Reisewetter: bedeckt
Über dem touristischen Zentrum Kapstadts ging die Sonne unter und kroch durch eine der Seitenstraßen der Long Street.
Die Tür schlug hinter Tom zurück und federte nach. Für eine Saloon-Schwingung fehlte das flirrende Gemüt von Cowboys. Doch auch hier, in der abgenutzten Bar mit der gepflegten Straßenterrasse mitten in der Seestadt am Fuß der südafrikanischen Felsen, lag mehr als genug solider Zweifel in der Luft. Tom rief sich den Reiseartikel ins Gedächtnis: "Der Tafelberg über allem, er lässt dich begreifen, dass dieses Land aus Höhenunterschieden besteht". Auch in diesem Teil der Welt war es wohl nicht anders: stets in bester Absicht versammelt, die Verzweifelten, die Suchenden und die Arschgeigen.
Der alte Mann in den Siebzigern lehnte am Tresen, sein Gesicht nichts als zerknittertes Tuch in schmutzigem Beige, umrahmt von grauem Haar, das ihm in Strähnen auf die Schultern fiel. Sein Körper ein Strich, an den Füßen verblichene Flip-Flops mit Brasilienaufklebern auf den Riemen. Die Zehen endeten in Fußnägeln, die sich gelb und fleckig wie kleine Bananenschalen nach vorne wellten. Mit einem schabenden Lachen leerte er sein Windhouk-Bier, schenkte Tom einen Blick zwischen roten Äderchen und hinter dem gelblichen Nebel irreparabler Leberschäden.
"Jeder Tag ein kleiner Tod, das ist die Wahrheit", damit zog er dunkel den Rotz hoch und winkte nach einer neuen Flasche.
Der Sony-CD-Spieler unterhalb des verspiegelten Getränkeregals sog die Silberscheibe nach innen. Ein Gitarrenriff scheuerte aus der Einfahrt, bog auf die Schnellstraße und ließ mit ein paar Drumschlägen die Luft entweichen. Trockener Hardrock, der sich eilig in die Wüste schlug und die erste Textzeile aufwirbelte: "Down the Street to Mexico, they shot this Chick named Clueless ... like curvy flashs her foolin smiles - just playgrounds on her mind."
Tom setzte sich ein paar Barhocker entfernt neben den Alten und ließ sich auch ein Windhouk geben. An einem Zweiertisch schräg gegenüber sah er eine Frau sitzen. Eine der Damen, die in dieser Stadt auf Zeit arbeiteten, in schwarzen Shorts und heller Bluse, vor ihr zwei unberührte Savannah Cider. In die Ferne lächelnd gab sie den Leuchtturm; Tom kam sie vor wie die Art Frauen, die ständig warteten: auf die Freundin, auf Mr. Right und auf das Leben.
An einem Stehtisch begrüßten zwei Männer lautstark einen schlanken Neuankömmling mit Glatze, der über die Terrasse einlief. Ein beleibter Vierziger tat sich bei der läppischen Empfangs-Zeremonie besonders hervor. Sein enganliegendes Hemd mit hippen Blumenmustern und die blondierten Haare rundeten das Bild ab: Tom machte stillschweigend einen Haken hinter die Arschgeige.
Die beiden Surferboys lungerten in einer Nische mit Rückenrollen und Sitzkissen. Coolness hatte schon immer ihren Preis, inzwischen mindestens den eines Notebooks. Die Bildschirme lässig über den Knien trafen sie wahrscheinlich gerade die nächste Verabredung für den kommenden Sundowner am Pussybeach.
Über die Terrasse hinweg sah Tom Menschen und Autos vorbeiziehen, mitten durch den gleichmäßigen Schwall aus Motoren und Hupen, durch eilige Stimmen, durch die Beats eines Rap-Songs und durch die Pfiffe winkender Schwarzer, die sich aus ihren Minibussen lehnten, um Passagiere anzulocken.
Wo war seine Leichtigkeit, sein Entdeckergeist, sein Mut, die Dinge mit aller Energie und ohne Bedrückung wahrzunehmen? All das mit den Händen zu greifen und durch die Luft zu würgen? Tom wusste es nicht, und dieser Besuch in einem Land der unterdrückten Energien brachte ihn bislang kein Stück näher in Reichweite einer Antwort. Im Gegenteil. Unter all den Schichten rief ihn ganz und gar nichts an die Oberfläche, er schwamm. Es drängte ihn sogar, im Falle eines Falles noch weiter abzutauchen, das spürte er.
Drei Biere weiter - Tom beschäftigte gerade die Frage, ob er als Reisender einfach nicht mehr geeignet wäre - blieb ein Souvenierverkäufer in Shorts und T-Shirt vor der Terassenbrüstung stehen. Sein Lächeln entblößte eine breite Lücke fehlender Zähne, während er auffordernd zwei Pappdeckel nach oben hielt, auf denen Sonnenbrillen befestigt waren. Die Stimme der blondierten Tucke wehte nach draußen und transportierte kehlig die Erwartung eines Lacherfolgs. "Ey Dude, wenn du mich irgendwann auf der Straße triffst und ich trage eine von deinen Sonnenbrillen, tu mir einen Gefallen: erschieß mich!" Er lachte selbstzufrieden, seine Begleiter dienstfertig und der Rest der Gäste beiläufig.
Der Verkäufer lächelte kurz und sagte kauend mitten in das abebbende Kichern: "Ich trage nie Waffen bei mir", er deutete auf seine Stirn, "es ist alles in meinem Kopf". Ein kurzer Blick in den Kreis aus guter Laune und er schlenderte weiter.
Über diese Entgegnung hatte Tom wohl etwas zu breit gegrinst. Der Barmann stellte eine frische Bierflasche vor ihm ab und deutete kurz zu Blondie, der am Stehtisch mit halb geschlossenen Augen feixend sein Weinglas hob. Unwillkürlich sah sich Tom an eine Zeile von Jörg Fauser erinnert: "Pass auf, dass du im Lokus nicht ausrutscht und dir deinen parfümierten Schwanz brichst" - besser konnte man es nicht sagen.
Tom zahlte, schob dem Alten die Bierflasche rüber, stand auf und verließ das Lokal über die Terrasse. Er sah ins letzte Schimmern des Himmels, hörte Autos und Menschen, roch die Mischung aus Autobenzin und gebratenem Fleisch. Tom blickte auf zum Tafelberg und setzte seinen Weg fort.