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- 01.06.2005
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Restexemplar
Die Schritte waren wieder hinter ihm, wenn es überhaupt Schritte waren; ein unregelmäßiger, auf eine schwer zu beschreibende Weise mühsamer Laut, der ihm immer wieder das Bild eines seltsam deformierten Verfolgers aufdrängte. Matthias stolperte entschlossen, wenn auch nicht ganz nüchtern, an den Hauswänden entlang, gelegentlich streifte seine Hand haltsuchend die rauhen Backsteine der Fassaden. Natürlich wußte er selbst in seinem angetrunkenen Zustand, daß ihm nicht wirklich jemand folgte, genausowenig wie bei den anderen drei, vier Malen, an denen er es in den letzten Wochen geglaubt hatte. Er redete sich etwas ein, und wenn er nicht aufpaßte, wurde er noch paranoid. In der Straßenbahn hatte er vorhin den undeutlichen Schatten eines Fahrgasts, der in eine zu weite Jacke gewickelt war, für einen Verfolger gehalten. Einen der verdammten Wächter des verdammten Buchs, dachte er selbstironisch. Trotzdem kostete es ihn einige Anstrengung, sich nicht umzudrehen, und damit seine vage Furcht einzugestehen.
Mit theatralischer Übertreibung tauchte er in einen tiefeingeschnittenen Hauseingang, lehnte sich mit mühsam unterdrücktem Gelächter gegen eine Reihe Briefkästen. Er grinste debil, wie über einen gelungenen Scherz, und zündete sich eine Zigarette an. Zeigte seinen irrationalen Ängsten, was er von ihnen hielt. Wenn er sie nicht ignorieren konnte, konnte er sich wenigstens über sie lustig machen.
Im Grunde war es das undeutliche Gefühl des Verfolgtseins, das ihn an Schritte denken ließ, das Geräusch selber hatte höchstens eine entfernte Ähnlichkeit mit Schritten. Es klang eher wie eine Reihe unterschiedlicher Geräusche, das Rauschen der Bäume, das Schlagen eines Ladenschilds im Wind, eine auf der Heidelberger Landstraße vorbeifahrende Straßenbahn, die zusammen den Klang von Schritten ergaben. Die Straße lag kalt und leer im Mondlicht, einige unrenovierte Fachwerkhäuser beugten sich zwischen den Mietshäusern grämlich über den Bürgersteig. Vorne an der Ecke, wo die Orangerie sich hinter dunklen Bäumen verbarg, war seine Wohnung. Er trat gerade wieder auf den Bürgersteig, als sich ihm eine Hand auf den Arm legte. Sein unwillkürlicher Schrei blieb ihm vor Erstarrung im Hals stecken.
Das erste Mal war ihm der Gedanke, er würde verfolgt, einige Wochen zuvor gekommen. Eigentlich hatte er nur am Bahnhof umsteigen müssen, aber weil er von einer früheren Gelegenheit wußte, daß es in der Stadt einen Phantastikbuchladen gab, und er schon länger hinter einem bestimmten Buch her war, hatte er beschlossen, erst mit dem nächsten Zug weiterzufahren. Das Buch hieß Grausame Seelen und war von einem ziemlich unbekannten Autor namens Franz Schwekendiek. Er hatte es vor etwa einem halben Jahr in einem Pappkarton mit Restexemplaren in einem muffigen kleinen Antiquariat hinter der Stadtkirche gefunden und aus einer Laune heraus gekauft. Wenn es nicht in der Phantastischen Bibliothek Suhrkamp erschienen wäre, hätte er ihm keine Beachtung geschenkt; der Titel klang auch eher nach einem schmalzigen Liebesroman. Wider Erwarten hatten die Geschichten ihn tief beeindruckt, sogar verstört. Dann hatte er es, noch bevor er es vollständig ausgelesen hatte, versehentlich in der Bahn liegengelassen. Er war wieder in das Antiquariat gegangen, aber obwohl vor einigen Wochen noch mindestens vier oder fünf Exemplare in der Restekiste gewesen waren, fand er kein einziges mehr.
"Wie soll der Autor heißen? Schwekendiek? Sind Sie sich da auch ganz sicher?" fragte der Verkäufer des Phantastikbuchladens und schaute von einem dicken Taschenbuchwälzer auf.
"Genau, Franz Schwekendiek. Ist in der Phantastischen Bibliothek Suhrkamp erschienen."
