- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Renovation
„Jenny!!!“
Genervt legte diese ihre Zeitschrift beiseite und schrie zurück: „Was ist?“
„Stell endlich die verfluchte Stereoanlage ab!“
Jenny drehte am Lautstärkeregler und blickte zu dem zappeligen Kerl, der ihr Vater zu sein behauptete. „Besser?“
„Ich habe gesagt, du sollst sie abstellen.“, beharrte er und strich nervös sein schütteres Haar glatt. Das Mädchen seufzte und drückte widerwillig den Knopf, worauf die eben noch dröhnende Musik verstummte und die Lichter der Anzeige erloschen. Fordernd sah sie auf zu ihrem Vater und erwartete, dass dieser das Zimmer wieder verlassen würde. Aber er blieb.
„Ist noch was?“, wollte sie wissen.
„Es ist 14 Uhr.“
„Ich habe eine Uhr!“, murrte Jenny, obwohl ihr klar war, was der Alte meinte. Aber dieses Wissen hob ihre schlechte Laune kaum an.
„Wir haben gesagt, dass wir um 14 Uhr abfahren“, erklärte ihr Vater ungeduldig. Jenny stöhnte: „Aber Daddy, ich muss arbeiten!“
„Das behauptest du immer. Und das sind natürlich deine Schulhefte, hm?“ Er wies auf die Mädchenzeitschrift, welche Jenny eben beiseite gelegt hatte. Sie zuckte mit den Schultern und begründete: „Ich muss mich doch auch einmal erholen können.“
„Erholen kannst du dich bei den Grosseltern genau so gut.“
Jenny glotzte ungläubig zu ihrem Vater: „Spinnst du?“
„Was ist denn?“
„Ich soll mich bei deinem Papi und deiner Mami erholen?“ Sie verzog das Gesicht zu einer skeptischen Grimasse.
„Spricht was dagegen?“
Darüber musste Jenny laut lachen und als Vater sie daraufhin verständnislos anstarrte, erklärte sie gereizt: „Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als zwei Stunden bei den Alten zu sitzen und ihr dämliches Geschwafel anzuhören.“
„Aber es gibt doch immer feine Sachen zum Essen?“
„Fein? Ich nehme lieber ab, als diese ‚feinen’ Sachen zu essen.“
„Hör auf, so über die beiden zu reden. Sie geben sich Mühe!“
„Na und? Mir wär’s lieber, sie würden mich in Ruhe lassen.“
Stur betrachtete Jenny den Einschaltknopf der Stereoanlage, doch ihr Vater verharrte unnachgiebig. Schliesslich schaute sie elend auf und flehte: „Darf ich nicht bleiben? Bitte!“
Doch er schüttelte den Kopf. „Kommt nicht in Frage.“
„Da, das ist Timo!“ Jenny winkte dem Jungen auf dem Trottoir zu und der erwiderte ihr Lächeln. Aber schon war das Auto vorüber gerauscht und Jenny wandte sich wieder ihrem Vater zu. Dessen Blick folgte konzentriert der Fahrbahn.
„He, wie lange müssen wir denn dort sein?“
„Bis zum Abendessen.“
Jenny reklamierte: „Dann komm ich zu spät zur Party.“
„Was für eine Party soll das sein?“, erkundigte sich ihr Vater argwöhnisch.
„Eine ganz normale Party. Ein paar Jungs, ein paar Mädchen.“
„Und Alkohol?“
„Nein, Vater, kein Alkohol!“, antwortete Jenny überdeutlich. Sie wand sich unter dem Sicherheitsgurt und versuchte, aus dem Rückfenster zu schauen.
„Was machst du da?“
„Ich will nochmals Timo sehen.“
„Wir sind längstens ausserhalb des Dorfs!“
„Sieht so aus.“ Sie setzte sich wieder hin und blickte stumm aus dem Seitenfenster, wo auf den parallel verlaufenden Bahngeleisen ein Schnellzug die Autos überholte.
„Was ... was ist dieser Timo für einer?“
„18, arbeitslos, drogensüchtig und gewalttätig.“, knurrte Jenny. Sofort warf der Vater seiner Tochter einen erst schockierten, dann wütenden Blick zu.
„Das ist nicht witzig!“, bemerkte er verärgert. Seine Finger umkrallten das Steuerrad, wie Jenny schmunzelnd feststellte.
Die tristen Mauern der vorstädtischen Wohnhäuser zogen am Auto vorbei. Darüber hingen Wolkenschleier und es schien, als würden bald die ersten Tropfen fallen.
