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Rettet Felicitas
Es war ein ganz gewöhnlicher Freiburger Dienstag in der Salzstraße siebzehn. Sabine stand auf der Fensterbank und hing Teebeutel zum Trocknen auf, die dicke Tanja spielte mit ihrer fünfjährigen Tochter Nicky Mutter und Kind, Johanna polierte die Türgriffe auf Hochglanz und Felicitas zählte die Seiten ihrer frisch ausgedruckten Doktorarbeit.
Die Wohnung war von Harmonie erfüllt – und von den Harfenklängen, die Sabines neuer CD „Harfen des Himmels – Volume Dreiundneunzig“ zuzuschreiben waren. Die kleine Nicky hatte die Fenster mit Fingerfarbengemälden geschmückt und somit Johanna erfreut, da diese immer wieder nach Gründen suchte, die Fenster mehr als einmal wöchentlich zu putzen. Und Tanja wollte heute Abend eine Flasche Sekt spendieren und mit Felicitas auf deren Doktorarbeit anstoßen.
Aber es sollte alles ganz anders kommen. Niemand hatte mit der Katastrophe gerechnet, die nun über sie hereinbrechen sollte. Felicitas freute sich sogar gerade noch darüber, dass ihr neuer Drucker keine Druckschwärze auf dem Papier und somit auch nicht auf ihren Fingern hinterließ, als sie sich mit Seite fünfzehn in den Daumen schnitt.
Noch Jahre später, wenn sich die vier Frauen diesen Moment ins Gedächtnis zurückrufen sollten, erinnerten sie sich an den eiskalten Wind, der auf einmal durch die Wohnung wehte, an die kleine, nachtschwarze Wolke, die sich über ihrem Haus aufbaute und Blitze, Regentropfen und violette Frösche herabschleuderte und an das lästige Freiburger Symphonieorchester, das sich vor ihrem Haus aufbaute und begann, die Psychotitelmusik zu spielen.
Und damit fing es erst an.
Felicitas starrte voll Grauen auf den roten, unerbittlich anwachsenden Blutstropfen, der sich an ihrem Daumen bildete. Für einen Moment sah sie, wie sich ihr entsetztes Gesicht auf dessen Oberfläche spiegelte, hohläugige Augen in einem skelettähnlichen Schädel. Fast schon verwundert neigte sie ihren Kopf – sah sie wirklich so schlecht aus? War das wirklich ihr Abbild?
Und dann brach auf einmal die Wucht der Schmerzen auf sie ein, nahm ihr den Atem und benebelte ihre Sinne. Die Wohnung begann sich um sie zu drehen, auf ihrer Stirn sammelte sich kalter Schweiß. Plötzlich konnte sie ihre Beine nicht mehr spüren. Felicitas sackte in sich zusammen, ihr Gesicht wirkte noch blasser als die vielen Seiten Papier, die ihr unaufhaltsam aus den Händen glitten. Es hatte sich ausgedoktort. Für immer.
Johanna war die erste, die wieder klar denken konnte und die wahre Gefahr erkannte. Geistesgegenwärtig warf sie Hochglanzpolitur und Eingangstürklinkenscheuerlappen von sich und schaffte es gerade noch rechtzeitig, durch einen heldenhaften Hechtsprung den zu Boden fallenden Blutstropfen mit Tanjas rechtem Tennisschuh aufzufangen. Erleichtert atmete sie auf, als ihr bewusst wurde, vor welcher Katastrophe sie ihren wunderbar sauberen, blutroten Teppich bewahrt hatte.
Doch dann nahm ein noch schrecklicherer Gedanke von ihr Besitz. Die Augen vor Entsetzen aufgerissen, am ganzen Körper zitternd und mit bebenden Lippen fiel ihr Blick auf Tanjas rechten Tennisschuh in ihrer sorgfältig manikürten Hand, dessen makellos weiße Einlage von einem schändlich roten Blutsfleck entweiht worden war.
