänge Abstand hielt.
Sie zählte nicht mehr, wie viele Gänge sie passiert hatte. Es mochten fünf sein, oder hundert. Irgendwann blieb sie stehen und sie wusste: Dies war der letzte Reisewaggon. Dahinter kam der Gepäckwagen, und der Jäger, gekleidet in Rot, darauf wartend, ihre Kleidung, ihren Körper mit dieser Farbe zu vereinen. Frederic, aus der Hölle gestiegen, um sie in glühender Umarmung zu verbrennen.
Jene Türe, der Durchgang zum Gepäckwagen, klapperte im Hin- und Herschaukeln des Zugs. Sie war nicht mehr verschlossen. Mit jeder sanften Neigung einer Kurve schob sie sich Zentimeter auf, schloss sich wieder, öffnete erneut, gab den Blick frei auf wartende Dunkelheit dahinter.
Die Türe hinter ihr wurde geöffnet und der Fremde trat hindurch. Sie starrte ihn an, das Schwarz, das ihre Blicke schluckte, ohne irgendetwas zurückzugeben. Er blieb dort am Durchgang stehen, das Gesicht noch immer im Schatten. Er hatte seine Pflicht erfüllt, er hatte das Tier dorthin getrieben, wo der Jäger es erwartete. Wem sollte sie entgegentreten? Dem Fremden ohne Gesicht, oder dem Toten , der von Hass und Rache getrieben wurde?

Hier, in die Enge getrieben zwischen einem namenlosen Grauen und dem Dämon ihrer Vergangenheit, brach sie zusammen. Das Rumpeln der Räder stieg an, verwandelte sich von reinem Geräusch zu einer reißenden Bewegung in ihrem Inneren; nein, nicht reißend: zerfleischend. Nahm der Zug an Geschwindigkeit auf? Wenn ja, welchen Sinn hatte es – für sie würde es keine Ankunft mehr geben, dessen war sie sicher. Sie kauerte auf dem schwankenden Boden, die Arme über den Kopf geworfen – keine Suche nach Schutz, sondern wie ein Kind, das seiner Verzweiflung nicht anders Ausdruck verleihen kann. Sie ergab sich, ergab sich dem, der schneller war und wimmerte.

Das Licht flackerte, und mit einem Mal war es verloschen. Ratternde Dunkelheit stürmte auf sie ein. Sie schrie, ihr Körper krümmte sich weiter zusammen, drängte sich an die Wand, als könne sie eine Zuflucht bieten.

Jemand war bei ihr, sie spürte Hände auf ihrem Rücken. Sie stöhnte nur mehr erschöpft; für einen Schrei blieb keine Kraft mehr.

Die Hände zogen die Arme vom Kopf, umgriffen den Körper, zogen Linda in die Senkrechte. Sie versuchte sich zu wehren – die Bemühungen waren zu schwach.

Sie hörte, wie eine Abteiltüre aufgezogen wurde. Sie ließ sich hineinzerren, die Türe schloss sich wieder. Lindas Körper sackte auf einem Sitz zusammen. Es roch nach Staub.

Dann geschah nichts mehr.

Wie leblos, und doch bei Besinnung, starrte sie in Dunkelheit. Sie spürte die Anwesenheit von irgendwem, und die Dunkelheit formte sich zu Gesichtern der Erinnerung: Frederic, der ihr einen Rubinring reichte, in ihm sah sie sein Gesicht erneut, blutüberströmt, zerquetscht, mit unterlaufenen Augen, die ihr zuzwinkerten.
Ein weiteres Gesicht, im Dunkeln bleibend, nur rote Lippen, zu einer Grimasse verzogen, die ebenso gut ein obszönes Grinsen wie einen ersterbenden Kuss darstellen konnte.
Auch dies verfloss, Thomas näherte sich aus bläulichem Dunst, strich sich die Haare von den Augen, zwinkerte ihr zu, aufmunternd vielleicht, oder zum Abschied. Er verschwand wieder.
Ein weiteres Gesicht erschien. Glatt rasiert, die Haut so glänzend hell, als wäre sie nie der Sonne ausgesetzt gewesen. Die Haare, ausgedünnt über der Stirn, hatten die Farbe eines Leinenjacketts. Sie erkannte ihn, den Mann ohne Ausdruck. Bei ihm hatte sie Zuflucht gefunden, von ihm war sie verraten worden.