„Bitte, sei freundlich zu den beiden!“, bat der Vater Jenny, als würde er sich vor ihrer Unberechenbarkeit fürchten.
„Ich versuch es zumindest. Aber es wird mir schwer fallen.“
„Was hast du bloss gegen meine Eltern?“
„Sie sind die langweiligsten Menschen, die ich kenne. – Du natürlich nicht mitgezählt.“
Der Vater schluckte die Bemerkung ohne äussere Reaktion, blinkte und fuhr in die Nebenstrasse. An deren Ende befand sich das Mehrfamilienhaus, in welchem Jennys Grosseltern wohnten. Die Fassade lag verborgen hinter einem gelben Gerüst, auf welchem drei Bauarbeiter herumkletterten.
„Es gab einige Verzögerungen bei der Renovation. Sie wird wahrscheinlich bis nächste Woche dauern“, erklärte Vater, „aber in der Wohnung wird uns niemand stören.“
Er parkierte den Wagen am Strassenrand und stieg aus. Jenny folgte ihm die Treppe hinauf in die zweite Etage und wartete vor der Eingangstüre. Auf das Klingeln folgten die hastigen Schritte der Grossmutter, ein Schlüssel wurde umgedreht, die Klinke niedergedrückt.
„Markus!“, lachte die hinter der Türe erscheinende Frau und umarmte ihren Sohn. Aus dem Innern war bereits die raue Stimme des Grossvaters zu vernehmen: „Endlich wieder einmal ein Besuch!“
Jennys Vater trat ein und entschuldigte sich: „Ich muss viel arbeiten.“
„Das behauptest du immer. Und trotzdem hast du plötzlich am Mittwochnachmittag Zeit, uns zu besuchen.“
„Jennifer!“, wurde die weitere Unterhaltung der beiden Männer unterbrochen von der schrillen Stimme der Grossmutter. Sie war einen Kopf kleiner als Jenny, so dass diese sich bücken musste für die Umarmung.
„Wie gross du schon wieder geworden bist!“ Jenny hatte gewusst, dass dieser Satz fallen würde! Immer, immer, immer! Obwohl sie seit einem halben Jahr nicht mehr gewachsen war. Doch ehe sie sich richtig darüber aufregen konnte, spürte sie schon die Lippen ihrer Grossmutter auf der Wange und erwiderte die Küsse so herzlich wie möglich. Der Speichel, den sie bald auf der Haut spürte, ekelte Jenny an.
Endlich endete die Umklammerung und stolz verkündete Grossvater: „Heute hat meine Frau Quarktorte gemacht.“
„Sie ist bestimmt köstlich“, meinte Markus und lächelte. Sobald sich die beiden Greise abgewendet hatten, formte Jenny mit den Lippen die Worte: „Du hasst Quarktorten doch?“
Ebenso lautlos entgegnete ihr Vater: „Bleib bloss still!“
„Opa, ich glaube ...“, begann Jenny herausfordernd, brach jedoch ab, als Vater drohend den Zeigefinger erhob.
„Kommt, setzt euch!“, quiekte Grossmutter aus dem Esszimmer und Jenny trat in den düsteren Raum. In der Mitte des Tisches ruhte eine gelbe Kreisscheibe, die Quarktorte.
„Sieht fein aus!“, frohlockte Jenny mit übertriebener Artigkeit.
„Ja, wirklich“, überhörte ihr Vater den Unterton und setzte sich neben Opa hin. Auch Jenny liess sich nieder, während die Grossmutter noch den Kaffeekrug aus der Küche holte.
„Und, wie geht’s dir, Kleine?“, wollte Grossvater wissen. Jenny verzog das Gesicht missmutig, zwang sich aber zu einer knappen Antwort: „Es geht mir gut.“
„Das hört man gerne! Und dir, Markus? Geht’s dir auch gut.“
Er wendete sich seinem Sohn zu und Jenny ahnte, dass sie ihre einzigen Worte bis zum Abschied gesprochen hatte. Nun würden die Alten das Gespräch übernehmen und es wie immer in die langweiligste mögliche Richtung führen.
Jenny trank einen Schluck Wasser und nahm das Tortenstück, welches Grossmutter ihr reichte. Es sah wirklich fein aus, musste Jenny zugeben. Aber essen wollte sie es trotzdem nicht. Desinteressiert schaute sie zu ihren Vorfahren hinüber und lauschte ihrer Konversation.
„... die Verteuerungen. In der neuen Filiale kostet eine Senftube über ...“
Das Lieblingsthema! Wie oft hatte sich Jenny schon endlose Diskussionen über Steuererhöhungen, Bahnticketkosten und Senfpreise anhören müssen!
