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Requiem für Klavier
Erschöpft ließ sich Mark auf einen der Umzugskartons sinken und wischte den Schweiß von seiner Stirn. Alle waren gegangen und nun saß er zum erstenmal allein in seinem neuen Haus. Mit zwei Stockwerken und einem geräumigen Dachboden war es eigentlich viel zu groß für ihn allein. Aber er war vernarrt darin gewesen, seit er es zum erstenmal gesehen hatte. Ganz aus dunklem Holz gefertigt, lag es versteckt zwischen dichten Fichtenwäldern, etwa eine halbe Autostunde vom nächsten Dorf entfernt. Aus den Fenstern im zweiten Stock konnte man am Horizont die ersten Gebirgsausläufer erahnen und an den Wänden kletterten lange Efeuranken empor, als wäre der Wald bemüht sich sein Terrain zurückzuerobern. Hier, so dachte er, würde er die Ruhe finden nach der er sich so sehnte. Da war es ihm auch egal gewesen was seine Freunde und Bekannten zu dem Kauf meinten: Nach allem was geschehen sei, dürfe er sich nicht in die Einsamkeit zurückziehen; auf die Art würde er noch eingehen, hatten sie gesagt. Vielleicht stimmte das sogar, doch nach der Beerdigung seiner Frau war ihm klar geworden, dass es unmöglich für ihn sein würde ständig von Menschen umgeben zu sein, die ihn zur Lebensbejahung missionieren wollten. Egal wie gut sie es auch meinten, ihr Mitleid konnte er weder ertragen noch brauchen.
Trotzdem war ihm in diesem Moment, in der Stille auf der Kiste hockend, seltsam unwohl zumute. So sehr er sich auch die Einsamkeit wünschte, mit ihr gingen stets schmerzhafte Erinnerungen einher; trieben langsam nach oben, wie an die Oberfläche eines tiefen Sees. Konnte er jetzt schon weder allein noch in Gesellschaft leben? Schnell schüttelte er den Gedanken ab, schob ihn auf den langen anstrengenden Tag und beschloss alle weiteren Arbeiten auf morgen zu vertagen. Jetzt wollte er sich nur noch waschen und dann auf der provisorischen Matratze schlafen legen.
Fließendes Wasser gab es keines, also musste er zu einer kleinen Pumpe hinter das Haus gehen. Die Waldluft war frisch und roch harzig, als er vor die Tür trat. Nachdem er den Hebel an der Pumpe mehrmals kräftig betätigt hatte, tat sie ihren Dienst und er hielt die Hände ins eiskalte Wasser, um sich das Gesicht zu waschen. Als er damit geendet hatte und das letzte Gurgeln und Plätschern der Pumpe verstummt war, harrte er noch einige Zeit aus und lauschte auf die Stille. Den Kopf in den Nacken gelegt, betrachtete er den Himmel, der im Westen dunkelblau und wolkenlos war. Gen Osten ging er sanft ins Schwarze über und am Horizont türmten sich erste Gewitterwolken auf.
Plötzlich glaubte er im Geäst, keine hundert Schritte entfernt, ein Rascheln zu vernehmen. Er schrak zusammen und starrte in den Wald. Es war schon so dunkel, dass er kaum mehr als die vorderste Baumreihe erkennen konnte, dahinter verlor sich alles in Finsternis und wirrem Geäst.
Dennoch glaubte er etwas zu erkennen, dass wie die Silhouette eines Mensches aussah, schattenhaft und undeutlich. Augen sah er keine, aber er spürte, dass er gemustert wurde. Es fühlte sich an, als ob Finger aus Eis in jede seiner Gehirnwindungen krochen, um etwas Verborgenes zu suchen und mit Gewalt herauszureißen. Die Augen hatte er weit aufgerissen, doch je mehr er sich bemühte etwas zu erkennen, umso undeutlicher wurde die Gestalt. Er wollte etwas rufen, aber seine Stimmbänder schienen nicht mehr zu gehorchen; er wollte fortlaufen, doch die Beine regten sich nicht. Erst ein ferner Donner brach die Trance. Für einen Moment hob er den Blick zu den näherkommenden Wolken und als er sich gleich darauf wieder dem Wald zuwandte, war es verschwunden, was immer es gewesen war. Er stand noch einen Augenblick verwirrt an Ort und Stelle, bevor er den aufkommenden Wind und erste Blitze über den Wipfeln des Waldes bemerkte. Dann lief er eilig zurück zur Haustür und wagte nicht sich umzudrehen. Dort angekommen zog er seinen Schlüssel aus der Tasche und als er ihn ins Schloss stecken wollte stellte er fest, dass die Tür nur angelehnt war. Hatte er wirklich vergessen abzuschließen? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern.