So war das Gewissen, dachte sie plötzlich. Nicht rein, auch nicht befleckt von Taten, die nie begangen wurden – sondern von der indifferenten Farbe eines ausdrucklosen Gesichts.

Die Gestalt des Mannes schälte sich langsam aus der Finsternis. Seine leinenfarbene Kleidung, eins mit dem Gesicht, eins mit den Haaren. Er sah auf sie nieder, nicht kopfschüttelnd, nicht mitleidig. Still, bar jeder Emotion. Wie gern hätte sie zugelassen, dass er sie berührte, um die Regungslosigkeit auf sie zu übertragen. Doch als sie die Hand nach ihm ausstreckte, setzte er sich zurück, ihr gegenüber in das Polster. Nicht einmal das war ihr also gewährt.

„Wann, wann wird die Reise endlich zu Ende sein?“, fragte sie flehend, mit zitternder Stimme, unfähig, die Verzweiflung darin zu verbannen.

Der Mann sah lange auf die Uhr und schüttelte dann bedauernd den Kopf.

 
Zuletzt bearbeitet:

Zwei Worte hierzu:

Diese Geschichte entstand vor ein, eineinhalb Jahren. Sie wurde geschrieben von mir und einem Freund, der allerdings nicht in Erscheinung treten wird.

Ich habe also nicht die alleinige Entscheidungshoheit über dieses Stück.

Schöne Grüße!

 

Salve Hanniball,

schön geschriebene Geschichte. Die Atmosphäre ist gut rübergebracht, sie verengt und verdichtet sich immer mehr, bis zur absoluten Ausweglosigkeit. Könnte m.E. auch ganz gut in "Horror" stehen, wobei ich nicht weiß, ob echte Horrofans und -schreiber mir darn zustimmen werden. Ich selbst als zartbesaitetes Hochsensibelchen meide diese Rubrik geflissenstlich.

Nur mit der Deutung tu ich mich schwer. Ist der Jäger der wiederauferstandene, verunfallte Gatte? Ihr eigenes schlechtes Gewissen? Der tote Thomas also nur irgendein verklausuliertes Symbol? Das mit dem schlechten Gewissen ergibt aus diversen Gründen keinen Sinn, denn wenn der Gatte durch Unfall verbleicht, muss man sich über vergangene Mordgedanken keine Rübe machen. Fast jeder Tote wurde irgendwann sogar von seinen Liebsten gehasst.
Etwas ganz anderes? Oder wurde hier Plausibilität dem (zugegebenermaßen gelungenen) Effekt geopfert? I´m helpless!

Ein bisschen nervt mich das penetrante Gespiele mit Rot und Blau. Aber nur wenig.

Gruß, Pardus

 

Hallo Hanniball!

Diesmal keine Leiche im Keller, sondern im Gepäckwagen. Der Sarg, zumindest im Kopf der Protagonistin mit offenem Deckel, die Papiere im Koffer. Die Protagonistin steigt schon mit Mißtrauen in den Zug, fragt sich, ob sie den Mitreisenden vertrauen kann, und prompt wird ihr – während sie im Speisewagen in einem Gespräch seltsame Parallelen zu ihrer Erinnerung erlebt – der Koffer mit den Papieren gestohlen. Es beginnt eine abenteuerliche bis gruselige Jagd durch den Zug, sie fühlt sich verfolgt, aber man weiß nie, ob sie wirklich verfolgt wird. Dabei sind nicht nur die Menschen seltsam, mit denen sie zu tun hat, auch der Zug selbst wird immer seltsamer und irgendwann hat man nicht mehr das Gefühl, sich in einem realen Zug zu befinden, was sich auch darin zeigt, daß er offenbar nie stehenbleibt und der Zeitpunkt der Ankunft ungewiß ist – der Ankunft, die das Loswerden der Leiche bedeutet und damit wohl auch der Angst, die sie verfolgt (sollte der Verfolger etwa ihre Angst darstellen?).

Was mir nicht ganz klar wurde: Sie ist nach Wien geflüchtet und ihr Mann ist ihr nachgereist und hatte da einen Unfall, der von ihrem Freund geplant war? Hab ich das richtig verstanden?