"In den Regalen haben Sie nichts gefunden? Warten Sie. Ich seh mal im Verlagsprogramm nach," erbot er sich schließlich und holte einen Leitzordner hervor, in dem herumblätterte. "Schwekendiek..." murmelte er, "Nee, hier ist nichts. Sie müssen sich irren. Ist vielleicht in einem anderen Verlag erschienen."
"Ich bin mir völlig sicher. Hatte sogar ein Nachwort von h.c. artmann."
"Wem?" Alles klar, dachte Matthias, die Rhodan/Hohlbein/Rollenspielfraktion schlägt wieder zu. Er konnte mit Phantastik normalerweise nicht viel anfangen, Vampire und Massenmörder interessierten ihn eher wenig. Uli, sein Mitbewohner, der wahllos jeden Mist konsumierte, beschimpfte ihn gerne scherzhaft als elitären Intellektualisten.
Auf den ersten Blick waren die Geschichten von Schwekendiek nicht bemerkenswert gewesen. Sie handelten durchgehend von den stereotypen Situationen und Protagonisten des Genres. Aus irgendeinem Grund erweckten sie aber den Eindruck, als würde nicht alles in ihnen gesagt, wie eine Gleichung, die zwar zunächst richtig erschien, aber letztendlich nicht aufging. Nebensächlichkeiten und belanglose Gegenstände schienen ein merkwürdiges Eigenleben zu besitzen, schattenhafte Wesen traten andeutungsweise im Hintergrund auf, immer wieder wurde ein seltsames Werk mit dem Titel Buch der einundfünfzig Masken erwähnt.
"Lothar, kennst du einen Schwekendiek?" fragte der Verkäufer einen Kollegen, der wie sein schlechter Klon aussah. Der schüttelte den Kopf.
"Also nee. Wenn es den Autor wirklich gäbe, müßten wir doch wohl von ihm wissen!" klärte der Verkäufer ihn auf. Matthias war sprachlos.
"Kann natürlich sein, daß das Buch vergriffen ist, ich glaube, es ist ungefähr fünfundneunzig rausgekommen," beharrte Matthias leicht überfordert. Schließlich nahm der Verkäufer ihn mit einem beleidigten Gesichtsausdruck mit in den Keller, wo die antiquarischen Bücher standen; schloß ihm auf und ließ ihn allein. Im Keller war auch nichts zu finden, obwohl er alle Regale entlang der Wände des engen, tiefen Kellerraums absuchte. Im Keller nebenan mußte noch ein anderer Kunde sein, Matthias hörte ihn verstohlen hinter der halboffenen Metalltür rascheln. Er wunderte sich, daß der Verkäufer sie einfach mit den Büchern allein ließ, schien sich wohl keine Gedanken um Diebstahl zu machen. Nach den Geräuschen zu urteilen richtete der andere Kunde ein ziemliches Durcheinander unter den Büchern an.
Als Matthias durch die verwinkelten Gassen der Altstadt zurück zum Bahnhof lief setzte sich in ihm die Idee fest, er würde verfolgt. Die hallenden Schritte der Passanten auf den Steinplatten schienen die Schritte seines Verfolgers nur unvollständig zu überdecken, obwohl es keinen Grund gab, zu denken, daß irgendein bestimmtes Paar dieser Schritte ihm wirklich folgte. Aus dem Augenwinkeln sah er hin und wieder einen undeutlichen Umriß, als wäre ihm ein Teil der Schatten aus dem Antiquariatskeller gefolgt.
In den nächsten Wochen ging Matthias jedesmal, wenn er an einem Buchladen vorbeikam, hinein und erkundigte sich nach dem Buch, aber keiner der Verkäufer, die er danach fragte, hatte jemals davon gehört. Zumindest behaupteten sie das. Mit jedem Mißerfolg wurde Matthias nur noch entschlossener, die Grausamen Seelen aufzustöbern; er wollte sich nicht damit abfinden, daß es ein Buch, das er schließlich selbst in der Hand gehabt hatte, nicht geben sollte. Vielleicht war es eine Verschwörung, dachte er sarkastisch, irgend jemand versuchte, die Existenz des Buchs zu vertuschen.
"Bei Libri hab ich leider keinen Eintrag," informierte ihn die hilfsbereite junge Verkäuferin im größten Buchladen der Stadt. "Ich kann für Sie noch im VLB nachsehen," bot sie an. Matthias musterte unauffällig ihr hübsches Gesicht, während sie wild die Tastatur bearbeitete.
