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Renaturalisiert

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01.10.2010
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Renaturalisiert

„Du hast ja gar keine Ahnung, was es für ein Gefühl ist, einen Menschen getötet zu haben. Glaub mir, das ist mit nichts vergleichbar, was du kennst. Schuldgefühle spielen natürlich eine Rolle, aber nicht nur. Vor allem staunst du über dich selbst, wozu du fähig bist... Klar ist das zuerst scheiße, was denkst du denn? Aber ich KANN in den Spiegel sehen; irgendwann geht das ganz wunderbar“, phantasierte Alexandra. Natürlich alles nur Spaß, klar. Adam sah das anders. „Du nervst, Alex. Erzähl das deiner Katze, wenn du ihr den Darm massierst“, sagte er, seinen Mittelfinger auf obszöne Weise anwinkelnd. „Ist ja gut. Pack den Finger ein, den Finger... bitte. Wenn jemand pervers ist, dann der Tierarzt, der mir diesen Tipp gab, nicht ich, okay?!“ Adam lachte nur, denn er sah Eddö, der ebenfalls THE FINGER zur allgemeinen Belustigung einsetzte.

Am Nachmittag traf man sich am Strand des Baggersees. Ein edler Kampf sollte stattfinden. Zukic und Zahovic ließen sich von Alexandra überreden, ihrem schon ewig schwelenden, mit giftigsten Mitteln geführten Streit endlich beizulegen. „Gewalt hilft gegen Dekadenz“, sagte sie, „oder was glaubt ihr, warum sie damals alle so berauscht in den Ersten Weltkrieg gezogen sind?“ Neben Alexandra und den beiden Streithähnen waren auch Adam und Pjotr anwesend, angeblich um aufzupassen, dass auch ja niemand zu Schaden komme. Wahrscheinlicher ist, dass sie gerade deshalb gekommen waren, um ein bisschen Blut spritzen zu sehen. Wie auch immer, Alex spielte die Schiedsrichterin in diesem serbisch-slowenischen Vergleich.

Das Wetter war feucht und kalt, der Himmel grau. Außer den Fünfen war niemand am Strand zugegen. Der Kampf an sich verlief durchaus blutig und ernst, nur war er ästhetisch vollständig wertlos, was die Handvoll Zuschauer enttäuschte, da beide Kämpfer als Verehrer Jackie Chans bekannt waren. Als der zu Boden geschlagene Zahovic seinem Kontrahenten Sand in die Augen warf, griff Alexandra ein: „Seid ihr schwul? Dieses unförmige Herumgerutsche könnt ihr euch sparen. Und sprecht gefälligst deutsch! Eure Serboscheiße könnt ihr zu Hause sprechen; beleidigt euch so, dass alle was davon haben.“ Etwas verdutzt unterbrachen die Angesprochenen ihren Kampf und klopften sich den Sand aus der Kleidung. „Nichts ist so wichtig, dass nicht auch wichtig wäre, wie es geschrieben ist, sagt Davila“, sagte Alexandra, „das Gleiche gilt auch für die Kampfkunst. Hört ihr: Kunst!"

Diese Zwischenrufe zeitigten nur bedingten Erfolg: Der Kampf wurde nicht ansehnlich, dafür aber brutaler. Wie zwei erblindete Boxer schlugen die beiden aufeinander ein, so unkoordiniert wirkten ihre Bewegungen. Sie zielten immer dorthin, wo sie das Stöhnen des anderen verorteten. Endlich traf Zahovic Zukic voll in die Fresse, so dass der das Gleichgewicht verlor und in den Baggersee stürzte.
„Gewonnen!“, jubilierte Zahovic, während Pjotr den Getroffenen aus dem Wasser zehrte. „Spinnst du?!“, schrie Alexandra und versenkte ihre Faust elegant in Zahovic' Magen, so dass er vor ihren Füßen zusammenbrach. „Es geht um Leben und Tod, ihr Heinis! Wenn ihr beide weiterlebt, hat keiner gewonnen, wirklich gesiegt, weil der andere sich später rächen kann. Ihr müsst den Sieg komplett machen! Töten!“