Hat mir jedenfalls sehr gut gefallen, diese Reise ins Dunkel. Einen Kritikpunkt hab ich aber trotzdem:

Und endlich tat sich offene Landschaft auf, Wiesen zogen vorüber, Baumgruppen in der Ferne,
Auch wenn es sich um keine reale Zugfahrt zu handeln scheint, was der Leser am Anfang ja noch nicht wissen kann, würde ich hier realistische Beschreibungen wählen. Wenn man aus Wien Richtung Westen fährt, durchquert man zuerst den Wiener Wald, das sind viel zu viele Bäume, um sie als Wiesen mit Baumgruppen in der Ferne zu bezeichnen, selbst wenn das Grün durch ein paar kleine Vororte unterbrochen ist. So klingt das ein bisschen nach 08/15-Beschreibung, wie ein Zug eine x-beliebige Stadt verläßt. Auch, weil die Sicht in die Ferne überhaupt bis Neulengbach durch bergiges Gelände ziemlich eingeschränkt ist. ;)
Und Wald würde sowieso viel besser zur Geschichte passen, als offene Landschaft, findest Du nicht? :)

Was die Rubrik betrifft, würden meiner Meinung nach Horror, Seltsam und Spannung ganz gut passen; wegen dem Blut, das aus dem Koffer trieft, würde ich aber doch eher Horror vorschlagen. ;)

Der übliche Rest:

»das Verblassen in Kontur – das war, wie sie sich fühlte.«
– sollte es nicht eher heißen »das Verblassen der Konturen«?

»Als Linda ins Abteil getreten war, hatte sie kurz aufgeschaut und in ihren wässrigen Augen war Mitleid aufgeblitzt.«
– Bis »Man hatte ihm vor der Überführung die Augen geöffnet« steht da viermal »Augen«; das ist nicht schlimm, aber statt »Linda schloss die Augen« könnte es z.B. auch »schloss die Lider« heißen.

»So tief im Abendrot…«
– Leertaste vor die drei Punkte

»wie den abgeklärten Frieden der ‚Vier Letzten Lieder.’«
– Lieder’.

»das Bad dampfte von deinem Blut…«
– Leertaste

»Der Gang war stickig, doch menschenleer und das war das wichtigste.«
– das Wichtigste

»Sie stützte sich auf kalten Stahl des Waschbeckens.«
– da fehlt meiner Meinung nach ein »den«: stützte sich auf den kalten Stahl

»Er war glatt rasiert und seine Haut so glänzend hell,«
– auseinander ist es nicht falsch, aber man darf es auch zusammenschreiben: glattrasiert (nur für den Fall, daß Dir das auch besser gefällt und Du nicht wußtest, daß das auch erlaubt ist ;))

»Seine Augen aber…«
– Leertaste

»Sekunden kämpfte sie den Impuls nieder, aufzuspringen und davon zu laufen.«
– zusammen: davonzulaufen

»„Vorhin, als Sie mir zugeprostet haben, als ich drüben saß, …“«
– den Beistrich nach »saß« weg

»„… da haben Sie mich an etwas erinnert, und jetzt weiß ich endlich an was.“«
– statt »an was« wäre »woran« schöner

»Es war leerer geworden im Waggon.«
– »leerer« finde ich hier unpassend, weil vorher von keiner Leere die Rede war, sie hatte den einzigen freien Tisch ergattert.

»Einen schwankenden Gang entlang zu schreiten,«
– zusammen: entlangzuschreiten

»„Es wäre das einfachste. Das Hamburger Unternehmen wird den Sarg sofort in Empfang nehmen, aber es gibt Formalitäten – es wäre einfacher, wenn Sie dabei sind.«
– das Einfachste
– die Wiederholung Einfachste/einfacher könntest Du vermeiden, z.B.: es wäre besser, es wäre von Vorteil, es wäre praktisch …

»Sie sah Hilfe suchend nach dem Mädchen,«
– hilfesuchend darf man auch zusammenschreiben (muß man aber nicht)

»„Tut mir Leid“, sagte er, „ich habe nicht auf ihn geachtet.“«
leid

»„Hmmm, einen Anzug, nicht?“, und das Mädchen nickte eifrig.«
– … nicht?“ Das Mädchen nickte eifrig.