Nur zögernd betrat er das Haus und rief: „Ist hier jemand?“ Als niemand antwortete kam er sich albern und paranoid vor. Was sollte das hier? Er benahm sich wie ein Kind, das nach einem Albtraum Angst hat zurück in sein Zimmer zu gehen. Jetzt sah er schon Gespenster in Zweigen und Schatten. Nein, das würde er besser niemandem erzählen. Er konnte sich die skeptischen Blicke seiner Freunde schon vorstellen und dazu ein „wir haben es dir ja gesagt.“
Ich bin einfach übermüdet, dachte er während er sich auszog und unter seine Decke kroch. Erste Tropfen schlugen gegen die Fenster und nach kurzer Zeit war er eingeschlafen. In wirren Träumen glaubte er gelegentlich einen Donner zu hören, dazu das Rauschen des Windes und etwas... das wie ein Flüstern klang, rhythmisch, fast wie ein Lied.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war außer einer unbestimmten Melancholie nichts von diesen Träumen zurückgeblieben. Wie immer fiel Marks erster Blick auf das Foto, das er neben seiner Matratze aufgestellt hatte. Es zeigte seine Frau Eva und war an der linken Seite zur Hälfte verbrannt. Das war alles was ihm von ihr geblieben war, alles andere war den Flammen zum Opfer gefallen. Immer wenn er es betrachtete, versuchte er sich krampfhaft zu erinnern wo er es geschossen hatte, doch es fiel ihm einfach nicht mehr ein. Ihm war als wäre mit seinem Haus und seiner Frau auch jede Erinnerung zu Asche zerfallen. Als ihn die Feuerwehrleute, damals vor kaum einem Jahr, aus dem Inferno gerettet hatten, litt er an einer schweren Rauchvergiftung. Fast einen Monat lang lag er im Koma und nachdem er erwacht war klafften große schwarze Löcher in seiner Erinnerung. Auch über den Abend des Brandes wusste er nichts mehr und wenn er sich versuchte zu erinnern, war ihm als starre er in einen tiefen Brunnen.
Nach einem dürftigen Frühstück und der ersten Zigarette des Tages, fing er damit an Kisten auszupacken und Möbel zu rücken. Das meiste waren Geschenke von Freunden und Angehörigen, da er selbst ja alles verloren hatte. Mark war von Natur aus eher ein spartanischer Mensch sowohl was seinen Wohnungsgeschmack als auch seinen Bedarf an Gesellschaft und Kommunikation betraf. Folglich war kaum die Hälfte aller Bücher und Gegenstände in den Kartons nach seinem Geschmack. Mehr aus Gleichgültigkeit als aus Höflichkeit hatte er nichts erwähnt und den ganzen Krempel mitgenommen - Nur um ihn jetzt auf dem Dachboden zu verstauen.
Bisher hatte Mark kaum einen Blick auf selbigen geworfen. Nur flüchtig, bei der ersten Besichtigung. Er wusste jedoch, dass er sehr geräumig und mit etlichen Utensilien der vormaligen Besitzer vollgestellt war. Langsam dämmerte es bereits als er mit der gröbsten Arbeit fertig war und sich anschickte, einige Sachen auf dem Boden zu verstauen. Er holte eine Taschenlampe und eine Leiter aus der kleinen Abstellkammer im zweiten Stock, dann öffnete er die Deckenluke.
Ein modrig feuchter Geruch schlug ihm aus der Dunkelheit entgegen. Stufe für Stufe stieg er die wacklige Leiter empor, bis er über den Rand sehen und mit der Taschenlampe hineinleuchten konnte. Die dreieckige Dachkonstruktion wurde gestützt von schweren dunklen Holzbalken, die nicht viel Platz zum stehen ließen. Spinnweben wogten in großer Zahl zwischen den Giebeln und ein verlassenes Wespennest schlug im Windzug leicht gegen das Holz. Im hinteren Teil erkannte er im Kegel der Taschenlampe einiges Gerümpel. Eine alte Kommode, ein Nachttisch, Lampenschirme und etliche andere verstaubte Möbel, an denen der Zahn der Zeit merklich genagt hatte. Platz genug für seine Kisten war aber reichlich und so machte er sich daran, eine nach der anderen hoch zu hieven. Dieses Unterfangen stellte sich als weniger leicht heraus als er erwartet hatte. Schon bald ging ihm die Puste aus und er kam ins Schwitzen. Er hatte vielleicht die Hälfte hinter sich gebracht, da musste er eine Pause einlegen. Mark öffnete eines der schrägen Dachfenster und zündete sich eine Zigarette an. Der Anblick der Glut löste in ihm seltsame Gefühle aus, so wie es ein Geruch aus fernen Kindheitserinnerungen tut. Ebenfalls eine Erscheinung, die ihm seit dem Koma widerfuhr. Nach einigen Wochen Therapie nannte das sein Arzt ein Trauma von dem überlebten Brand. Wahnsinnig scharfsinnig; Mark ging nie wieder dorthin.
Er rauchte ein paar Züge mit Blick aus dem Fenster, dann nahm er die Taschenlampe und wollte sich die Möbel seiner Vorgänger mal genauer ansehen. Hier und da wischte er ein wenig Staub ab und öffnete einige Schubladen. Einer der Stühle schien ihm sogar noch recht brauchbar und er stellte ihn zur genaueren Begutachtung zu seinen Kisten. Schließlich bemerkte er, dass einige Lampen auf etwas Abgedecktem standen. Er räumte alles herunter und zog die graue schmutzige Plane zu Seite. Zum Vorschein kam etwas, das Mark kaum unter all dem Müll erwartet hätte: Ein Klavier.
