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Reproduktion
Reproduktion
Er betätigte die Taste sechs mal, so dass der Grad der Verkleinerung bei vierzig Prozent lag. Er drückte auf den großen grünen Knopf und das Gerät begann zu arbeiten. Der Lichtstrahl wanderte langsam von links nach rechts. Es war ein älteres Model, keins von diesen neumodischen Dingern mit Display und tausend Optionen die kein Mensch braucht oder deren Existenz überhaupt bekannt ist. Er mochte den Kopierer, das Licht war warm und verhielt sich wie eine Edison-Glühbirne zu einer Halogen-Stange.
Die drei Mädels hetzten ihn er solle schneller machen weil die Klausur bald beginnen würde, er sagte das es schwierig ist etwas so klein wie möglich aus einem Buch heraus zu kopieren, den Text aber dennoch leserlich zu halten.
Er gab einer von ihnen die Kopie, sie nahm sie und sagte es wäre zu dunkel, er drückte eine andere Taste ein paar Mal, drückte erneut den großen grünen Knopf und das Licht wanderte erneut von links nach rechts.
Hastig nahm das Mädchen die Kopie, sagte es sei in Ordnung und bedankte sich. Sie wollte noch zwei und gab ihm vierzig Cent.
Wieder zweimal großer grüner Knopf und die drei waren verschwunden.
Er ging an die Theke zurück und las im Fachmagazin für Reprografie.
Der Xerox Copy Centre C90 sah interessant aus. Er mochte die ganzen technischen Spielereien nicht, aber die Geschwindigkeit hatte es ihm angetan. 90 Seiten pro Minute waren einfach unglaublich.
Gleichzeitig überlegte er, was er mit dem letzten Auftrag wohl mitzuverantworten hatte, die Sicherung einer Karriere weil er einem sehr viel versprechenden jungen Geist, der vom Wege abgekommen war, in einer Notlage geholfen hatte und dieser es sicherlich bei dem einen mal belassen würde?
Oder den Absturz in die Kriminalität und einen frühen Drogentod weil sie beim Täuschungsversuch erwischt wurde, deswegen von der Schule flog und ihre Eltern sie verstießen? Was auch immer.
Ihm wurde befohlen, und er handelte.
Er las weiter, später kam ein abgerissen wirkender junger Mann in den Laden und legte ihm einen dicken Stapel Blätter auf die Theke und bat um fünf Kopien jeder Seite. Er freute sich weil das viele Kopien waren und das endlich mal wieder ein wenig Geld in die Kasse spülen würde.
Er legte den Stapel in den Einzug, drückte viermal eine Taste und betätigte den großen grünen Knopf. Der junge Mann fragte:"Darf ich rauchen?". Zuerst wollte er nein sagen und den jungen Mann bitten vor den Laden zu gehen, allerdings war es draussen kalt und eine einzige Zigarette würde das Papier schon nicht vergilben lassen.
Er holte dem jungen Mann seinen Aschenbecher aus dem Büro und stellte ihn auf den Tisch mit den Schnittgeräten, den Folien und dem Kleber. Er selbst hatte das Rauchen vor Jahren aufgegeben. Aber da er sich die Möglichkeit offen halten wollte jederzeit wieder anfangen zu können behielt er den Aschenbecher.
Unaufgefordert erzählte ihm der junge Mann was er geschrieben hatte, es war ein Roman sagte der junge Mann. Etwas ganz neues, was die Welt noch nie gelesen hatte, es könnte alles verändern wenn der junge Mann einen Verleger finden würde. Eine neue Weltanschauung könnte daraus entstehen.
„Das ist gut, aber es geht nicht. Nächster bitte!“ dachte er sich. Er hatte in den vielen Jahren in denen er den Laden schon führte viele dieser Geschichten gehört. Und noch viel mehr Kopien von eben diesen gemacht.
Von den meisten hatte er nie wieder etwas gehört.
Einmal hatte er einen kurzen Artikel in der Lokalzeitung darüber gelesen, dass sich ein Mädchen, welches oft bei ihm Kopien machte, erhängt aufgefunden wurde.
Er hatte sich gefragt, warum sie nicht Tabletten genommen hatte, und den nächsten Artikel gelesen.
Aber ein einziges Mal hatte er ein Buch in den Laden geschickt bekommen, das ihm gewidmet war. Anscheinend war die Autorin einmal knapp bei Kasse gewesen und er hatte ein Auge zugedrückt.
Erlebte er grade den Weg zum Suizid mit oder den Werdegang des neuen Propheten der die Welt verändern würde? Was solls.
Er tat wie geheissen, der Junge Mann rauchte auf, er kassierte ab und die nächste Kopie einer Kopie konnte kommen.
Kurz vor Ladenschluss kam eine Frau in den Laden, sie wollte Kopien der Geburtsurkunden ihrer Kinder haben, und ein paar Ablehnungsbescheide von allen möglichen Wohltätigkeitsorganisationen und Ämtern. Anscheinend gab es noch irgendeinen Verein oder ein Amt das sie noch nicht um Hilfe gebeten hatte.
Er legte alles in den Einzug und drückte den großen grünen Knopf, das Licht wanderte von Links nach rechts.
Da er schon fast alle Glühbirnen im Laden abgeschaltet hatte sah man den Lichtstreifen über die Wände huschen. Für sie war es vielleicht so etwas wie das Licht am Ende des Tunnels.
Für ihn war es zu einem Symbol für die Vergänglichkeit von allem geworden. Jede Kopie erfüllte nur den Zweck etwas Vergängliches länger zu erhalten.
Er selbst war nur eine Kopie seines früheren Selbst, eine Kopie einer Kopie einer Kopie. Mal dunkler mal heller, je nachdem wie die Konfiguration war. Aber immer schlechter, das war das technische Problem. Eine Kopie konnte nie besser sein als das Original, er glaubte nicht an das Konzept der Weiterentwicklung, für ihn verloren wir alle mit jeder Sekunde ein bisschen mehr von uns Selbst.
Er schloss den Laden und ging nach hause.
Er schlief ein, drückte den großen grünen Knopf und das Licht wanderte von links nach rechts.
Alle Urheberrechte 2004 bei Johannes Fries, Köln 16.02.2005