Au! Jenny erschrak. Jemand hatte gegen ihr Schienbein gekickt! Vater natürlich. Er deutete drängend auf die Quarktorte vor ihr und nickte gleichzeitig zustimmend zur nächsten Behauptung von Grossvater. Widerwillig nahm das Mädchen die Gabel zur Hand und ass ein Stück. Nein, schlecht war die Torte nicht.
Sie betrachtete den zurückgebliebenen Halbmond in der Tischmitte. Die Oberfläche glänzte gelblich im Licht der Lampe darüber.
Unwillkürlich kam in Jenny ein tiefes Verlangen auf: Sie wollte ihrem Grossvater die Torte ins Gesicht schmeissen. Grundlos und ohne Emotion. Wie er da wohl schauen würde? Bei der Vorstellung musste das Mädchen kichern. Laut kichern. So laut, dass die anderen aufmerksam wurden und misstrauisch zu ihr sahen.
„Ist etwas?“
„Nur eine Erinnerung“, entschuldigte Jenny sich und versank wieder in der Stille am Ende des Tisches.
„Markus, weisst du noch, damals in Rimini?“, fragte Grossmutter mit einem Schmunzeln im Gesicht, „Die Schlange!“
Ja, ja, die Wasserschlange hätte sie beinahe gebissen, sie hat geschrieen, alle Leute sind wie verrückt zu Hilfe geeilt, ...
„ ... aber die Schlange bestand in Wirklichkeit nur aus einem Algenstrang!“, endigte die ergraute Frau ihre Geschichte. Die drei Alten grölten los, still beobachtet von Jenny. Was hatte diese Menschen nur so schrecklich langweilig werden lassen? Woche um Woche zog an ihnen vorbei wie die vorige. Immer dieselben Gespräche, immer dieselben Witze, dieselben Bemerkungen. Nichts mehr veränderte sich: Ihre Vergangenheit, ihre Leben und ihr Ende waren bereits endgültig und sie ohne Entrinnen.
„Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, fällt mir immer nur Markus’ Frisur ein!“, spottete Grossvater.
Sein Sohn lächelte daraufhin verträumt: „Ja, das war eine Zeit! Da waren wir noch Rebellen.“ Er schwelgte in zufriedenen Erinnerungen.
„Aber diese Rebellen haben wir zum Glück gezähmt“, knurrte Opa. „Ah, Jennifer, willst du noch etwas Quarktorte?“
Sie verneinte kopfschüttelnd. Omas Kaffeelöffel kreiste leise in der Tasse.
„Komm doch, Mädchen! Etwas mehr Speck um den Bauch würde dir gut tun!“, bekräftigte der Greis und Jenny gab seufzend nach.
„Von mir aus, aber nur ein kleines Stück!“
Es wurde abgeschnitten und ihr auf den Teller gelegt. Lustlos begann sie mit den Gabelzinken darin herumzustochern. Dabei wurde Jenny von Grossmutter beobachtet, welche nach einiger Zeit fragte: „He, wieso sitzt du eigentlich immer nur so still da? Lach doch auch einmal mit uns!“
„Worüber soll ich denn lachen?“, erwiderte Jenny düster, „Über die Geschichten, welche du schon zehn Mal oder über die, welche Opa schon zwanzig Mal erzählt hat?“
Omas Kaffeelöffel hörte auf in der Tasse zu kreisen. Unvermittelte Ruhe, die Augen aller auf Jenny gerichtet. Sie schaute zu ihrem Vater, der flehend den Kopf schwenkte.
„Bitte, sei still!“, beschwor er das Mädchen gedanklich.
„Willst ...“, stockte Grossmutter, „Willst vielleicht ... du uns eine Geschichte erzählen?“
Jenny zögerte: „Ich weiss nicht, ich ...“
„Na komm schon!“, forderte auch Grossvater, „Wir sind alt und langweilig! Ich will auch mal was von den Jungen hören!“
Jenny nickte verlegen und öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. Peinliche Stille, alle angespannt wartend. Erinnerungen zogen an Jennys innerem Auge vorbei, Bilder aus vergangenen Zeiten und Pläne für die Zukunft. Aber nicht eines der Bilder blieb stehen, sie verblassten und verschwammen, rasten davon. Jenny sprach kein Wort: Sie wusste nicht, was erzählen. Sie fühlte die Röte in ihrem Gesicht, begann verzweifelt: „Ich ...“
Sie vergass zu atmen, verschluckte sich und hustete.