Unter dem Tuch war es vor dem Staub geschützt gewesen und so in einem, für diesen Ort absurd sauberen Zustand. Auch hatte es keine Kratzer oder andere Makel. Im Gegenteil, die völlig schwarze und glatte Oberfläche schien geradezu perfekt gearbeitet. Doch irgendetwas stimmte damit nicht. Mark sah nur nicht gleich was es war. Dann bemerkte er, dass er mit der Taschenlampe direkt darauf hielt aber keine Strahlen zu ihm zurück kamen. Keine Reflexion, kein Spiegelbild, absolut nichts. Wie in einem tiefen Abgrund verlor sich das Licht. Er stand wie angewurzelt und glaubte die Kälte vom gestrigen Abend erneut zu fühlen. Das Klavier schien sie auszustrahlen. Er wollte wegrennen, doch irgendetwas zog ihn an, etwas gegen das er sich nicht wehren konnte. Langsam beugte er sich nach vorne, bis er mit seinem Gesicht ganz nah an der Oberfläche war. Noch immer konnte er nichts erkennen. Erst als er schon fast mit der Nase an das Klavier stieß, bildeten sich die Umrisse eines Gesichts vor seinen Augen. So undeutlich und schemenhaft es auch war, irgendetwas sagte ihm, dass es nicht sein Spiegelbild war. Mit einem Keuchen taumelte er zurück und stolperte über einen kleinen Tisch. Schnell rappelte er sich wieder auf und stürmte so schnell er konnte die Leiter hinunter. Dann schloss er mit zitternden Händen die Luke und ging in die Küche. Dort goss er sich Jim Beam in ein Glas und leerte es in einem Zug. Gleich darauf schenkte er sich wieder nach.
Als er tags darauf erwachte, war die vordergründigste Wahrnehmung das Hämmern in seinem Kopf. Sein Mund war ausgetrocknet und ihm war übel. Der erste Blick zum Photo wurde versperrt von einer halbleeren Whiskyflasche und einem überfüllten Aschenbecher. Ächzend erhob er sich und wankte zur Toilette. Was er im Spiegel sah baute ihn nicht sonderlich auf, aber zumindest war er noch er selbst.
„Einbildung, Einbildung, alles bloß Einbildung“ redete er mit sich selbst und haute dabei auf seinen Kopf als wollte er sich die Worte mit Gewalt einhämmern. „Bleib ruhig, der Arzt hat gesagt, dass so etwas passieren könnte. Schließlich war sie Pianistin und ein Klavier hatte ich hier wirklich nicht erwartet. Ich war einfach nicht vorbereitet. Es war nur ein Schock, nur ein Schock.“ Dann ging er zur Pumpe, um sich zu waschen. Während er sich frisch machte und rasierte, kam er nicht umhin sich häufig umzudrehen. Doch dort, wo er die Gestalt vor zwei Tagen erblickt hatte, wiegten sich nur die Äste der Bäume über dichtem Unterholz.
Frisch gewaschen fühlte er sich schon erheblich besser und das gestrige Erlebnis war nun kaum noch mehr als ein Hirngespinst.
Die nächsten Tage geschah nichts Sonderbares, er mied den Dachboden und lenkte sich so gut es ging mit anderen Dingen ab. Hier und da gab es noch einiges zu tun im Haus: Er strich ein Zimmer, reparierte in der Küche einige Kleinigkeiten und schlug jede Menge Holz, da die Tage kälter wurden. Langsam begann Mark sich wohl zu fühlen, er unternahm Spaziergänge im Wald oder las abends lange vor dem Kamin.
