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Reizdarm Symphonie
Toilettenbesuche, fern von zu Hause, sind für mich schon immer mit einer Vielzahl von Problemen verbunden gewesen. Es war und ist mir eigentlich auch heute noch unangenehm, mit Ausscheidungen jeder Art in Verbindung gebracht zu werden.
Was sollen die Leute denn von mir denken?
Solange ich nicht wirklich dringend muss, versuche ich es zu unterdrücken, bis ich mich wieder in meinen eigenen vier Wänden befinde, wo ich mich mit aller Hingabe und Gründlichkeit der Erledigung meiner Geschäfte widmen kann.
Einige meiner Freunde, die vor einiger Zeit hinter mein Problem gekommen sind, nachdem ich mich verfrüht von Partys, Kinobesuchen und anderen gesellschaftlichen Verpflichtungen zurückgezogen hatte, meinten, dass das eine Angelegenheit sei, über die es sich lohnen würde, einmal mit einem Psychotherapeuten zu lamentieren.
Das ist jetzt aber schon eine Weile her und Dr. Ahmud half mir da auch nicht sonderlich.
Bei unserer ersten und somit vorletzten Sitzung riet er mir, meine Ernährung insoweit umzustellen, dass ich an Tagen, an denen ich Unternehmungen geplant hatte, vorher nichts zu mir nehmen sollte, um unverkrampft meine Freizeit genießen zu können. Damals erschien mir sein Ratschlag nur logisch: keine Ernährung, keine Verdauung, keine Toilette.
„Perfekt!“
Als ich nach dem Gespräch die Pforte hinter mir zuzog, hörte ich ein scheinbar lang unterdrücktes Prusten, was mich dazu veranlasste, die gerade geschlossene Tür plötzlich und unerwartet wieder zu öffnen, um den Schurken auf frischer Tat zu ertappen.
„Ja bitte?“ Der Doktor blickte mich verständnisvoll über seine Brillengläser an.
„Oh ... Äh, ach nichts.“
Noch unerträglicher als der Gebrauch öffentlicher Toiletten sind die Besuche bei Freunden und die Eventualität, deren stilles Örtchen benutzen zu müssen. Nicht nur, dass die Hygiene in deren Badezimmern meistens doch sehr zu wünschen übrig lässt, was die braunen Streifen am Toilettenrand, der Urinstein und natürlich der ammoniakhaltige Dunst, der über allem zu schweben scheint, beweisen. Auch die Vorstellung, ich könnte Spuren meiner Niederkunft hinterlassen, die im Nachhinein eindeutig auf mich zurückzuführen sein könnten, lässt mich erschaudern.
Manchmal träume ich auch davon, worauf ich an dieser Stelle aber lieber nicht eingehen werde. Dr. Ahmud weiß warum.
Worauf ich aber nun endlich eingehe, bevor Ihre Augenlider noch schwerer werden, ist der heutige Tag.
Seit einer Weile beobachte ich eine sehr attraktive junge Frau in der U-Bahn. Sie fährt wie ich jeden Morgen mit der Fünfundsiebzig um Sieben Uhr Zweiunddreißig in Richtung Hauptbahnhof. Letzten Mittwoch habe ich es gewagt, sie anzusprechen. Sie heißt Leonie, ist siebenundzwanzig, Arzthelferin bei einem Neurologen in der Innenstadt und wir treffen uns heute ... Genauer gesagt, jetzt.
„Ah, da bist du ja.“ Sie sieht fantastisch aus und duftet wie eine frischgemähte Wiese nach einem Regenschauer im Hochsommer, anders ausgedrückt Lenor Sommerbrise mit einem Hauch Lulu. Genau mein Ding.
„Wollen wir?“
Wir schlendern durch die Gassen unserer Altstadt und verstehen uns bestens. Sie ist ein sehr reinlicher Mensch, achtet auf ein gepflegtes Äußeres und, wie sie sagt, einen ordentlichen Haushalt, alles Eigenschaften, die mir besonders wichtig sind bei der Wahl meiner Partnerin.
„Ich habe Hunger!“, sagt sie, als wir am Anadolu vorbeikommen.
„Komm Micha, wir essen ein Döner.“ Damit habe ich nicht gerechnet.
„Äh, eigentlich habe ich keinen Hunger, aber du kannst ja ...“
„Ach komm, wir essen etwas zusammen.“ Mein Magen schreit nach Nahrung, schließlich habe ich im Hinblick auf mein Rendezvous, seit gestern Abend nichts mehr getrunken und gegessen.
Meine Neurose schreit nach Fasten, aber wer hört an einem so schönen Abend schon auf seine Ängste. Laut meiner Uhr ist es ein Uhr dreiundzwanzig. Das heißt, unsere Wege werden sich vermutlich sowieso gleich trennen, da sie morgen früh raus muss und ...
