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Reunifikation

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01.10.2010
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Reunifikation

"Du bist ein Blatt, das sich im Wind des Laufs der Welten kräuselt", flüsterte mir die süße Muse ins Ohr, nachdem ich meinen Fleischesdurst an ihr gestillt hatte. Dabei war sie nicht gekommen, um gevögelt zu werden, was allenfalls ihr zweiter, dritter, freilich unterdrückter Gedanke gewesen sein mochte. Wie sie auf dem Fensterbrett saß, aufreizend naiv mit den Beinen wippte und mich ansah, so zärtlich, so verständig, so - das befremdete mich zunächst. Gewöhnlich unterstelle ich jedem Menschen, rationale Zwecke zu verfolgen, und so wollte ich auch ihren Liebreiz erst dann genießen, wenn er mir einleuchtete. "Was willst du von mir, Schönheit? Wie kamst du hier herauf?", fragte ich. Die Muse lächelte und begann, das Brustgefieder einer weißen Taube zu kraulen. Ihr Lachen enthielt weder Humor noch Häme, weder suchte es Nähe noch schuf es Distanz. "Du bist dem Ruf der Welt gefolgt, studierst ein Fach, von dem du annimmst, es steigere deinen Marktwert, und gefällst dir darin, kognitiv Minderbegabte niederzumähen. Niemals stiege dir dabei der Gedanke ins Bewusstsein, dich in lächerlichen Kleinkämpfen aufzureiben. Du teilst das Ressentiment des Bildungsbürgertums, nicht dessen Bildung, du kleine faschistoide Drecksau." Unglaublich. Was fiel dieser Dahergelaufenen ein, mit mir in solchem Ton zu reden? Besonders irritierte mich der Kontrast zwischen ihren scharfen Worten und ihrem überirdischen Lächeln. "Wenn ich nicht genau wüsste, dass wir uns nicht kennen, wäre ich glatt ein wenig beleidigt. In einer Woche muss ich meine Facharbeit verteidigen, was nicht weiter interessierte, wären die Dozenten nicht mit allen syllogistischen Wassern gewaschen und scharf darauf, mich rauszukicken. Geh bitte, ich muss lernen." Ich wandte mich dem Tafelwerk zu, meine Stirn denksportlich in Falten werfend. Zu mehr als ein paar simplen Umstellungen langte es jedoch nicht, erst recht nicht, als sich vor mir plötzlich kleine Frauenfüße verknäulten und ich im Nacken ein warm-weiches Gesäß sitzen fühlte. "Geh von mir runter, du, du -" Doch sie wuschelte nur durch mein Haupthaar.

"Diese Trennung zwischen Ich und Du können wir aus gewohnheitsmäßigen Gründen gerne fortführen; ich fühle mich als Adressat, wenn du "du" sagst. Doch eigentlich bin ich du, oder klinisch gesprochen: du hast mich von dir abgespalten, dissoziiert. Aus deinem Selbstekel, deiner Furcht und dysangelischer Zukunftangst erkläre ich mir meine Existenz. Sieh' mich an! Was siehst du?", fragte sie, noch immer auf mir sitzend und meine Ohren befummelnd. "Solange du nicht von mir herunterkommst, sehe ich nur deine Füße."
"Und? Sind sie schön?", fragte sie übermütig. Ich ließ meinen Zeigefinger über ihre Fußsohle flanieren, woraufhin sie so heftig zu lachen anfing, dass die Taube, die auf ihrer Schulter gesessen und ihrerseits meiner Muses Ohr angeknabbert hatte, panisch in die Nacht hinausflog. "Wunderschön. Füße dienen ja dazu, das Körpergewicht gleichmäßig auf dem..." Die Muse temperierte ihr Gelächter herunter, um mich zu unterbrechen. Ihre nun folgenden, bedeutend klingenden Worte wurden abermals durch ihre vom Lachen nachbebende und fühlbar gut durchblutete Konstitution kontrastiert: "Nicht nur aus dem Schlechten, das du von dir abgestoßen hast, bin ich geboren. Dein Leben verkümmert, weil du den, wie du sagst, optimalen Erfolg aus ihm herauskratzen, herausschaben willst, mit allen Mitteln, unter allen Opfern. Deine vielgestaltigen Kräfte und Fähigkeiten nutzt du nur, sofern sie diesem einen Zweck dienlich sind. Träume von Geborgenheit, Liebe und Sexualität finden in deinem Zettelkasten keinen Platz. Unter all deinen zynischen Krusten und Panzern, die das Sammelsurium von Gedankenfetzen und infantilen Gefühlen, das du Ich nennst, mühsam zusammenhalten, leben diese Träume aber weiter. Und hier stehen sie vor dir, Süßer." Sie war zum Fenster gegangen, um nach der Taube zu sehen. "Ist dies ein Traum?" - diese Frage, die ich mir oft vor dem Erwachen stelle, wenn das Wachsein gleichsam in den Traum hineinsieht, schoss mir durch den Kopf. Ganz bewusst öffnete ich die Augen, sah jedoch kein Bettlaken oder lose herumwirbelnde Formelzettel, in deren Mitte ich eingeschlafen wäre, sondern weiterhin diese verführerische junge Frau. Sie trug eine beinahe durchsichtige, um ihren Körper wogende Tunika aus Seide und eine sowjetische Militärmütze, auf der Peta- und Free-Love-Symbole eingenäht waren.