Eines Nachts jedoch kam alles anders. Er schlief sehr unruhig und glaubte es wieder zu hören: Ein Flüstern wie ein Lied und dazu etwas, das klang wie... ja, wie ein Piano. Aber nur der Rhythmus begleitete den Gesang, die Töne waren schief und gequält. Lauter und lauter wurde das grausige Spiel und übertönte die geflüsterte unverständliche Stimme schließlich ganz. Als es dann so laut wurde, dass es schmerzte, wachte Mark mit einem Schrei auf. Seine Decke war schweißdurchnässt und sein Haar hing ihm in Strähnen ins Gesicht. Er war sofort hellwach und lauschte, sich sicher, dass es mehr als ein Traum gewesen war. In diesem Moment jedoch, lag das ganze Haus still. Es war mitten in der Nacht und stockdunkel draußen. Vorsichtig stand er auf und schlich, bedacht darauf keine unnötigen Geräusche zu machen, zur Treppe in den zweiten Stock. Hier zögerte er, den Blick nach oben gewand. Schließlich holte er tief Luft und ging hinauf. Die Taschenlampe lag noch immer neben den Kisten unter der Luke, wo er sie fallengelassen hatte. Er nahm sie auf und lauschte erneut. Als er nichts vernahm, schloss er die Luke auf und spähte hinein. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Also kletterte er ganz hinein und ging zielstrebig auf das Klavier zu. Da stand es, schwarz wie die Nacht, aber nicht wie der Abgrund in den er zuletzt geblickt hatte. Er hielt den Atem an und richtete die Lampe darauf - das Licht kam zurück, schwach zwar, aber es war zu sehen. Er atmete auf und hatte das Gefühl, sich einmal mehr furchtbar lächerlich gemacht zu haben. Jetzt ging er näher heran und streckte langsam die Hand nach dem Deckel aus. Als er in ihn berührte hatte er irgendetwas erwartet, doch nichts geschah. Also öffnete er den Deckel und zum Vorschein kamen leicht vergilbte, aus Elfenbein gefertigte Tasten. Sanft ließ er seine Hand darüber gleiten, doch niederdrücken tat er keine. Er sah sich um, als ob er sich vergewissern wollte, dass ihn niemand beobachtete. Dann holte er den Stuhl, den er zuletzt aussortiert hatte, und stellte ihn vor das Instrument. Nachdem er sich gesetzt hatte schaute er auf die Pedale. Sie waren mit Goldfarbe überzogen und schon an vielen Stellen abgeblättert. Vorsichtig stellte er die Fußspitzen darauf und legte seinen rechten Zeigefinger auf das mittlere c der Tastatur. Als er die Taste niederdrückte erklang ein schiefer Ton, der unmöglich ein c sein konnte. „Völlig verstimmt“ dachte er, „muss an der feuchten Luft liegen“. Nichtsdestotrotz legte er nun beide Hände auf die Tastatur und begann die ersten Takte eines Stücks, das seine Frau oft gespielt hatte.
Kaum ein Ton brachte das Klavier korrekt hervor, doch er hörte ohnehin nur die Klänge seiner Erinnerung. Die Augen hatte er geschlossen und in Gedanken sah er Eva, in ihrer beider Haus am Piano sitzen und spielen. Wohlig warm wurde ihm bei diesen Gedanken. Dann endete das Lied und nachdem er den letzten Ton lange gehalten hatte, wollte er die Finger von den Tasten nehmen. Doch vergebens...
Nur einen Moment später war ihm als schlüge ein eisiger Blitz in seine Hände ein. Die Kälte kroch im Bruchteil einer Sekunde seine Arme hoch und lähmte ihn. Er schlug die Augen auf und sah seinem angstverzerrten Spiegelbild auf der schwarzen Oberfläche ins Gesicht. Doch sogleich begann es zu versinken und wurde schließlich von der gähnenden Finsternis verschluckt, die sich wie ein tiefer Brunnen vor ihm auftat. Er riss den Mund auf, aber kein Schrei wollte seiner Kehle entweichen. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr und die Finger waren wie festgefroren auf den Tasten. Zu seinem Entsetzen, begannen sie sich ohne sein Zutun zu bewegen. Erst langsam, dann immer schneller spielten sie das grausige Lied aus seinen Träumen, als wollten sie alle Schrecken dieser Welt zum Tanz auffordern. Schlimmer noch war nur, was sie begleiteten: Einen gespenstischen Gesang, aus der unendlichen Tiefe vor ihm.
Mit Tentakeln begann die Schwärze nach ihm zu tasten und zu greifen, umspülte ihn, zog in jede Pore seiner Haut ein während seine Finger immer schneller über die Tasten huschten. Alles um ihn herum versank in einem Abgrund und er hatte den Eindruck endlos lange zu fallen. Immer der wispernden Stimme entgegen, die am Grund zu warten schien. Plötzlich Bilder in der Finsternis. Erst nur verschwommen, dann langsam schärfer.
Es sah aus wie ein Haus – ja, ein Haus bei Nacht, jenes wo er mit seiner Frau gelebt hatte.
Alles fühlte sich furchtbar real und zugleich völlig fremd an: Er war nicht mehr er selbst, sein Körper nicht zu spüren. Durch fremde Augen erblickte er die Welt – Zum Zuschauen verdammt, aus der Sicht eines Unbekanten.
Und diese Person näherte sich dem Haus, ging durch den Garten und blieb dann plötzlich unter einem geöffneten Fenster stehen aus dem Licht drang. Er hörte eine Stimme: Eva schien zu telefonieren:
„Was?... Nein. Nein wirklich nicht Schatz. Das ist doch völliger Unsinn... Hm?.... Natürlich, das weißt du doch. Pass auf, wir reden darüber, wenn du hier bist, ok? Ich koche was schönes und dann machen wir es uns gemütlich... ha,ha,ha... also bis nachher... Ich liebe dich auch mein Schatz.“ Klick.