„Also, das war am ...“ Jenny verstummte. Nichts fiel ihr ein, kein gescheiter Gedanke, kein witziges Erlebnis. Es hatte keinen Sinn, sie war noch langweiliger als die Alten. Was hatte sie schon erlebt? Was getan, was erreicht? Nichts. Tag für Tag sass sie in der Schule, redete über die Jungs und Brad Pitt, hörte Musik, traf sich mit Kolleginnen und langweilte sich. Was war sie schon? Ein Nichts unter vielen.
Zitternd streckte sie die Hand aus und nahm das Wasserglas, trank etwas, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und kapitulierte. Schliesslich steckte sie sich die Gabel mit einem grossen Tortenstück in den Mund und schwieg, versank in Gedankenwelten.
Derweil stellte Grossvater die Ellbogen auf die Tischkante und räusperte sich. Seine übliche Geste, bevor er ein ernsthaftes Thema anschnitt.
„Ach ja, Markus, wegen der Renovation“ – Genau das war ein ernstes Thema für ihn – „Ich frage mich, was du von der Verzögerung hältst.“
„Was meinst du?“, fragte Markus, obwohl er genau wusste, wovon sein Vater sprach.
„Du hast gesagt, dass deine Männer das Haus bis zum Samstag renoviert haben. Jetzt ist der Mittwoch danach!“
Jenny nahm eilig einen weiteren Bissen von der Torte, die Grossmutter holte neuen Kaffee in der Küche und Markus’ Finger begannen hektisch mit der Serviette zu spielen. „Nun, die Baubranche ist sehr komplex. Ich habe natürlich die besten Leute geschickt, weil ihr ja hier wohnt, aber ...“
„Aber was?“, unterbrach Grossvater angriffig.
„Das Wetter kam dazwischen und ...“
„Immer dieselben Ausreden!“ Er schmetterte seine knochige Hand flach auf die Tischplatte, so dass die Gläser erbebten. „Wie viel zahle ich deinem verfluchten Unternehmen? Zwanzigtausend? Dreissigtausend?“
„Die Fassade war total ...“
„Die Fassade interessiert mich einen Dreck!“
Die Lippen von Jennys Vater zuckten nervös. „Ich ...“
„Klappe! Du wirst jetzt dafür sorgen, dass die Typen da draussen endlich einmal schuften! Und ich zahle dir keinen Cent, wenn die Gerüste bis am Samstag nicht fort und die Fassade ...“
Er brach ab, denn Jenny hatte sich abrupt erhoben. Das Mädchen stand tief einatmend am Ende des Tisches und ihr Blick schweifte über die faltigen Mienen der Alten. In ihrem eigenen Gesicht zeigte sich zufriedenes Lächeln. All diese erschütterten Fratzen, die überrascht zu ihr hoch starrten – hatten sie in ihr nur eine weitere bezähmbare Rebellin gesehen? Diese Narren. Jennys Revolution hatte noch kaum begonnen.
„Jennifer?“, fragte Oma besorgt. Diese betrachtete abschätzig die alte Frau, welche in der eigenen Vergangenheit lebte und keine Zukunft mehr sah. Ja, Jenny konnte jetzt hier bleiben, weiter Torte essen und die sterblichen Erinnerungen anderer hören. Eines Tages wäre sie wie alle, unauffällig und bedeutungslos. Oder aber sie verliess die Wohnung jetzt und würde endlich ihr eigenes Leben beginnen.
Jenny mochte keine Abenteuer erlebt, die Welt noch nicht verändert haben, aber sie hatte die Chance hierzu noch! Die Alten – wie gnadenlose Richter sahen sie hoch zu dem Mädchen – hatten ihr Leben längst vergeudet und verschwendet. Ihre Erinnerungen waren wertlos für die Menschen.
Jennys Herz pochte, als ihr die Endgültigkeit des Entschlusses klar wurde. Wie stickig doch die Luft in dem Raum war, wie dunkel die Wände! Kurzes Zögern, aber der Entscheid war definitiv und so verkündete Jenny schliesslich voller Überzeugung: „Vater, ich gehe jetzt!“
„Aber du kannst nicht Autofahren!“, wandte dieser verblüfft ein, „Und du hast kein Geld für ein Bahnbillet!“
„Ich gehe trotzdem.“
Jenny kehrte sich ab, trat zur Türe und verliess die Wohnung. Die Treppe abwärts und unter dem Gerüst der Bauarbeiter hindurch schritt sie ans Tageslicht, atmete erleichtert die kühlfrische Luft. Das Auto ihres Vaters stand am Strassenrand und Jenny lächelte bei dem Anblick fröhlich.
„Ich kann nicht Autofahren?“, flüsterte sie zu sich selbst, „Und ob ich das kann!“