"Nein, hier hab ich auch nichts," erklärte sie ihm nach einer Weile bedauernd. Sie sah sogar noch für ihn im ZVAB nach, ohne Erfolg. "Vielleicht sollten sie sich direkt beim Verlag erkundigen," schlug sie schließlich ratlos vor. Er bedankte sich trotzdem für ihre Mühe.
Der merkwürdige Eindruck, verfolgt zu werden, wurde aus irgendeinem Grund immer deutlicher, je hartnäckiger er sich nach dem Buch erkundigte. Schwachsinn, redete er sich ein, während sich jemand unförmiges hinter ihm durch die zufallende Glastür des Buchladens drängte. Wie sollte sein ominöser Verfolger aus der Stadt, in der er sich zum erstenmal nach dem Buch erkundigt hatte, hierherkommen? Hatte der nichts besseres zu tun? Es war schließlich nichts seltsames dabei, daß ein anderer Kunde den Laden nach ihm verließ. Als er den dunklen Flur seiner Wohnung betrat lauerte ihm eine undeutliche Gestalt auf, nach einer Schrecksekunde erkannte er, daß es eine Jacke war, die am Kleiderständer hing.
Der Anruf bei Suhrkamp brachte ihn auch nicht weiter, sie könne sich an das Buch nicht erinnern, informierte ihn eine Sekretärin, leider sei der damalige Herausgeber der Phantastischen Bibliothek vor einigen Jahren verstorben, er hätte ihm sonst bestimmt weiterhelfen können. Matthias sah aus dem Fenster während er telefonierte, eine undeutliche Gestalt stand reglos im Schatten unter dem Vordach der öffentlichen Toiletten an der Orangerie. Es gab keinen Grund zu denken, die Gestalt hätte irgend etwas mit dem Buch zu tun, wäre sein Verfolger. Niemand konnte wissen, daß er gerade mit dem Verlag telefonierte, trotzdem fühlte er sich bei einem folgenreichen Fehler ertappt. Er wünschte, er würde endlich ein Exemplar des Buchs auftreiben, dann würde sein Verstand Ruhe geben. Wahrscheinlich sah er nur deshalb überall Verfolger, weil es ihm langsam so vorkam, als würde seine Beschäftigung mit dem Buch, von dem niemand je gehört haben wollte, langsam seine Wahrnehmung der Realität untergraben. h.c. artmann war auch tot, fiel Matthias mit einem selbstironischen Grinsen ein als er auflegte, die Sache fing langsam an, bedrohlich zu werden.
Nach einigen Bieren, als sie abends um den Küchentisch saßen, überwand er sich schließlich, seinem Mitbewohner Uli und dessen Freundin Kathrin von seinem Verfolger zu erzählen.
"Warum sollte irgendjemand einen Langweiler wie dich verfolgen?" fragte Uli mit einem gespielten Stirnrunzeln. Er zog an einem halbaufgerauchten Joint und reichte Kathrin den qualmenden Stummel weiter.
"Macht euch nur über mich lustig. Vielleicht bin ich etwas auf der Spur." Matthias öffnete mit Hilfe seines Feuerzeugs eine weitere Flasche Bier, leerte sie zu einem Drittel und rülpste.
"Ganz abgesehen von der Frage nach dem Warum, wie schafft dein geheimnisvoller Verfolger es überhaupt, jedesmal aufzutauchen, wenn du dich einem Buchladen näherst?" spottete Uli unbeeindruckt weiter.
"Keine Ahnung. Vielleicht sind es ja mehr als einer? Ein Geheimzirkel; Schwekendiek hat in seinem Buch unwissentlich zuviel über ihre gottlosen Absichten durchkommen lassen, deshalb haben sie das Buch aus dem Verkehr gezogen und verfolgen jeden, der sich zu viel damit beschäftigt, oder was weiß ich. Bist du nicht der Experte für die Art von Schwachsinn?" bemerkte Matthias sarkastisch, das Bier schien seine Erfindungsgabe anzuregen. Wie zu Erwarten fand Uli die ganze Sache sehr belustigend.
"Den hab ich glaub ich gesehen. War der nicht von Brian Yuzna? Mit Matze Pützer als nichtsahnendem Opfer?" ein unverschämtes Grinsen verzog sein schmales Gesicht.
"Halts Maul. Jetzt im Ernst, ich weiß selber, daß ich nicht wirklich verfolgt werde. Aber trotzdem ist das schon eine verdammt merkwürdige Sache mit dem Buch," beharrte Matthias.