Das musste er selbst gewesen sein mit dem sie telefoniert hatte, aber er konnte sich nicht daran erinnern. Wie an so vieles nicht. Der Mann unter dem Fenster, mit dessen Augen er jetzt sah, starrte bestimmt eine ganze Minute einfach gerade aus und in der kalten Luft kondensierte sein Atem. Dann schloss Eva über ihm die Fensterläden, worauf er zusammenschrak und weiter hinter das Haus ging. Hier erkannte Mark alles sofort wieder: Den kleinen Schuppen mit der alten Kastanie davor und die Bank, auf der sie unzählige Stunden gesessen hatten. Der Mann sah sich um und schritt auf den Schuppen zu. Neben diesem war ein großer Haufen Holz aufgeschichtet und daran lehnte ein Beil. Auch hier verharrte der Blick erneut lange. Dann bückte er sich und ein schwarzer Handschuh griff nach der Axt. Langsam drehte sich der Fokus und richtete sich auf die Tür. Zur Ohnmacht verdammt ahnte Mark im Körper dieses Fremden böses und ihm wurde schlecht bei dem Gedanken an das Kommende. Schritt für Schritt näherte sich dieser Kerl der Hintertür und so sehr sich Mark auch konzentrierte, er konnte ihn nicht davon abhalten. Schließlich war das Ziel erreicht und der schwarze Handschuh drehte den Messingknauf - die Tür war nicht abgeschlossen und schwang auf. Drinnen war es dunkel, doch aus einem der Zimmer drang Licht und Musik. Es war dieses Lied, das geflüsterte Lied. Sie sang es am Klavier und er konnte sich nicht entsinnen, es je von ihr gehört zu haben. Während er noch versuchte sich zu erinnern, hatte der Unbekannte sich schon der angelehnten Tür zum Wohnzimmer genähert und drückte sie jetzt lautlos auf. Eva saß mit dem Rücken zu dem Eindringling und war ganz in ihr Spiel vertieft. Mark wollte sie warnen und rief so laut er konnte, rang mit sich, wollte raus aus diesem Alptraum. Doch unerbittlich kam der Mörder auf sie zu. Direkt hinter ihr blieb er stehen und hob das Beil. Im fremden Körper schrie Mark so laut er konnte...
Dann fand er sich auf den Dielen des Dachbodens wieder. Hyperventilierend und zitternd. Es dauerte eine Zeit, bis er begriff wo er war. Unablässig starrte er das Klavier an und kroch auf allen Vieren rückwärts in Richtung Ausgang. Nichts deutete an dem Instrument mehr auf den Schrecken hin, den er gerade erlebt hatte. Halb fiel er die Leiter hinunter und schleppte sich zur Toilette. Ihm war furchtbar schlecht und er fühlte sich unsagbar schwach. Dann musste er sich unter Krämpfen übergeben. Als die Übelkeit nachließ brach er auf dem gekachelten Boden vor Erschöpfung zusammen und wurde von der Müdigkeit übermannt.
Am nächsten Tag, Mittag war schon überschritten, wurde er von der Türklingel geweckt. Langsam rappelte er sich auf und fuhr sich durchs Haar. Es klingelte erneut und dazu klopfte jemand an die Tür. Noch völlig benommen ging er, sich stets an der Wand stützend, zum Eingang und öffnete. Vor ihm stand Ben, ein langjähriger Freund von ihm und Eva und schaute ihn überrascht an.
„Oh man Mark, du siehst echt scheiße aus. Was zum Henker ist passiert!?“
Nur mühsam brachte er eine Antwort hervor:
„Ich... Ich weiß es selbst nicht genau... bin grad erst aufgewacht. Was tust du hier Ben?“
„Was ich hier tue? Na hör mal, es war doch verabredet, dass ich heut vorbei schau. Und wenn ich dich so ansehe, glaub ich sogar ich komm zu spät. Hast du dich vollaufen lassen oder was?“
„Nein, wirklich... Kein Schluck hab ich getrunken. Hör zu, es ist was Furchtbares passiert... ich weiß nicht wie ich dir das erklären soll. Ich versteh es ja selbst nicht. Komm rein und gib mir ein bisschen Zeit um einen freien Kopf zu bekommen.“
„Ist Ok. Beruhig dich erstmal, du zitterst ja richtig. Ich würde sagen du gehst dich jetzt waschen und ich koch derweil einen Kaffee. Alles klar?“
„Ja, ist ne gute Idee. Entschuldige mich bitte.“
Damit ging er an Ben vorbei hinters Haus, während der sich in die Küche begab.
Als Mark über den weichen Waldboden zur Pumpe schritt, schien ihm die Welt um ihn herum seltsam verändert. Er konnte nicht genau sagen was es war, aber irgendwie war die Welt in eine Art Schleier gehüllt – alles schien in Bewegung zu sein und zu pulsieren. Das Rauschen der Bäume war fast ein Dröhnen und aus den Augenwinkeln glaubte er ständig Schatten zu sehen, die verschwanden, wenn er sich ihnen zuwandte. Bei der Pumpe angekommen, hielt er einfach den Kopf unter den kalten Wasserstrahl. Danach normalisierte sich alles ein wenig, blieb aber merkwürdig verschoben. Er fühlte sich beobachtet und ging so schnell er konnte ins Haus zurück. In der Küche setzte er sich und stützte den Kopf in die Hände. Ben werkelte noch einige Zeit am Herd, dann setzte er sich ihm gegenüber und stellte einen Becher Kaffee auf den Tisch. Mark wärmte daran seine Hände und trank ab und zu einen Schluck. So saßen sie eine Zeit lang schweigend. Ben war rücksichtsvoll genug, um nicht nachzubohren. Er wusste, dass Mark reden würde, sobald ihm der Sinn danach stand. Schließlich begann er:
„Ich habe etwas auf dem Dachboden gefunden Ben... ein Klavier... aber warte, ich weiß schon was du jetzt sagen willst. Zunächst dachte ich ja auch, ich hätte einfach einen Schock... aber nachdem was Gestern passiert ist, kann ich das nicht mehr glauben.“
Er sah von seiner Tasse auf und Ben ins Gesicht. Der blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen skeptisch, aber aufmerksam an.