„Na gut, ich lade ein.“
Der Döner-Teller ist nicht mehr der Frischeste, aber unsere Konversation vertieft sich, da kann ein wenig vertrocknetes Fleisch die Stimmung nicht verderben. Sie hat sich vor einem halben Jahr von ihrem Freund getrennt und vermisst die körperliche Nähe, die eine funktionierende Beziehung so mit sich bringt. Dass ich aufgrund diverser Schwierigkeiten noch keine derartige Beziehung hatte, verschweige ich bewusst.
„Aha, ja das kenne ich", sage ich trotzdem und genehmige mir ein zweites Bier. Unsere Blicke verschmelzen beim Anstoßen und drängen die ersten Signale meiner Blase auf ihr Recht auf Entleerung in den Hintergrund.
„Wollen wir dann mal gehen?“, fragt sie nach einer Weile mit ihrem kandierten Lächeln.
„Ja klar, wir sitzen hier ja schon seit einiger Zeit.“ In meinem Magen tobt ein Unwetter, seltsame Geräusche finden dort ihren Ursprung und entladen sich in den Windungen meines Darmes. Wir machen uns auf den Weg.
Nach einem kurzen Nachtspaziergang, stehen wir vor ihrer Haustür.
„So ...“ Ich hoffe wir werden uns bald wieder sehen, es war schön mit dir.
Sie kommt näher, ich strecke meine Hand aus, um mich zu verabschieden.
Vor meinem Gesicht angekommen presst sie mir ihren saftigen Mund auf den meinigen, ihre Zunge windet sich durch meine erschrockenen Lippen, während ich meinen Beißreflex in letzter Sekunde doch noch zu bändigen vermag.
„Komm mit hoch!“, haucht sie, was durch das noch nicht all zu weit entfernte zwiebelgemüsehaltige Mahl etwas an Reiz verliert, mich aber nicht von meinem Vorhaben abbringt. Denn obwohl Darm und Geschlecht sich bekanntermaßen in unmittelbarer Umgebung voneinander befinden, scheint eine gemeinsame Kommunikationsform noch unentwickelt, denn ich sage:
„Ja, Okay! Lass uns hoch gehen!“ Akute Blutleere, zumindest in einem für rationale Entscheidungen nicht unwichtigen Körperteil.
Sie zerrt mich rückwärts laufend Richtung Hauseingang und drückt mir noch ein paar leckende Küsse in mein verdutztes Gesicht. Auf ihrer Etage angekommen, öffnet sie ihre Wohnungstür ohne ihren lüsternen Blick von mir abzuwenden.
„So was habe ich noch nie gemacht.“ Ein leichtes Gluckern, beginnend im Unterleib bis hoch in die Speiseröhre, begleitet meine Worte.
„Ich auch nicht.“
Einige Lichtschalter weiter und um ein paar Kleidungsstücke ärmer stehe ich in einem Wohnzimmer, das an Ordnung und Geschmack für Normalsterbliche wohl unerreichbar sein dürfte. Es ist, als stünde ich im Titelbild von Schöner Wohnen.
„Du hast es aber gemütlich hier!“ Ich rieche an der Raumduftkerze auf ihrer Fensterbank.
„Lavendel.“
„Komm her!“, sagt sie jetzt etwas fordernder. Mein Magen fühlt sich seltsam an.
„Oh, Origami für Falter, das habe ich auch ...!“ Glucker.
Sie zerrt an meiner Hose, die dank guter Verarbeitung für Außenstehende leicht zu öffnen ist, so dass ich nach ein paar weiteren Sekunden nur noch in Boxershorts und Socken vor ihr stehe, während sie den Rest meiner Kleidung in die Ecke pfeffert. Meine gewölbte Unterhose spricht eine unmissverständliche Sprache, die Leoni mit einem entzückten Lächeln registriert und sich katzenhaft in meine Richtung bewegt.
Was ich registriere, mich aber keineswegs zum Lächeln veranlasst, ist der immer stärker werdende Orkan, der sich in meiner Magengegend und meiner Blase ausgebreitet hat und kurz davor zu sein scheint, in die Außenwelt vordringen zu wollen. Ich kann nicht mehr ...
„Vielleicht ... Vielleicht sollte ich vorher noch mal auf Toilette gehen.“ Habe ich das gesagt?
„Ja mach das, ich mach es mir schon mal bequem.“ Nein, ich kann nicht.
„Ja, oder ...“ Ich kann jetzt nicht nach Hause gehen, nicht jetzt. Oder doch?
Jetzt spielt sich ein unbezähmbarer Harndrang in den Vordergrund und treibt mich zum Äußersten.
„Wo ist das Badezimmer, bitte?“ Bitte!
„Gleich die Türe da.“ Wo gibt es denn so was, das Klo grenzt ans Wohnzimmer, da kann ich ja gleich hier ...
„Ja, danke!“ Ich eile ins Bad und drehe hektisch den Schlüssel um die eigene Achse.
Jetzt aber schnell.
„Bitte setzen!“, dringt es von Außen an mein Ohr.