»Sie strahlte, dass ihr das eingefallen war.«
– wäre für »weil ihr das eingefallen war«

»Wie sie mit dem Koffer in das Abteil gegangen war, wie sie ohne heraus gekommen war.«
– zusammen: herausgekommen

»nicht auf die alte Dame, die noch etwas sagen wollte oder ihre Enkelin,«
– sagen wollte, oder

»Während sie den Gang entlang lief und versuchte,«
– zusammen: entlanglief

»Er bedankte sich auf ebenso umständliche Weise, wie er sich an ihr vorbei drückte.«
– zusammen: vorbeidrückte

»Wie konnte sie nur derart ihre Nerven verlieren.«
– Fragezeichen

»Gegen welche Gesetzte der Moral auch immer sie bereits verstoßen hatten«
– Gesetze (ein t zuviel)

»und wenn er nicht mehr auftauchen sollte – was tat es?«
– »was tat es« finde ich nicht sehr schön, vielleicht »was machte es aus«?

»War das…?«
– Leertaste

»Ihr Leben lang, gefangen in einem Zug,«
– ohne Beistrich nach »lang«

»als ihr bewusst wurde: sie befand sich im letzten Abteil-Waggon.«
– ganzer Satz nach dem Doppelpunkt, daher groß: Sie …

»Lauerte er hinter der Durchgangtür, sich der Tatsache bewusst, dass dies der letzte Wagen war, dass sie ihm nicht entfliehen konnte?«
– Durchgangstür
– das zweite dass könntest Du durch ein und vermeiden: dass dies der letzte Wagen war und sie ihm …

»und instinktiv streckte sie ihre Hand danach.«
– würde da noch ein »aus« anhängen

»Durch das Glasfenster des Abteils neben ihr sah sie Menschen,«
– neben sich

»Gerade als sie in Gedanken bereits bei der alten Frau in ihrem Abteil war, schwang eine Türe auf«
– ich hab noch keinen Zug gesehen, in dem die Abteiltüren Schwingtüren waren, kenne die nur mit Schiebetüren

»Auf eine freundliche Handbewegung des Mannes hin, nahm sie in dem Polster Platz.«
– ohne Beistrich

»Es fängt an zu regnen, wiir sollten uns irgendwo unterstellen.“«
– ein i zuviel in wir

»Damit fasste ihre Hand und zog sie mit sich.«
– da fehlt ein »er«

»Wie konnte er jetzt, wo es regnete, in eine Gondel mit ihr steigen und hinauf in Hamburgs Nachthimmel schweben wollen?«
– ich finde, »mit ihr in eine Gondel steigen« klingt besser

»für den Moment schien ihr dies die begehrenswerteste Vorstellung zu sein: An der Seite eines Fremden durch eine Zeit zu fahren,«
– in dem Fall gehört das »an« klein

»dass sie nach dem Sex möglichst schnell seine Feuchtigkeit aus ihr heraus waschen wollte«
– aus sich herauswaschen (zusammen)

»Das Wissen, dass der Zug auch ohne ihr Zutun unaufhaltsam dem Ziel entgegen raste,«
– zusammen: entgegenraste

»Die Fürsorge wich mehr und mehr deutliche Avancen,«
– deutlichen Avancen

»und bevor sie die Erwähnung des ‚wir’ bereuen konnte,«
– entweder normale Anführungszeichen oder kursiv für das »wir«, einfache Anführungszeichen gehören nur innerhalb der direkten Rede.

»Was war geschehen,
dass ihr so sorgfältig vorbereiteter Plan sich so geändert hatte?«
– falscher Zeilenumbruch

»es war ihr unmöglich, es fest zu halten.«
– zusammen: festzuhalten

»den erst besten Zugbegleiter auf den fremden Mann ansprechen.«
– zusammen: erstbesten

»Ihre Knie gaben nach, sie sackte nach vorne, die Arme schoben sich reflexartig nach vorne.«
– zweimal »nach vorne«

»Sie warf sich zurück, schob sich panisch auf dem Boden fort von dem Anblick.«
– »warf sich zurück« finde ich übertrieben, sie wird sich nicht durch die Gegend werfen, das hat was Comicartiges. ;) Vielleicht »zuckte zurück«?

»Aufs Geradewohl öffnete sie die Abteiltüre neben ihr.«
– Geratewohl … neben sich.

»Kaum fand Linda die Kraft, die Türe beiseite zu schieben, kaum die Kraft, sich hindurchzuzwängen.«
– zusammen: beiseitezuschieben

»Wäre der Durchgang ungeschützt im Freien wie in vergangenen Zeiten, sie hätte sich herausgestürzt,«
hinausgestürzt

»Eine Scheibe einwerfen und herausspringen?«
hinausspringen

»Irgendwann blieb sie stehen und sie wusste:«
– das zweite »sie« kannst Du streichen

»oder dem Toten , der von Hass und Rache getrieben wurde?«
– Leertaste zuviel nach »Toten«

»das seiner Verzweiflung nicht anders Ausdruck verleihen kann.«
– verleihen konnte

»Sie ergab sich, ergab sich dem, der schneller war und wimmerte.«
– dem, der schneller war,, und wimmerte.