"Mist. Er ist schon wieder ausgegangen," sagte Kathrin und strich eine lange braune Haarsträhne aus ihrem blassen Gesicht. Matthias reichte ihr wortlos sein Feuerzeug. Sie zündete den Stummel wieder an, nahm einen Zug und streckte ihn Matthias entgegen. Er hob ablehnend seine Bierflasche.
"Danke, hab schon was." Sie zuckte die Schultern.
"Vielleicht gibt es das Buch tatsächlich nicht, und du glaubst nur, dich daran zu erinnern? Könnte doch sein, bei dem vielen Bier?" schlug Uli vor. Matthias hatte eigentlich gehofft, die beiden würden ihm seine Einbildungen ausreden, nicht ihn noch zusätzlich verunsichern.
"Sag, hatte ich dir damals nicht sogar von dem Buch erzählt?" wandte er ein. Es ermutigte ihn nicht gerade, wenn er seinen Erinnerungen nicht trauen konnte.
"Kann schon sein. Kann mich nicht erinnern. Verdammt. Wer hat das bloß wieder zugeschraubt?" Uli mühte sich mit dem Verschluß von einem Senfgurkenglas ab. Matthias nahm es ihm aus der Hand.
"Gib her," sagte er, öffnete es und gab es grinsend zurück. "Hänfling."
"Ich verstehe sowieso nicht, was ein kerniger Bursche wie du überhaupt so krankes Zeug liest," bemerkte Uli sarkastisch.
"Halts Maul" erwiderte Matthias gutmütig.
Einige Tage später ging er abends in die Unibibliothek im Schloß. Es waren nicht mehr viele Besucher in den hohen, zweckmäßigen Räumen. Matthias setzte sich an einen der Rechner, die mit dem Bibliothekskatalog der LHB verbunden waren, und gab Franz Schwekendiek ein. Er hatte nicht erwartet, die Grausamen Seelen dort zu finden, und so war es auch. Gedämpfte, zögerliche Schritte näherten sich hinter seinem Rücken, als er sich unruhig umdrehte sah er, daß das Geräusch vom einzigen anderen Benutzer des Lesesaals verursacht wurde, der die Seiten eines Bands gebundener Zeitungen umblätterte. Aus Übermut gab Matthias das Buch der einundfünfzig Masken ein, und stutzte. Den Titel gab es tatsächlich. Das Buch der einundfünfzig Masken, aus dem Tibetanischen von Prof. Dr. Eduard Hachulla, Leipzig 1906. War im Grunde nicht weiter verwunderlich, viele Autoren erwähnten reale Bücher in ihren Geschichten, um glaubwürdiger zu erscheinen. Es war allerdings zu spät, das Buch noch anzufordern, die Bibliothek würde in weniger als einer halben Stunde schließen. Auf dem Weg nach draußen blieb Matthias bei dem Band gebundener Zeitungen stehen, der immer noch aufgeschlagen dalag. Die Tischlampe war angeknipst, aber der Student, der dort las, war nicht da. Hinten an den Regalen sah Matthias einen undeutlichen Schatten sich bewegen, wahrscheinlich suchte der Student gerade einen weiteren Referenztext. Eine der Schlagzeilen ließ ihn aufmerksam werden, er beugte sich über den Band. Kleinstadt von Alpträumen heimgesucht, las er. Er lachte ungläubig. Das klang genau wie eine der Geschichten von Schwekendiek, er blätterte etwas weiter darin herum. Auf den nächsten Seiten fand er noch eine weitere Schlagzeile, Siebzehnjährige fügt Liebhaber achtunddreißig Messerstiche zu, die ihn an eine Geschichte aus den Grausamen Seelen erinnerte. Die Zeitungen waren von dreiundneunzig, zwei Jahre bevor das Buch erschienen war. Daher hatte Schwekendiek also seine Einfälle. Matthias blätterte rücksichtsvoll zurück auf die Seite, die der Student gelesen hatte. Beim Hinausgehen, als er im Vorraum seine Sachen aus dem Schließfach holte, hatte er den Eindruck, der Student käme ihm nach, aber das war schlecht möglich. Der Student hätte in der Bibliothek bestimmt nicht seine Jacke anbehalten dürfen.