„Ich weiß kaum, wie ich das erklären soll. Also, ich habe gestern auf dem Klavier gespielt nachdem mich seltsame Geräusche geweckt hatten, und da... da hat es mich irgendwie verschluckt. Ich kann das nicht beschreiben. Es war als bräche man im Eis ein und da war ein Lied, ein leiser Gesang, der immer lauter wurde je tiefer ich sank und plötzlich... sah ich durch die Augen eines Anderen. Und dieser jemand, ich weis nicht wer es war, er... er, oh Gott, Ben... Ich hab gesehen wie er sie getötet hat.“
„Wen getötet hat?“
„Eva natürlich. Es muss die Nacht vom Brand gewesen sein. Ich hab gesehen wie er durch die Hintertür kam und sie mit einem Beil erschlagen hat. Ich bin an diesem Abend wohl spät nach Hause gekommen – Sie hat noch mit mir telefoniert – und da muss ich ihn dann überrascht haben. Vielleicht hat er mich dann niedergeschlagen und das Haus angezündet. Ich weis es nicht. Aber Ben, wir müssen diesen Kerl finden. Er hat sie umgebracht!“
Ben seufzte und senkte den Blick
„Mark beruhige dich. Ist dir klar wie verrückt das klingt? Ein Klavier hat dich verschluckt, worauf hin du gesehen hast, dass deine Frau ermordet wurde? Mark, es war ein Unfall. Es gab keine Hinweise auf einen Mord und wenn man bedenkt, was du durchgemacht hast... dann das Klavier... und du bist hier mit deinen Phantasien ganz allein. Das ist nicht gut für dich, komm doch einfach mit mir zurück in die Stadt. Du kannst eine Weile bei mir wohnen und...“
Mark sprang auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie seinen Freund wütend an:
„Behandle mich nicht wie einen Irren! Es war keine Einbildung! Wenn du mir nicht helfen willst, dann verpiss dich aus meinem Haus!“
Ben schrak zusammen und war überrascht von diesem plötzlichen, jähzornigen Ausbruch.
„He, Alter. Ist ja schon gut. Mich anzuschreien ist auch keine Lösung, ich wollte dir bloß helfen. Aber wenn du willst, kann ich mir dieses Klavier ja mal anschauen.“
Da beruhigte sich Mark ein wenig.
„Ja... ja, du hast recht, entschuldige. Aber ich werde auf keinen Fall selbst noch mal da rauf gehen.“
„Kein Problem, zeig mir einfach wie ich hinkomme und dann werde ich schon selbst sehen.“
Damit erhob er sich, ging zur Tür und machte eine auffordernde Geste als er sah das Mark zögerte. Schließlich entschied dieser, dass es wohl die einzige Möglichkeit war seinen Freund von der Wahrheit zu überzeugen, also folgte er ihm und wies ihm die Luke.
„Hier, nimm die Taschenlampe. Wenn du oben bist geh ganz nach hinten und dann steht es links neben allem möglichen anderen Krempel.“
„Ok, alles klar.“
Ohne sichtbare Furcht stieg Ben die Leiter empor und betrat den Dachboden. Mark blieb unten und lauschte aufmerksam. Er hörte Bens Schritte, wie sie sich langsam dem Klavier näherten. Dann nichts mehr. Er wartete bestimmt zwei Minuten und langsam steigerte sich seine Angst. Schließlich rief er mit erstickter Stimme:
„Ben! Hey, ist alles klar bei dir!?“
Keine Antwort.
„Scheiße Ben, was ist los!? Verarsch mich nicht!“
Da hörte er leise Bens Stimme:
„Ja, ja, ist ja schon gut. Brauchst nicht gleich so zu brüllen. Ist alles in Ordnung.“
Dann hörte er wieder Schritte und nur wenig später kam Ben hinunter geklettert. Erwartungsvoll sah Mark ihn an.
„Hm, also abgesehen davon, dass es ein ziemlich schönes Klavier ist und ich nicht verstehe warum die vormaligen Besitzer es hier stehen gelassen haben, konnte ich beim besten Willen nichts besonderes daran entdecken.“
„Hast du es auch berührt, es angefasst?“
„Ja, klar hab ich das“
„Und du hast nichts gespürt? Keine Kälte, gar nichts?
„Na ja, beheizt war es nicht gerade, aber ungewöhnlich kalt war es auch nicht. Es fühlte sich halt an wie ein Klavier, das auf einem kalten Dachboden steht und das ist auch schon alles.“
Mark senkte den Blick und überlegte. Vielleicht geschah das alles nur, wenn er es selbst berührte oder vielleicht musste man es spielen?