„Oh nein!“ Kaum berühre ich den Rand, bahnt sich in die Freiheit, was lange eingesperrt war und bringt mir in Erinnerung was Sitzpinkeln mit Erektion für Nachteile birgt. Ein satter Strahl zwängt sich zwischen Brille und Becken und findet sein Ziel auf dem weißen Badehandtuch mir gegenüber, dem ebenfalls weißen Plüschvorleger und meiner Short, die es in der Eile nur bis kurz über meine Knie geschafft hat.
Als wäre es der Schmach noch nicht genug wird die Fontaine akustisch von einem Grollen begleitet das in einem feuchten Schmatzen endet.
Schnell gebe ich hustende Laute von mir, um mein Publikum auf eine falsche Fährte zu locken, während ich den Widerspenstigen nach unten presse, um den verheerenden Strahl zu bändigen, mit der Folge, dass mir leider die Kontrolle über den zweiten Schließmuskel erneut entgleitet.
„Nein! Nicht!“
Wieder bahnt sich Luft durch mein Gewinde, entlädt sich diesmal aber in einem quietschenden Singsang, der von mir nur durch fröhliches Pfeifen übertönt werden kann.
„Alles in Ordnung?“
„Alles bestens!“
Irgendwie muss ich die Sachen trocknen.
Ein Fön, ich brauche einen ...! In meinem Magen regt es sich wieder, will hinaus in die Welt. Noch einmal kann ich das Getöse nicht übertönen.
„Kein Fön.“
Eilig presse ich meine Handfläche vor den Ausgang, in der Hoffnung den Schall damit zu dämpfen, was sich schnell als fataler Fehler herausstellt, da es sich bei dem Herannahenden längst nicht mehr nur um Luft handelt. Jeder der schon mal die Hand unter einen voll aufgedrehten Wasserhahn gehalten hat, weiß wovon ich spreche.
Erschrocken, aber doch zu spät, ziehe ich meinen Arm aus der Schüssel, wodurch der Damm bricht und dem Gefälle freien Lauf lässt. Rülpsend und kreischend füllt sich das Becken. Wie Satchmo in besten Zeiten spielt das Orchester sein leidenschaftliches Konzert, während mir eine Ohnmacht droht.
„Was ist denn bei dir los?“, höre ich Leonis entgeisterte Stimme fragen.
„Irgendetwas scheint mit deinem Abfluss nicht in Ordnung zu sein.“
Was soll ich nur tun?
Die Kapelle legt eine Unterbrechung ein, Zeit sich frisch zu machen. Als erstes meine Hand, dann ...
„Oh mein Gott!“ Auf der Suche nach Papier fällt mir das neue Sprenkelmuster der Tapete ins Auge, auch der Badzimmerboden samt des weißen Flauschs, lässt leichte Änderungen in der Farbgestaltung erkennen.
„Ich glaube, ich dusche noch schnell!“ Was soll ich sonst auch sagen?
„Was, wieso?“ Die Klinke bewegt sich, Leoni will rein.
„Nein, das geht nicht. Ich bin nackt!“ Ich brauche Zeit.
Ich hechte zur Wanne, drehe das Wasser auf und halte meine verschmutzte Hand unter den warmen Strahl.
„Ein Bad wäre jetzt auch nicht schlecht!“
Der Gong schlägt zum zweiten Akt, die Zuschauerreihen füllen sich wieder, der Dirigent gibt sein Zeichen und ...
„Was machst du da?“ Leoni hämmert gegen die Tür.
Nass und warm schießt es an meinen Innenschenkeln entlang Richtung Vorleger, während Satchmo sein Solo trompetet und sein Orchester langsam zum Höhepunkt führt.
Kraftlos und ausgelaugt sacke ich auf den Badewannenrand. Das ist mein Ende.
„Ich glaube das wird nichts mit uns, Leoni. Ich mache Schluss!“
Der finale Ton liegt noch in der Luft, als ich das Fenster passiere und mich an der Regenrinne herunterhangele, bis auf den Rasen des Vorgartens. Von oben dringt das Geräusch eines aufbrechenden Türschlosses an meine Ohren.
Das Publikum fordert eine Zugabe, die Sekunden später durch ein hysterisches Kreischen gegeben wird.
Ich mache mich eilig auf den Weg nach Hause.
Es ist als Vorteil zu sehen, dass in diesen frühen Morgenstunden niemand unterwegs ist, so bleibt meinen Mitmenschen der Anblick eines breitbeinig laufenden Unterhosenträgers erspart, der sich von Gebüsch zu Gebüsch schleicht, um nicht entdeckt zu werden. Ich brauche mein Badezimmer, meine Feuchttücher, meine Dusche und dann Schlaf.
„Schlafen!“
Anstrengende Tage liegen vor mir, ein Umzug ist zu planen, ein Job zu kündigen. Vielleicht schaffe ich es, meinen Namen ändern zu lassen.
Hinter einer Hecke nicht unweit von meinem Haus muss ich eine letzte Pause einlegen ...
Und das Ensemble spielt seine Symphonie, während über den Dächern im Osten schon langsam die Sonne aufgeht.