Matthias schüttelte die Erstarrung, die von der unerwarteten Berührung der Hand auf seinem Arm ausgelöst worden war, ab. Er streckte unwillkürlich die Schultern nach vorne und drehte sich um, mit einer Mischung aus Furcht und Wut. Sein Gegenüber war zumindest ein Mensch, nicht größer als er selbst, seine Jacke schien ihm zu weit zu sein. Obwohl sein breites Gesicht etwas brutal wirkte glaubte Matthias, er würde zur Not mit ihm fertig. Der andere machte allerdings keine Anstalten, bedrohlich zu werden.
"Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken."
"Verdammte Scheiße. Wolln Sie mich umbringen?" stieß Matthias erleichtert hervor.
"Ich muß mit Ihnen reden. Es ist wichtig."
"Was? Es ist fünf Uhr morgens. Wer sind Sie überhaupt?"
"Entschuldigung, ich habe mich nicht vorgestellt. Ich bin Franz Schwekendiek." Er streckte Matthias die Hand entgegen. Matthias sah ihn mißtrauisch an, dann grinste er.
"Mensch, freut mich, daß es Sie wirklich gibt. Hab schon angefangen, an meinem Verstand zu zweifeln. Ich bin Matthias Pützer." Er nahm die angebotene Hand und drückte kräftig zu.
"Sie haben nach den Grausamen Seelen gefragt, es aber nirgendwo gefunden. Sie haben es auch nicht gelesen?" fragte Schwekendiek leise. Matthias war zu überrumpelt, um sich zu wundern, woher der andere das wußte.
"Doch. Ich habs allerdings leider in der Bahn liegengelassen. Hat mir aber sehr gut gefallen."
"Da scheinen sie einer der wenigen zu sein. Das Buch hat sich kaum verkauft, der Verlag mußte schließlich beinahe die ganze Auflage verramschen. Ist vielleicht auch besser so, ich möchte mir nicht vorstellen, was wäre, wenn es ein Erfolg gewesen wäre."
"Nein, ich fand es wirklich klasse. Vor allem, weil die Geschichten sehr glaubwürdig sind, den Leser verunsichern, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Grauen untergraben. Die ganzen realen Ereignisse, wissen Sie, die sie verwendet haben... die Sache mit dem tibetanischen Buch und..." Matthias fing an zu stammeln, kam sich dämlich vor. Schwekendiek schien sich über sein unbeholfenes Lob nicht zu freuen, im Gegenteil, es schien ihm eher unangenehm zu sein.
"Glaubwürdig, in der Tat. Ich habe mir das alles von Anfang bis Ende ausgedacht. Dachte ich zumindest. Nichts davon ist wahr. Das Buch der einundfünfzig Masken existiert nicht."
"Kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem habe ich..." wandte Matthias unsicher ein. Er hatte das Buch doch im Bibliothekskatalog gesehen? Und die Zeitungsartikel? Schwekendiek lachte angestrengt.
"Verstehen Sie? Ein reales Buch ist nicht mehr aufzufinden, während fiktive Ereignisse auf einmal in der Zeitung stehen. Ich verstehe selbst nicht, wie das möglich ist."
"Kann es nicht sein, daß sie irgendwo darüber gelesen und es dann vergessen haben? Ich will ihnen nichts unterstellen. Vielleicht isses auch nur Zufall, so was soll ja passieren..." Matthias merkte, daß er einige Schwierigkeiten hatte, vollständige Sätze zu bilden. Wie sollte er in diesem Zustand komplizierten Gedankengängen folgen?
"Es fing an, kurz nachdem das Buch erschienen ist. Möglicherweise bin ich beim Schreiben unbewußt unsichtbaren äußeren Einflüssen gefolgt, immer wenn ich schrieb fühlte ich mich wie in einem halbwachen Zustand. Vielleicht haben Sie mit Ihrer Formulierung garnicht so unrecht, und das Buch hat die Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem, was dahinter lauert, untergraben. Vielleicht hat mein Buch irgend etwas die Möglichkeit geschaffen, in die Wirklichkeit einzudringen." Matthias sah ihn unsicher an, fragte sich, ob Schwekendiek noch ganz dicht war. Die nächste Frage traf ihn völlig unerwartet.
"Sie haben doch sicher bemerkt, daß Sie verfolgt werden? Eine große, schattenhafte Gestalt, die sie nie richtig erkennen können?" Matthias fuhr unwillkürlich zusammen.
"Nein," wehrte er ab. Es war nicht wirklich gelogen, schließlich war er sich dessen nie sicher gewesen, hatte seinen Verfolger bestimmt nur erfunden.