»Sie stöhnte nur mehr erschöpft; für einen Schrei blieb keine Kraft mehr.«
– Vielleicht kannst Du das eine oder andere »sie« von den vieren bis »Sie ließ sich hineinzerren« noch wegkürzen.


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Pardus!

Na zuerst mal danke für die Blumen, da dies hier eine zweigeteilte Arbeit ist, kann ich ja die Blumen für mich beanspruchen und die Kritik leite ich einfach weiter.

Das mit der Horror-Rubrik mag stimmen, ich wollte allerdings erst mal sehen, was andere dazu sagen. Natürlich ist mir die Idee schon gekommen, aber sicher ist, wenn ich sie in Horror gepostet hätte, würden eine ganze Menge Leute sie nicht lesen, weil sie in Horror steht. (Nicht zuletzt auch du!:D)

Allerdings deuten werde ich dir das Stück nicht, vielleicht auch deshalb, weil nur du diese Geschichte deuten kannst.

Zu den Farben:
Die Verwendung bestimmter Farben für Gefühle, Stimmungen ja sogar für Personen, hat seinen Sinn und folgt tatsächlich einem Faden, der sich durch die ganze Geschichte zieht, ich möchte sogar sagen, dass sie einer der Auslöser für die Story ist.

Danke dir für die Mühe und den netten Kommentar!


Häferl!

Auch du schlägst mir vor, die Story nach Horror zu verschieben. Wie gesagt, ich hatte schon daran gedacht, aber davor zurückgeschreckt, denn Horror ist doch etwas primitiver (nicht im schlechten Sinne!), man erwartet von Horror ganz andere Sachen als von dieser Geschichte hier. Na ja, ich werds mir überlegen, zumal ja Horror doch eher mein Gebiet ist.

Du hast die Geschichte sehr schön zusammengefasst, soweit sie sich zusammenfassen lässt.


Was mir nicht ganz klar wurde: Sie ist nach Wien geflüchtet und ihr Mann ist ihr nachgereist und hatte da einen Unfall, der von ihrem Freund geplant war?

Ich glaube, das ist gar nicht wichtig, das zentrale Thema, nicht wahr, die Schuld, der Mord, der geplant war.
Ich würde jetzt, zu dieser Zeit, wieder vieles anders schreiben, ich habe sanft ausgebügelt bei der Überarbeitung, aber vieles ist drin, was vielleicht gar nicht mehr reingehört.

Und zu deinem Kritikpunkt:
Das ist wieder so ein Punkt, die einem peinlich werden können. Bei der gedachten Zugfahrt aus Hamburg habe ich einige Ortskenntnis einfließen lassen und zuvor versage ich schmählich in Wien. Es tut mir leid! Zumal ich glasklar für beide Passagen verantwortlich bin.:D


Die vielen Fehlerchen und Anregungen, die du aufgelistest hast, verpflichten mich zu Dank, bei Gelegenheit finden sie garantierte Berücksichtigung.

Schönen Dank also auch dir, für die Mühe, fürs Lesen und Kommentieren und fürs Wohlwollen!

Liebe Grüße von meiner Seite!

 
Zuletzt bearbeitet:

Moi Hanniball,

mir scheint, als hätte ich Dein eigentliches Seltsam gefunden. (An Horror hätte ich hier nicht gedacht, übrigens.)
Falls Du nach einem Rat fragst, wie sowas auf (relativ) kurzer Strecke einzufädeln sei, wäre hier Deine Antwort. Nicht zu viel erklären, ehrlich gesagt nicht zuviel zeigen, nicht zu minutiös die Kopfkamera draufhalten.

Aber hier funktioniert besser als in der anderen Geschichte, daß das Eigenartige recht schnell den Hauptteil der Geschichte ausmacht. Und - sich dem Tempo anpassend - auch kontinuierlicher bestehen bleibt. Das Seltsame hat hier auch eine Motivation, und kommt nicht als nur-Idee rüber (So schön eine Idee auch sein mag, als Einzelbild - sowas hier zieht viel mehr mit).