Zahovic und Zukic, beide schwerverletzt in der Gegend herumliegend und nach Luft keuchend, hatten freilich andere Probleme, als sich mit Alexandras exaltierten Ideen auseinanderzusetzen. Der Hass war aus ihren Gesichtern verschwunden. „Friede, Friede“, stöhnte Zukic leise. Doch da setzte Alexandra ihm schon ihren Fuß auf den Hals: „Was hast du gesagt?! Nun gut, wenn ihr solche Waschlappen seid, mach ich euch einen Vorschlag. Ihr rennt aufeinander los wie die Steinböcke, mit den Köpfen voran. Wessen Schädel bricht, hat verloren. Nur dieser eine Schlag, dann seid ihr erlöst, versprochen. Sonst muss ich leider böse werden.“ Pjotr und Adam hörten zwar Alexandras Worte, konnten aber nicht glauben, was sie da von sich gab. Adam nahm seine Freundin in den Schwitzkasten, während sich die beiden Kämpfer, die davon scheinbar nichts mitbekamen, für den letzten, erlösenden Schlag aufrafften. Wie befohlen rammten sie ihre Köpfe mit letzter Kraft gegeneinander. Lautes Knacken. Zahovic hatte den Sieg, das Leben, das Überleben mehr gewollt; sein Schädel wahrte die Form. Zukic' Kopf hingegen borst. Ein tiefer, blutiger Riss ging durch sein Gesicht. Ihre Körper sanken nieder und blieben reglos aufeinander liegen.

Pjotr hatte derweil damit zu tun, Adams Schwitzkasten aufzubrechen. „Verdammt, hör auf damit! Lass sie frei oder ich schlag dich tot!" Doch Adam fügte seiner Freundin nur noch größere Schmerzen zu, so dass sie zu schreien begann. Voller Verzweiflung hämmerte Pjotr seine Faust in Adams Rückenmark. Dieser schrie kurz auf, fiel nach vorne über und begrub Alexandra unter seinem massigen Körper. Pjotr sah entsetzt auf die Toten und hörte das Stöhnen der Sterbenden, während die Sonne wieder herauskam und der Welt ihre vitalisierende Wärme schenkte.

 

Hallo Salamander!

Ja, zunächst kommt mir in den Sinn, was für ein Schlachtfest! :D

Aber in der Geschichte steckt ja etwas mehr. Renaturalisierung, die schrittweise Rückführung der Protagonisten zur Sozialphilosophie der Steinzeit. So weit, so gelungen.

Was mir fehlt, ist der Auslöser. Alexandra ist zwar die treibende Kraft, aber worum geht es in dem „ewig schwelenden, mit giftigsten Mitteln geführten Streit“? Nach welchen Regeln sollte der ursprünglich edle Kampf stattfinden? Das wäre als Vergleich zum tatsächlichen Verlauf interessant.

„Gewalt hilft gegen Dekadenz“ guter Spruch, aber er erlangt für die Geschichte keine Bedeutung. Und was hat das alles mit Serbien und Slowenien zu tun?

Ich steh mit beiden Füßen auf der Leitung.

Gruß

Asterix

 

Danke für deinen Kommentar, Asterix, in dem du ein ganz zentrales Problem, wohl eines der tiefsten, die es gibt, ansprichst. Das Problem des RADIKAL BÖSEN.

Indem Alexandra Davila zitiert, den Kampf als edel bezeichnet und Gewalt als Ausweg aus der Dekadenz beschreibt, betrachtet sie das Geschehen aus der Sicht einer Künsterlin. Und der ästhetische Blick ist der grausamste, wenn man so will. Stockhausen hat die Anschläge ausf WTC das größte Kunstwerk der Welt genannt. Das ist der eisige Blick des vollendeten Ästheten, der auf nichts mehr Rücksicht nimmt. Ähnlich ist es mit Alexandra. Wie durch eine Glasscheibe betrachtet sie die Welt einzig als Kunstwerk...

Wie kann man das Böse, jene letzte Einsamkeit, in die kein empathischer Lichtstrahl mehr dringt, darstellen? Sicher, man könnte Traumata, eine schwere Kindheit, Vergewaltigungen etc. heranziehen, doch all das würde wieder nur zur Empathie einladen, ein Verstehen ermöglichen und damit den Eindruck relativieren. Nein. Ich wollte den Willen zum Tod darstellen, rein, ohne versöhnliches Lächeln, ohne eingreifendes Realitätsprinzip. Und ja, das ist verdammt schwer und mir vermutlich misslungen.

Die Nationalitäten der Kämpfer sind an und für sich nicht von Belang, sie könnten allerdings für ihren Streit eine Rolle spielen. Dieser Streit jedoch spielt wiederum nur eine untergeornete Rolle in diesem Gewaltfragment.

 

Dann lag ich mit meinen ersten Gedanken doch nicht so falsch.
Ich hatte nur ein Problem, Dekadenz mit den Konflikten in der Ex-Jugo-Region zu verknüpfen. Letzteres erhielt bei meiner Analyse der Geschichte zu viel Gewicht; da springt halt einiges an, im Kopf.

Ich meine, es wäre besser, du nimmst die Nationalitäten raus.

„oder was glaubt ihr, warum sie damals alle so berauscht in den Ersten Weltkrieg gezogen sind?“ passt sehr gut ins Bild.

Gruß

Asterix

 

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