"Sie hätten nicht nach meinem Buch forschen sollen. Damit haben sie ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich weiß nicht, ob ich sie noch von Ihnen ablenken kann. Nicht alle von ihnen sind menschlich." Schwekendiek wirkte auf einmal vollkommen erschöpft. Er sah unruhig die leere, mondbeschienene Straße herunter. "Ich selbst konnte ihnen nicht entkommen, sie haben mich längst aufgespürt. Dabei habe ich mir doch alles nur ausgedacht. Es ist aber doch nicht meine Schuld, oder? Was hätte ich denn auch tun sollen?" fragte er verzweifelt. Matthias wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Seine Kippe, die er völlig vergessen hatte, verbrannte ihm die Finger, er warf sie in den Rinnstein.
"Sollen wir in meine Wohnung gehen?" fragte er schließlich, "Etwas kalt hier draußen. Ist gleich da vorne. In dem gelben Haus, gegenüber von der Orangerie." Der andere nickte dankbar, und ging bis zur Wohnungstür wortlos neben ihm her. Matthias schloß die Tür umständlich auf, ließ Schwekendiek den Vortritt und kämpfte sich aus seiner Jacke.
"Glühbirne ist kaputt," bemerkte er und sah auf. Der andere stand noch immer reglos im Flur und wendete ihm den Rücken zu. Was machte er da überhaupt? Matthias stieß ihn auffordernd an. Zu seinem fassungslosen Entsetzen gab die Jacke unter seiner Hand nach, als wäre der Körper darunter grotesk deformiert oder substanzlos, er stolperte ungeschickt vorwärts und hielt sich an ihr fest, bevor sein eigener Schwung ihn zu Boden warf. Undeutlich hörte er Kleiderbügel aneinanderklirren, etwas fiel dumpf auf den Teppichboden.
"Was zum..." nuschelte er. Er hatte seine eigene Winterjacke in der Hand, die am Kleiderständer hing, sie war ihm gleich so bekannt vorgekommen, fiel ihm auf.
"Verlierst jetzt endgültig den Verstand, Matze," sagte er ironisch zu sich selbst. Seine eigene Jacke für einen Horrorautoren zu halten, das war neu. Hatte sogar geglaubt, sich mit ihm zu unterhalten, selbst in der Erinnerung erschien es ihm noch täuschend wirklich. Einen Moment lang beharrte ein Teil seines Bewußtseins darauf, die Unterhaltung hätte tatsächlich stattgefunden, aber wie wäre das möglich? Er schüttelte verwirrt den Kopf, fing an, leise über sich selber zu lachen. Etwas viereckiges, das aus der Jacke gefallen war, lag unter dem Kleiderständer, er bückte sich danach. Es war das Buch, Grausame Seelen, von Franz Schwekendiek. Auch das noch. Nachdem er in sämtlichen Buchhandlungen danach gesucht hatte. Dabei war er sicher gewesen, er hätte es in der Bahn liegengelassen, es kam ihm merkwürdig vor, daß seine Jackentasche nicht der erste Platz gewesen war, an dem er danach gesucht hatte. Andererseits hatte er die Jacke seit einem halben Jahr nicht angehabt. Jetzt konnte er es endlich auslesen und sich dann aus dem Kopf schlagen.
Er warf das Buch durch seine offene Zimmertür und ging ins Bad, um ausgiebig zu pissen. Während er damit beschäftigt war, fiel ihm ein, wie er im Vollrausch weiße Mäuse gesehen hatte, komplett mit rosa Schwänzen und schwarzen Knopfaugen. Er hatte sich nicht gewundert, erst am nächsten Morgen, während er mühsam aufwachte, hatte er sich gefragt du hast gestern abend doch nicht im Ernst weiße Mäuse gesehen? Heute hatte er allerdings bei weitem nicht soviel getrunken. Bei weitem nicht genug, um sich mit Horrorautoren zu unterhalten, die nicht da waren. Er ließ sich am Waschbecken kaltes Wasser übers Gesicht laufen, sein tropfendes, bartstoppeliges Spiegelbild starrte ihn blutunterlaufen an. Was ist bloß los mit dir, fragte er es.
In der Küche brannte Licht, Uli wahr wohl noch wach. Matthias merkte, daß er schon wieder Hunger hatte, außerdem mußte er sich jetzt mit jemandem unterhalten.