„Ben, geh noch mal rauf und spiele ein paar Tasten.“
„Was? Nein, hör mal, das wird mir jetzt langsam zu blöd. Außerdem ist das Ding doch sicher total verstimmt. Da ist nichts Mark! Es ist ein stinknormales Klavier und alles andere hast du dir bestimmt nur eingebildet! Komm jetzt, wir gehen wieder runter, ich hab keine Lust deine Paranoia weiter zu schüren.“
Mark war niedergeschlagen und begann zu zweifeln. An sich, seinem Verstand, einfach allem. Ben blieb noch ein paar Stunden und versuchte ihn abzulenken, indem er von Diesem und Jenem redete. Zumeist Klatsch über Bekannte und Freunde. Doch Mark hörte gar nicht wirklich zu, es schien alles so weit weg zu sein und die kleinen Geschichten, die sein Freund da erzählte waren ihm abstoßend nichtig – er konnte sich nicht vorstellen, einmal ähnlich gewesen zu sein. Irgendwann wurde seine Abwesenheit auch Ben zu bunt und er sagte:
„Ich rede mir hier den Mund fusselig und du hörst mir gar nicht zu. Ach was soll´s, ich merk schon, wenn ich unerwünscht bin. Ich hau jetzt ab und lass dich mit deinem Selbstmitleid wieder allein.“
Mark sah ihn nur stumm an.
„Na schön, brauchst nichts weiter zu sagen. Aber mein Angebot steht noch, wenn du irgendwann kein Bock mehr hast hier zu versauern, kannst du gern zu mir kommen... Na ja, mach’s gut.“
Dann nahm er seine Sachen und ging. Mark blieb sitzen und hörte zu wie der Wagen angelassen wurde und davonfuhr. Er war wieder allein. Einerseits war das erleichternd, andererseits legte sich mit der Stille auch erneut ein Schleier über die Welt. Es war, als ob die Schatten aus allen Winkeln des Hauses auf ihn zukriechen würden. Und je mehr er lauschte, umso deutlicher glaubte er ein leises Wispern zu hören.
Er hielt es nicht länger aus still zu sitzen - einfach nur weglaufen, das war es was er wollte; also kramte er seinen Cd-Player hervor, trat vor die Haustür und rannte den erstbesten Waldweg einfach geradeaus. Schnell passten sich seine Beine dem Rhythmus der Musik an, der Schweiß durchnässte seine Sachen und die Lunge begann zu schmerzen. Doch er lief immer schneller und schneller, als spüre er den Tod im Rücken.
Irgendwann konnte er nicht mehr und musste anhalten. Die Kopfhörer nahm er ab, blickte auf den Boden und stützte keuchend die Arme in die Hüfte. Er spürte wie sein Herz schlug und es kam ihm vor als wäre es eine Trommel, die alle Schrecken des Waldes zu ihm locken wollte. Der Weg vor ihm glitt in weite Ferne und der Wald rückte dichter - bis er ihn umschloss. Überall glaubte er die schemenhafte Gestalt des Wesens vom ersten Tag zu sehen, das ihn durchdringend beobachtete. Es hatte keinen Sinn, er konnte nicht ewig davon laufen. Er schrie in den Wald:
„Lass mich in Ruhe! Was willst du?!“
Doch es kam keine Antwort. Nur der Wind rauschte in den Baumwipfeln und die Gestalten starrten weiter, während sie sich langsam näherten. Plötzlich ein stechender Schmerz in den Schläfen, seine Gedanken rasten – die Bilder aus seiner Vision blitzten in kurzen Abständen vor seinem geistigen Auge auf. Kamen in immer kürzeren Abständen, überschlugen sich und bildeten einen Strudel aus Farben und Gefühlen. Er schlug die Hände an den Kopf, wollte nichts mehr sehen und hatte den Eindruck langsam zu versinken. Dann wurde alles schwarz.
Als Mark die Augen wieder aufschlug war es Nacht und er lag zusammengekauert mitten auf dem Waldweg. Die Schmerzen und Schatten waren fort und auf eine eigentümliche Art fühlte er sich ruhig und entspannt. Er wusste nun was er tun musste. Weglaufen oder sich verstecken hatte keinen Zweck. Es gab nur eine Option: Er musste herausfinden, was damals geschehen war. Also lief er gemächlich den laubbedeckten Weg zurück zum Haus und wunderte sich nicht einmal, als er ein leises Singen aus der selben Richtung vernahm.
Zu Hause angekommen ging er ohne Zögern in den zweiten Stock und öffnete die Luke zum Dachboden. Die Taschenlampe brauchte er nicht, denn ein bleicher Vollmond glotzte durch die Dachfenster und ließ die Spinnweben glitzern. Je dichter er dem Klavier kam, desto kälter wurde ihm. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, näher zu kommen. Doch er zwang sich zum Weitergehen.