„Wir brauchen sofort einen Krankenwagen“, flüsterte Tanja, die sich als nächste aus ihrem Schockzustand erholte. Ihr war klar, dass Felicitas professionelle Hilfe brauchte, und es würde ihre Aufgabe sein, dafür zu sorgen. Tanja wußte, welche Verantwortung nun auf ihr lag und versuchte, sich zusammenzureißen. Als sie aber gerade wieder in der Lage war, gleichmäßig zu atmen, fiel ihr Blick auf ihre kleine Tochter, die neben ihr saß und die unschuldigen Kinderaugen auf Felicitas’ grausam entstellten Daumen gerichtet hatte.
Felicitas beobachtete mittlerweile unter höllischen Schmerzen, wie sich ein zweiter Blutstropfen unaufhaltbar an ihrem Daumen bildete, an Größe zunahm und erneut eine Bedrohung für ihr Leben, den Teppich und damit Johannas Seelenheil darstellte. Verzweifelt kämpfte sie gegen das Gefühl der Ohnmacht an, das ihren Körper zu übermannen drohte. Sie musste etwas tun, sie durfte noch nicht aufgeben. Unter Aufbietung letzter Kräfte hob sie die verwundete Hand und führte sie zu ihrem Mund, um die Lippen mit ihrem eigenen Blut zu benetzen und den Tropfen somit vom Kampf mit der Schwerkraft zu erlösen. Und natürlich um Johannas Teppich zu retten. Doch plötzlich ertönte ein markerschütternder Schrei, der ihren Atemrhythmus gefährlich verlangsamte...
„Neeeeein!“, schrie Sabine entsetzt.
Sie hatte Felicitas vom Fenster aus nicht aus den Augen gelassen und stand noch immer wie erstarrt auf der Fensterbank, die eine Hand voll nasser Teebeutel. Sie war die einzige, die auch die spirituelle Gefahr dieser pikanten Situation erkannt hatte, und das machte sie fast wahnsinnig.
„Lasst es nicht zu! Lasst nicht zu, dass Felicitas ihren eigenen Lebenssaft aussaugt!“
Voller Verzweiflung und in dem Bewusstsein, das Richtige zu tun, warf Sabine einen der Teebeutel in Felicitas’ Mund.
Volltreffer. Felicitas spuckte den Teebeutel aus, senkte ihre Hand wieder und der zweite Blutstropfen zerfloss unter ihrem Daumennagel. Sie war gerettet. Sabine stiegen Tränen der Erleichterung in die Augen.
Doch plötzlich stöhnte Felicitas gequält auf, und Sabines entsetzter Blick fiel auf den Teebeutel, der nun in einer kleinen Pfütze neben Felicitas lag.
Kamillentee.
Felicitas hasste Kamillentee.
Währenddessen hatte Tanja Nicky mit ihrem rechten Arm hochgehoben und hielt ihr mit der linken Hand die Augen zu, um ihre Seele vor diesem blutigen Gräuel zu retten. Ganze dreieinhalb Meter trennten sie nun von dem Telefon, das, wie immer, in der Küche neben der Spüle stand. Mühevoll erhob Tanja ihre einhundertsieben Kilo und merkte, dass sie sich aufgrund von Nickys zusätzlichem Gewicht nur noch mühsam vorwärts bewegen konnte. Aber sie musste sie beide retten, Nickys Seele und Felicitas’ Leben. Ächzend, und unter der Bürde ihrer Verantwortung (und dem Gewicht ihrer Tochter) fast zusammenbrechend, machte sie sich auf den Weg. Sie war es Felicitas schuldig.
Johanna war es mittlerweile gelungen, die Einlage aus Tanjas rechtem Tennisschuh zu lösen. Und nun erst konnte sie das volle Ausmaß der Katastrophe erkennen – das Blut war bereits lange genug an der Luft, um von Millionen bösartigster kleiner Keime überfallen zu werden – mit einem Wort: unhygienisch.
Das konnte sie nicht durchgehen lassen.