"Ulrico, du wirst nicht glauben, was.." setzte er an. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was er sah. Zuerst nahm er nur Ulis Matrix-T-Shirt wahr, anscheinend trug er es wirklich Tag und Nacht. Informatikstudent eben. Die unansehnlichen Klumpen auf dem T-Shirt mußten Stückchen von Ulis Schädeldecke und Gehirn sein. Auch sonst war die Sauerei überall hingespritzt, auf den Küchentisch, die Spüle mit dem schmutzigen Geschirr von einer halben Woche, die Wände. Bevor sein Verstand die einzelnen Bilder zusammengesetzt hatte, übergab Matthias sich krampfhaft.
"Oh nein... Scheiße..." preßte er in einer Stimme hervor, die ihm selbst absurd weinerlich vorkam. Er konnte nicht glauben, was er sah. Bestimmt hatte er wieder Wahnvorstellungen. Konnte es vielleicht sein, daß er selbst im Wahn...
Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung hinter Ulis angelehnter Zimmertür, den Widerschein von blankem Metall. Ohne nachzudenken stürzte er los, an der Zimmertür vorbei, die hinter ihm aufgerissen wurde, bekam irgendwie die Wohnungstür auf. Im dunklen Treppenhaus klangen die hallenden Schritte seines Verfolgers bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, mehrere Male wäre er beinahe gestürzt, während er die Windungen der Steintreppe herunterhetzte, hätte er sich nicht am Metallgeländer festgehalten. Er konnte nicht glauben, daß er in seinem eigenen Treppenhaus von einem Irren mit einer Axt verfolgt wurde, sein gesunder Menschenverstand lehnte sich verzweifelt dagegen auf. Er begriff nichts, Schwekendiek konnte es nicht sein, wenn er ihn tatsächlich an diesem Abend gesehen hatte, sein Verfolger mußte über zwei Meter groß sein. Er durfte sich keine Vorwürfe machen, Schwekendiek in die Wohnung gelassen zu haben, wenn er das tatsächlich hatte. Als ihm bewußt wurde, daß das unartikulierte Gebrüll, das von den Wänden widerhallte, sein eigenes war, sah er die Szene einen Augenblick lang wie ein unbeteiligter Zuschauer, und sie kam ihm beinahe unerträglich komisch vor. Die Haustür am Ende des Korridors schien unendlich weit entfernt. Er zögerte nur kurz, dann stolperte er die drei Stufen zur Hintertür herunter. Sie war abgeschlossen, mit ungläubiger Verzweiflung rüttelte er an der Klinke. Als der Schatten seines Verfolgers auf ihn fiel wie ein ausgemergelter Vogel, drehte er sich trotzig um.
Das schwere Blatt der Axt grub sich horizontal bis zum Holzgriff in seinen Oberkörper, er wurde krachend gegen die Hintertür geworfen, hörte das Drahtglas der Tür splittern. Sein bleiches Gesicht verlor seinen entsetzten Ausdruck, mit fragend zusammengezogenen Brauen betrachtete er die unfaßbare Menge Blut, die seinen weißen Pullover besudelte. Er hätte nie erwartet, in seinem eigenen Treppenhaus auf viehische Weise abgeschlachtet zu werden. Von seinem Verfolger konnte er noch immer nichts als einen seltsam unfertig wirkenden Umriß erkennen, der riesenhaft vor ihm aufragte. Die Axt wurde schmatzend herausgezogen, seine Beine gaben nach und er sackte mit einem gequälten Grunzen gegen die ramponierte Tür. Die dunkle Gestalt kam langsam auf ihn zu. Gerade als sein Verfolger sich über ihn beugte und er beinahe das Gesicht der dunklen Gestalt erkennen konnte, wurde die Haustür aufgeschlossen und das Treppenhauslicht ging an.