Die Farben haben mich nicht gestört (sollte nun nicht wundern), und ich mag auch, wenn sie symbolhaft für etwas anderes stehen. Selbst wenn ich erst langsam, oder nicht, erfahre für was genau.

Mir gefällt gut, wie sich das Sprachtempo an die zunehmende Hektik angleicht. Mir gefallen die Beobachtungen, auch ihrer eigenen Reaktionen und (absurden) Gefühle.

Er hob sein Glas mit blutrotem Wein
Das ist ein sehr schöner Kontrast, dennoch im gleichen Tempo, zum Alltag. Ein bißchen Wilde, The Ballad of Reading Gaol:" He did not wear his scarlet coat, For blood and wine are red, And blood and wine were on his hands ...". Ich will nicht abschweifen, aber solche (poetischen) Details bringen für mich die Spannung mehr durch. Die Frau wird sehr greifbar für mich, auch durch die Rückblenden, auch, da man lange nicht weiß, wessen genau sie sich eigentlich schuldig gemacht hat.

Für mich hat die Geschichte zwei Schwachpunkte, die Spannung wie Tempo drosseln:
Die Abfahrt des Zuges bis

Linda wandte den Kopf zur Seite, um ihre Nachbarin anzuschauen.
Das zieht sich zu viel, und ich weiß noch nicht, warum ich mich auf wen konzentrieren soll. Bzw. haben erstmal der Zug und der Bahnhof die Hauptrolle, da wäre ein Einstieg über die Protagonistin besser gewesen.

Sowie der gesamte Teil zw.

Unter ihr holperten und ratterten und glitten die Räder dahin, in immer gleichem Takt, dem Schlaflied einer knarrenden Holzwiege gleich.
und
Auf der letzten Türe stand das Wort ‚Service‘. Sie klopfte an und rüttelte an der Klinke. Es war abgeschlossen.
Davor ist der Punkt, wo es immer weiter anzieht, und hier hat man nur noch einen Ortswechsel und einige Betrachtungen, was einen rausbringt & an dieser Stelle nur ungeduldig macht.

Ein ausgesprochen schöner Abschlußsatz, übrigens! Wie eine Vollbremsung, aber gelungen! Besser läßt sich die Ausweglosigkeit kaum beschreiben; auch elegant, daß man ein Stück von ihrer Perspektive distanziert wird.

Ein sehr schönes Stück, ich hoffe (von den Bemerkungen oben her) nicht in schlechter Erinnerung für Dich. Mit der Anpassung eurer Stile hat es jedenfalls super geklappt, ich bekomme hier keinen holperigen Eindruck, sehr harmonisch.

Moi moi, abendliche Grüße,
Katla

 

Hallo Katla!

Ja, die Zusammenarbeit an dieser Geschichte war ziemlich langwierig, wir setzten uns keine Ziele, keine Vorgaben, ohne Streß, nur mit Muße.

Na ja, vielleicht im letzten Drittel kam ein wenig Streß auf, aber in der ganzen Zeit hat mir die Arbeit Spaß gemacht, und ich habe fast nur gute Erinnerungen an das Stück.
Und alles, was man dem Stück vorwerfen kann, an Fehlerchen, an handwerklichen Unsauberkeiten, das lässt sich auf mich zurückführen.:D

Das ist beileibe keine Kokotterie, denn sehr schön ist das daran zu erkennen, dass alle Stellen, die du monierst, von mir stammen, alle, die du positiv ansprichst, von ... mir nicht.

Es ist wohl wirklich so, dass ich in diesem Falle mehr Handwerker war, vielleicht Wasserträger, Handlanger gar. Das Konzeptionelle, das Spiel mit den Farben und Stimmungen, das geht nicht auf meine Kappe.
Ist es doch aber eine der Säulen dieser Geschichte.

Du sagst, dass das Seltsame schon früh in die Geschichte eindringt. Aber streng genommen ist doch beinahe alles, was Linda geschieht, logisch zu erklären. Es bleibt doch gerade hier so viel in der Schwebe.
Vielleicht es doch gerade das, was den Reiz hier ausmacht. Dass es im Grunde nach allen Seiten offen ist.
Zumindest über weite Strecken.

Das ist schön, dass du dieses Stück noch einmal herausgekramt hast. Ich bin immer noch der Meinung, dass es das verdient hat.
Und wenn auch nur aus nostalgischem Grund.


Ich wünsche dir einen schönen zweiten (vielleicht sogar verschneiten?!) Advent!

Schöne Grüße von hier!

 

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