Sabine konnte genau spüren, wie sich negative Energie in der Wohnung breitmachte und überschlug bereits die Summe der Räucherstäbchen, die sie würde opfern müssen. Doch dann wies sie sich selbst in Gedanken zurecht: Diesmal war Blut vergossen worden.
Und Kamillentee.
Räucherstäbchen würden nicht reichen. Nicht heute.
Sabine war klar, was zu tun war. Die einzige Rettung der Harmonie in ihrer Wohngemeinschaft waren Kristalle. Als Angestellte des parapsychologischen Instituts wusste sie sofort, dass dafür nur brasilianische Amethyste in Frage kamen – sie würden ganz einfach die negativen Schwingungen in sich aufnehmen, und dann konnte man sie an die nächstbesten ahnungslosen Althippies verhökern. Aber schnell musste es gehen.
Die Dämonen waren sehr empfänglich für negative Energien.
Und die konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen.
Sabine sprang von der Fensterbank, griff nach der Türklinke – und rutschte daran ab. Die Klinke war spiegelglatt poliert, so dass Sabines Hand keinen Halt fand.
Sie konnte die Tür nicht öffnen. Sie war gefangen.
Felicitas war mittlerweile dem Tod näher als dem Leben. Mit letzter, schwindender Kraft und dem abscheulichen Geschmack von Kamillentee im Mund presste sie Johannas Eingangstürklinkenscheuertuch auf ihre Wunde, um den Blutverlust zu stoppen. Aber sie spürte selbst, wie das Leben unaufhaltsam aus ihr heraustropfte. Es war zu spät. Und sie hatte noch nicht einmal ihr Testament gemacht.
Tanja hatte es inzwischen bis zur Küchentür geschafft. Endlich konnte sie ihre Tochter abstellen (hier waren sie ja sicher vor jugendgefährdendem Inhalt), die Türe schließen und durchatmen. Schweiß glänzte auf ihrem von großer Anstrengung gezeichneten Gesicht.
Ein Meter noch. Nur ein einziger Meter.
Tanja keuchte, während sie sich am Tisch vorbei quälte, doch dann hatte sie es geschafft. Das Telefon. Endlich würde sie einen Krankenwagen rufen und Felicitas retten können. Euphorisch griff sie nach dem kabellosen Hörer und sah genau in diesem Moment eine blutige Schuheinlage, die im Spülbecken in einer Sagrotanlösung schwamm.
Die Einlage ihres rechten Tennisschuhs.
Mit Felicitas’ Blut.
Blut…
Langsam und mit der letzten verzweifelten Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde, drehte sie sich zu ihrer Tochter um und blickte in ein von Grauen gezeichnetes Gesicht. Nicky hatte das Blutbad gesehen. Ihre Tochter war kein Kind mehr. Ihre Seele war wohl für immer verloren.
Johanna durchwühlte unterdessen die Putzeimer nach radikaler Bleiche, um dem Fleck auf der Einlage von Tanjas rechtem Tennisschuh entgegenzutreten. Die Keime sollten ja nun hoffentlich alle eliminiert sein, dachte sie gerade, als Sabine mit einem wahnsinnigen Glitzern in den Augen an ihr vorbeistürmte, einen Schraubenzieher in der erhobenen Hand.
„Wo willst du damit hin, Sabine?“, fragte Johanna alarmiert.
„Ich werde uns alle retten!“
„Sabine?“
„Ich mache der Sache ein Ende! Eine muss es ja tun!“
Für weitere Worte war keine Zeit. Johanna schloss kurz die Augen und sah Felicitas vor sich, den Schraubenzieher in die Brust gerammt, wie sie verzweifelt nach Luft röchelte. Sie richtete ihren imaginären Blick auf die Blutlache, in der Felicitas liegen würde und -
Oh Gott.
Der Teppich.