Da lag es, wie aus Schatten erbaut. Der Deckel war noch immer hochgeklappt und die Tasten grinsten ihn wie verblichene Zähne an. Mit klammen Händen stellte er den umgefallenen Stuhl wieder auf und setzte sich. Starr betrachtete er sein undeutliches Spiegelbild während sich seine Finger den Tasten näherten. Als er sie berührte geschah, was er erwartet hatte: Tödliche Kälte umklammerte ihn mit eiserner Faust und er hatte das Gefühl, dass sein Blut im Bruchteil einer Sekunde zu Kristallen gefror - und mit ihm jedes Gefühl. Sein Spiegelbild verlor sich in der Tiefe und seine Hände spielten die Melodien des Wahnsinns. Erneut kletterte die Finsternis in dünnen Ranken an ihm hoch und verleibte sich Körper und Verstand ein. Dann der Sturz, stets dem wohlbekannten Flüstern entgegen. Und als er es schon neben sich wähnte, begannen sich Bilder abzuzeichnen.
Wieder sah er sein ehemaliges Haus bei Nacht und erneut war er nur Beobachter, hilflos und fremd. Doch dieses Mal war er vorbereiteter, er wusste was geschehen würde und bemühte sich irgendwelche brauchbaren Details oder Hinweise zu entdecken. Mark sah, wie diese Person den Vorgarten betrat und abermals unter dem geöffneten Fenster stehen blieb, um dem Telephonat seiner Frau zu lauschen, danach wieder eine Zeit lang still ausharrte und schließlich weiter hinter das Haus ging. Einmal mehr griff ein schwarzer Handschuh nach dem Beil, das neben dem Schuppen lehnte. Mark konzentrierte sich darauf, irgendetwas an diesem Handschuh wiederzuerkennen, doch es war dunkel und so konnte er nichts Brauchbares erkennen. Nur wenig später stand der Mörder vor der Hintertür und drehte den Messingknauf. Die Tür ging auf und als er die Klaviermusik und den leisen Gesang seiner Frau im Nebenzimmer vernahm, wurde Mark erneut schlecht. Doch er riss sich zusammen, er musste es ertragen, das wusste er - anders würde er nie Ruhe finden. Sein Atem wurde immer schneller als sich die Bilder seiner Frau näherten. Alles in ihm begann sich zu wehren, er wollte wieder schreien und aufwachen wie letztes Mal. Nur mit äußerster Willensanstrengung gelang es ihm, weiter hinzusehen.
Sie war ganz in Gesang und ihr Spiel vertieft und bemerkte ihren Mörder nicht im Geringsten. Dieser blieb direkt hinter ihr stehen und hob die Axt –
Fast glaubte Mark einen leichten Luftzug zu spüren, als die Klinge auf ihren Hinterkopf niedersauste. Ein markerschütterndes Knacken beim Zerbersten ihrer Schädeldecke brachte die Musik zu einem jähen Ende. Und als ihr gespaltener Kopf auf die Tasten sank, erklang ein letzter schauerlicher Akkord, begleitet von einem gurgelnden Geräusch aus ihrer Kehle. Es schien Mark eine Ewigkeit zu dauern bis die letzten Saiten aufhörten zu schwingen und sich gespenstische Stille ausbreitete. Der Mörder stand völlig unbeweglich. Minuten verstrichen und er bewegte den Blick keinen Zentimeter von dem leblosen Körper fort. Das Blut sickerte langsam aus der klaffenden Wunde auf die weißen Tasten und für einen Moment war Mark fasziniert von der Ästhetik, die das Rot in der Kombination mit Schwarz und Weiß erzeugte.
Da begann sich der Mörder langsam zu bewegen oder eher zu schwanken, als würde er sich jetzt erst der Tat bewusst. Hier und da huschte der Blick durch das Zimmer, verweilte aber nirgends länger. Erst bei der schwarzen spiegelnden Front des Klaviers blieb er haften-
und zwischen Spritzern von Blut und Hirn sah Mark dem Mörder ins Gesicht... sich selbst.
Im Mantel stand er da, die Axt in der Hand und im Gesicht einen Ausdruck ungläubigen Schreckens.
Nur Sekunden später fand sich Mark auf dem Dachboden wieder. Regungslos auf dem Stuhl vor dem Klavier sitzend, die Hände noch auf den Tasten und seinem Spiegelbild in die Augen blickend. Im Bruchteil einer Sekunde war seine ganze Erinnerung zurückgekehrt: Wie er damals, an jenem Abend, verfrüht von einer Geschäftreise nach Hause gekommen war, um sie zu überraschen. Auch der Schock und die blinde Wut, die ihn ergriff als er ihr Telephonat belauschte, waren wieder spürbar als wären sie nie fort gewesen. Da waren nur noch Hass und Verzweiflung... kein Ausweg... nichts, nur unendliche Kälte.
Und dann, als es geschehen war und er langsam begriff was er getan hatte, da wollte er nur nicht mehr diese Kälte spüren – nie mehr. Also hatte er das Haus angezündet und sich selbst zum Sterben niedergelegt. Doch er war nicht gründlich genug gewesen, die Feuerwehr kam zu schnell und als er das Bewusstsein verlor war er zu weit entfernt vom Brandherd – vom Klavier.
Diesen Fehler würde er nicht erneut begehen...