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Remembrance
Jean Paul schrieb einst, Erinnerungen seien das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können – aber manchmal irrt sich auch ein Schriftsteller. Diese Erkenntnis kam Rémy bei einem Besuch seiner Oma Celia.
Er fuhr morgens mit seinem Firmenwagen aus Rheinbach nach Auw bei Prüm. Er genoss die Fahrt auf den kurvigen Straßen. Dabei stellte Rémy sich vor, die Strecke mit dem Motorrad zu fahren: wie er leicht abbremste, durch die Kurve blickte, die Schräglage genoss, den Scheitelpunkt abpasste, um dann zu beschleunigen. Auch wenn er seine MT07 schon länger nicht mehr besaß, ließ ihn die Erinnerung an seine Touren in der Eifel lächeln. Damals war es seine Oma gewesen, die ihm den ersten Job in der Dorfbäckerei beschafft hatte, mit dem er sich seine Maschine finanzieren konnte.
In Auw angekommen fuhr er an der Kirche, der freiwilligen Feuerwehr vorbei und stellte seinen Wagen vor ihrem Haus ab. Rémy klingelte, keine Reaktion. Nach zwei weiteren Versuchen öffnete Oma Celia endlich die Tür, ihre Haare zerzaust. „Hallo, Oma.“
„Rémy? Was ... was machst du denn hier?“
Er antwortete lächelnd: „Ich hab dir am Telefon gesagt, dass ich heute vorbeikomme. Hast du’s vergessen?“
Oma Celia schüttelte den Kopf: „Ich ... ich weiß nicht. Hab ich wirklich? Oh Gott, ich hab bestimmt auch vergessen aufzuräumen.“
„Alles in Ordnung, Oma. Du musst dich deswegen nicht stressen. Ich bin ja nicht das erste Mal hier.“
„Na dann komm rein. Du musst bestimmt denken, ich werd langsam verrückt ... erst dieses Vergessen und jetzt tauchst du einfach auf, und ich bin völlig ... völlig durcheinander.“
Rémy nahm ihre Hand. „Oma, wir gehen’s ganz in Ruhe an, okay? Ich bin nur froh, dich zu sehen.“
„Du bist ein guter Junge, Rémy. Dass du dir all die Mühe machst ... ich weiß das gar nicht zu schätzen. Du verschwendest deine Zeit.“
„Das ist keine verschwendete Zeit. Ehrlich. Das hier ist das Beste, was ich machen kann.“
Oma Celia sagte leise, fast flüsternd: „Und ich hab’s wirklich vergessen ... dabei hab ich mich doch so gefreut, dass du kommst.“
„Dann freust du dich jetzt einfach nochmal. Doppelte Freude heute – passt doch.“
„Ach, komm rein, komm rein ... oder hab ich das auch schon gesagt?“
Während Oma Celia sich auf das Sofa unter ihre Wärmedecke legte, ging Rémy in die Küche und machte Kaffee. Er öffnete den Wasserbehälter und achtete darauf, nicht zu viel einzugießen, um genau bei der Markierung zu stoppen. Als nächstes setzte er den Papierfilter ein, holte den Kaffee aus der Kaffeedose mit dem blauen Sternenmuster die in seiner Erinnerung schon immer in dieser Küche gewesen war, löffelte Pulver in den Filter, schaltete die Maschine ein und lauschte dem durchlaufenden Wasser. Während er wartete, schaute er sich um und sein Blick fiel auf die Bilder über dem Esstisch: Da waren Rémy und seine Schwester zu sehen, wie sie im Garten auf dem alten Kletterbaum saßen, seine beiden Cousins beim Schnitzen, ein Familienfoto von Omas 85. Geburtstag, ein Hochzeitsbild von Rémys Eltern und ein Portrait von seinem verstorbenen Opa mit einer Pfeife im Mund. In einem Regal daneben standen Fotoalben. Ob das Oma Celias Stimmung aufheiterte, wenn sie sich gemeinsam Bilder ansahen? Vielleicht half ihr das beim Erinnern und würde ihr ein wohliges Gefühl geben. Rémy nahm ein Fotoalbum mit der Helgolandreise von vor vierzehn Jahren in die Hand und blätterte darin, bis der Kaffee durchgelaufen war.
Nachdem er den Kaffee serviert hatte, sagte Rémy: „Oma, schau mal, was ich gefunden hab.” Er schlug die Seite des Fotoalbums mit der Wappen von Hamburg, dem Hafen und Bildern von der Düne auf. „Da gab’s noch die alten Hütten auf Helgoland. Weißt du noch, wie wir da Tiger Prawns mit Knoblauch gegessen haben?”
„Helgoland? Nein, da war ich noch nie”, sagte Oma Celia, während sie die Seiten durchblätterte. „Ich kenne die Bilder nicht.”
„Aber wir sind ja fast jedes Jahr dort gewesen.”
Auf einem Bild war sie auf dem Schiff zu erkennen.
Stille.
Dann sagte sie: „Manchmal ... manchmal glaub ich, ich verschwinde einfach. Stück für Stück. Und dann bleibt nur noch ... nichts.“ Sie legte das Fotoalbum weg.
Für einen Augenblick fragte er sich, wie lange sie wohl noch alleine klarkommen würde.
„Solange ich hier bin, bleibt alles da. Du, ich, die alten Geschichten. Alles", sagte Rémy.
Celia blickte ihn an, die Stirn noch immer in Falten. „Die alten Geschichten ... meinst du wirklich, die bleiben?“
„Natürlich. Wir könnten gleich eine alte Geschichte wiederbeleben. Wie wär’s, wenn wir eine Runde Rummikup spielen?“
„Rummikup? Was ist das denn?“
„Na, weißt du nicht mehr? Das haben wir immer gespielt. Ich hab fast nie gegen dich gewonnen.“
„Es ... es sagt mir nichts, Rémy. Wirklich nichts. Spielt man das mit Karten?“
„Mit kleinen Steinen und Zahlen drauf, weißt du? Du hast mir immer erklärt, wie die Reihen gehen. Einmal hab ich gemogelt, und du hast’s sofort gemerkt.“
„Vielleicht hab ich das ja gern gespielt, früher ...“
„Du hast es geliebt. Aber ist auch egal, Oma. Wir können einfach was anderes machen.“
Oma Celia sagte leise, als spreche sie mehr zu sich selbst: „Alles, was ich geliebt hab ... es verblasst einfach. Ein leeres Blatt, nichts bleibt … Du bist ein guter Junge, Rémy. Schade nur, dass ich ... dass ich nicht mehr dieselbe bin.“
„Für mich schon. Immer. Wollen wir spazieren gehen?“
Sie liefen die klassische Runde, vorbei an dem Kindergarten den Berg hinauf. Die frische Luft tat ihnen beiden gut. Oma Celia erzählte wieder und wieder dieselben Geschichten aus dem Dorf und Rémy hörte zu und lachte mit ihr. Tante Greta hatte noch mehr zugenommen, die Enkelin der Chorleiterin studierte in Aachen Maschinenbau und sie hatte Hubert aus ihrer alten Schulklasse getroffen.
Schließlich machten sie sich auf den Rückweg und Oma Celia führte sie vorbei an den alten Linden zum Friedhof. Dort hielt sie vor einem Grabstein an. Paul Leblanc. Ihr verstorbener Ehemann und Rémys Opa. Auf dem Grabstein war ein französischer Schriftzug eingraviert: la remembrance de quelqu'un.
„Ich hätte Blumen mitbringen sollen”, sagte Rémy.
„Wieso denn Blumen?”