Es war ganz schön schwierig, mit der einen Hand einem Kind die Augen zu zuhalten, mit der anderen ein Telefon und mit der Zunge die Nummer zu tippen. Aber das allerschwierigste war, dass sie sich nicht mehr an die Notrufnummer erinnern konnte. Tanja hatte bereits alle eingespeicherten Nummern versucht (und mit ihrer Mutter, Sabines Freund und Nickys Kindergarten telefoniert), als ihr das Telefon, das mittlerweile gut angefeuchtet war, aus der Hand glitt und in der Spüle landete. Direkt neben der Einlage ihres rechten Tennisschuhs mit dem Blutfleck in hochkonzentrierter Sagrotanlösung.
Funken sprühten.
Felicitas sah gerade ihr Leben an sich vorbeiziehen, als Johanna angestürmt kam und sie überglücklich fragte, warum sie noch lebe. Dann verlor sie ihr Bewusstsein und den dritten Blutstropfen, der langsam und unaufhaltsam an ihrer Hand herablief.
Währenddessen hatte Sabine mit dem Schraubenzieher die Tür aus den Angeln gelöst und war nach draußen gestürmt, hatte sich durch Regen, Blitze, das Freiburger Symphonieorchester und einer Menge violetter Frösche durchgekämpft, als sie plötzlich mit ihrem Absatz im Kopfsteinpflaster stecken blieb und zwei Meter vor dem parapsychologischen Institut verzweifelt zusammenbrach.
Tanja hatte das Telefon wieder herausgefischt und mit Grauen festgestellt, dass die Leitung tot war. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit. Eine einzige, letzte, verzweifelte Möglichkeit.
Johanna nutzte die Zeit zwischen der Mund-Zu-Mund-Beatmung und Herzrhythmusmassage, indem sie den Eingangstürklinkenscheuerlappen von Felicitas Hand löste und den dritten und vierten Blutstropfen von ihrem Arm wischte. Und dann fiel ein fünfter Blutstropfen
auf
den
Teppich.
Das Feuer hatten Tanja und Nicky schnell entfacht, und Nickys Zimmerfenster zeigte ja auf die Universitätsklinik. Rauchzeichen hatten beide bei den Pfadfindern gelernt – jetzt konnten sie nur noch hoffen, dass auch irgendein Arzt gelernt hatte, ebendiese zu entziffern. Sobald sie die Zeichen gegeben hatte, sank Tanja erschöpft in die Arme ihrer Tochter – sie hatte alles gegeben. Für Felicitas. Jetzt konnte nur noch das Schicksal helfen.
Und –
Und ein Feuerlöscher.
Sabine hatte sich gerade erholt und war wieder aufgestanden, um erneut an ihrem Schuh zu zerren, als sie beinahe von einem Krankenwagen überfahren worden wäre. Wütend drehte sie sich um und brüllte: „Das ist eine Fußgängerzone! Du Arschloch!“
Dann wurde sie beinahe von einem Feuerwehrauto überfahren.
Als die heroischen Helfer endlich in der Salzstrasse siebzehn ankamen, war es fast schon zu spät für Felicitas, die sich selbst schon von kitschigen Engelchen umgeben sah. Aber dank des Einsatzes mehrerer Sanitäter und eines Pflasters konnte ihr sicherer Tod in letzter Sekunde abgewendet werden.
Dafür brannte die Wohnung aus.
Ansonsten hielten sich die Schäden aber glücklicherweise in Grenzen, da die umliegenden Häuser aufgrund einer spektakulären Heldenaktion des Freiburger Symphonieorchesters von einer Ausbreitung des Feuers bewahrt worden waren. Bald darauf wurde auch die Dachgeschosswohnung in der Salzstrasse sechzehn frei, so dass einem kompletten Umzug nichts mehr im Wege stand. Es schien sich alles wieder zum Guten zu wenden. Fast alles. Denn die Auswirkungen dieses schicksalsträchtigen Nachmittags würden den WG-Bewohnerinnen noch lange im Gedächtnis bleiben. Immerhin waren sie nun für den Rest ihres Lebens gezeichnet.
Denn Felicitas hatte fünf Tropfen Blut verloren, Johanna ihren Teppich, Tanja die Einlage ihres rechten Tennisschuhs, Nicky ihr kindliches Lachen und Sabine ihren Absatz. Unwiederbringlich.