Eine junge Frau ging auf die Treppe zu. Kathrin, Ulis Freundin, erkannte Matthias bestürzt. Was zum Teufel hatte die hier zu suchen? Der Irre zog sich in den Schatten zurück, legte er wirklich den Finger auf den Mund und zwinkerte ihm verschwörerisch zu? Kathrin hatte heute Nachtschicht im Altersheim um die Ecke, fiel Matthias ein, deswegen übernachtete sie bei ihnen. Irgendwie mußte er sie warnen, dachte er undeutlich, aber er bekam nicht genug Luft, um ihr zuzuschreien, verdammt nochmal abzuhauen, wenn sie am Leben bleiben wollte. Er wunderte sich, daß er überhaupt noch am Leben war, hatte auch kaum Schmerzen, seine linke Seite war völlig gefühllos. Mußte der Schock sein. Während er auf die tiefe Wunde starrte, versuchte er sich zu erinnern, was sich an der Stelle befand. Seine Leber, wahrscheinlich. Leber war gut. Hatte lange genug dran gearbeitet, sie abzuhärten. Irgendwo schrie jemand wie am Spieß. Das alte Fräulein Nolte aus dem ersten Stock fing an zu keifen, unerhörte Frechheit... wissen sie, wie spät es ist... die Polizei ist schon informiert... Noch mehr Geschrei, Gepolter. Wenigstens war Fräulein Nolte inzwischen endlich still. Wie sollte man bei dem Lärm verdammt nochmal einen klaren Gedanken fassen?
Genauso eine Geschichte hatte es in dem Buch, Grausame Seelen, gegeben. Er war sich fast sicher. Auch irgendwas mit einem Axtmörder, erinnerte er sich undeutlich. Allerdings hatte er das Buch seit über einem halben Jahr nicht gelesen, war ja verschwunden gewesen. Er hätte sich gerne erinnert, wer überlebt hatte, wenn überhaupt, während er anfing sich mühsam die Treppe hochzuschleppen, eine Hand ans Geländer geklammert, die andere auf die blutende Wunde gepreßt. Fräulein Nolte lag im geblümten Morgenmantel auf ihrem Treppenabsatz, in ihrem faltigen Hals klaffte eine Parodie des Lächelns, das sie nie für ihn übriggehabt hatte. Ihre glasigen Augen starrten ihn mit derselben Mißbilligung wie zu Lebzeiten an, als wäre er für die Blutlache auf dem frischgewachsten Terrazzo verantwortlich.
Die Wohnung war ein völliges Chaos. Überall lagen umgeworfene Möbel. Hysterische Schreie kamen aus Ulis Zimmer. Matthias packte einen umgefallenen Küchenstuhl und schob vorsichtig die Zimmertür auf, die von Axtschlägen zersplittert schief in den Angeln hing. Er sah nur noch verschwommen. Kathrin kauerte in der hintersten Zimmerecke, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, der Irre stand mit erhobener Axt über ihr, mit dem Rücken zu ihm. Mit letzter Kraft drosch Matthias ihm den Stuhl auf den Schädel, spürte wie etwas nachgab. Ein beiläufiger Stoß des Irren warf ihn auf den Rücken, anscheinend hatte der Stuhlhieb doch nicht die erhoffte Wirkung gezeigt. Hinter der verwachsenen Gestalt, die sich mit etwas wie unerfreuter Überraschung in ihrem kaum zu erkennenden Gesicht zu ihm umdrehte, sah er Kathrin aufspringen und sich mit wutverzerrtem Gesicht auf Ulis Regal stürzen. Er begriff nicht, was sie vorhatte, bis das Regal voller Leitzordner und Videokassetten den Angreifer und ihn unter sich begrub. Matthias brüllte vor Schmerz, dann wurde ihm Schwarz vor Augen.
"Er.. er ist weg..." Kathrins Stimme klang seltsam schrill, ihre Unterlippe zitterte unkontrolliert. Lautlose Tränen flossen über ihr blasses Gesicht, während sie blutverschmierte Videokassetten und Ikearegalböden von Matthias herunterräumte.
"Er ist... einfach... ver... verschwunden..." murmelte sie ungläubig. Unter den Trümmern kam nichts zum Vorschein als eine alte Winterjacke, Leitzordner, noch mehr Videokassetten, einer von Ulis häßlichen Monsterköpfen, der wohl beim Sturz eingedrückt worden war. Durch das gekippte Fenster näherte sich das Heulen einer Sirene.
"Was war das überhaupt für eine Scheiße?" Schrie sie schließlich verzweifelt und starrte voller Abscheu auf eine Plastikaxt, die sie unter einigen Ordnern hervorzog. Noch eine von Ulis Geschmacklosigkeiten. Auch nicht weiter verwunderlich, daß sie blutverschmiert war, dachte Matthias benommen, schließlich blutete er immer noch wie ein angestochenes Schwein. Er hoffte nur, Kathrin würde endlich Ruhe geben. Er hatte doch selber keine Ahnung. Außerdem hatte er genug damit zu tun, am Leben zu bleiben, bis der Krankenwagen kam.