Jeden Moment würde sie mich an meine kommunistische Rebellion erinnern, daran, dass ich die Ideale einer träumerischen Jugend zugunsten eines überangepassten Lebens aufgegeben hätte. Wenn meine Kommilitonen beispielsweise eine ihrer Protestaktionen planen, verziehe ich nur das Gesicht und mach' meiner Resignation Luft, indem ich etwa ausführe, dass diese Welt die einzig verfügbare sei und man deshalb lernen müsse, sich in ihr einzurichten. Tatsächlich setzte die Muse genau hier an und schnitt mit jedem Satz tiefer in meine Lebenswurzel. Ich wollte widersprechen, doch mein Widerstandsgeist war gebrochen; ohne Überzeugung und mithin vollkommen drucklos sagte ich noch ein paar Worte, bis ich der Wahrheit endgültig den Sieg überließ. Geschlagen flüchtete ich mich in einen Winkel meiner Seele, den sie noch nicht ausgeleuchtet hatte, in eine Art kindlichen Trotzes hinein, bis sie mich auch dort aufspürte. "Genug", unterbrach ich sie endlich, "bevor du alles auseinandertreibst, woran ich meinen Selbstwert knüpfe und mich auf diese Weise in große, fleischige Stücke zerreißt, will ich dir noch sagen, dass mich jedes deiner Worte, selbst die erschütterndsten, erregt und innerlich aufrührt."
"Natürlich tun sie das. Ich entspreche deinem Schönheitsideal - wie könnte ich dich nicht erregen?" Mein Verlangen wuchs, diese Wohlstgeratene mit meinem Samen voll zu pumpen, nur fehlte mir ein Vorwand. "Wir sollten uns wieder vereinen und gemeinsam ein neues Ich hervorbringen", sagte ich schließlich. "Nein, du hast bei weitem nicht begriffen, worum es mir geht. Noch fürchtest du..." - in diesem Moment umschlang ich sie, zerbiss vorsichtig eine Handvoll Wodka-Kapseln und rammte ihr meine Zunge in den Rachen. Kurz erstaunt, ging die Muse schnell auf mein Gezüngel ein. Sie schmeckte wunderbar, auch ohne Wodka-Kapseln.

Durch geschlossene Lider blendete mich das einfallende Sonnenlicht, als ich mich am nächsten Morgen auf dem Schreibtisch ausgebreitet wiederfand. Meine Hand roch nach Sperma, meine Hose hing knapp sichtbar vom Schrank herunter. Kein neues Ich war entstanden. Stattdessen Selbstvorwürfe, weil ich Schönheit offenbar nicht genießen und als solche anerkennen kann, ohne sie sogleich vor lauter Beschähmung beschmutzen zu wollen. Hauptsache, meine dick gewordenen Eier werden mal wieder geleert. Ekelhaft. Was wollte mir die Muse nur sagen? Was nur?

 
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Salamander, drei Dinge.
1. Abspecken.
2. Der Erzähler würdigt sich zu krass ab.
3. Die Tonarten bisschen geschmeidiger wechseln.

Du bist dem Ruf der Welt gefolgt, studierst ein Fach, von dem du annimmst, es steigere deinen Marktwert, und gefällst dir darin, kognitiv Minderbegabte niederzumähen. Niemals stiege dir dabei der Gedanke ins Bewusstsein, dich in lächerlichen Kleinkämpfen aufzureiben. Du teilst das Ressentiment des Bildungsbürgertums, nicht dessen Bildung, du kleine faschistoide Drecksau.

Hier haben wir eigentlich alles drin. 1. Ist die Informationsdichte zu hoch. Das ist eben keine Facharbeit. 2. Die letzten vier Wörter sind das Gegengewicht zu der vorherigen Überhöhung. Okay für die Symmetrie. Aber dass die Muse (was is'n hier eigentlich mit der Kongruenz von ihrer äußeren Gestalt und dem Gesagten - das geht ja mal gar nicht zusammen) vorher überhaupt dem Ego des Erzählers so krass schmeichelt, stinkt mir. Wir hatten das letztens schon mal, mit dem sich in den Vordergrund drängenden Erzähler. Hier ists genau das gleiche, nur eben durch die Muse vermittelt. Für mich gibts nur wenige Fälle, in denen solche völlig überspannten Ich-Erzähler funktionieren. Zb bei Arno Schmidt und bei Bernhard, hm, Hamsun. Aber in welche Richtung das auch geht - es muss mal von der Nabelschau weg! So ist das für mich halt so Masturbation auf die eigenen Fähigkeiten - wie dus in der Geschichte ja treffend darstellst, ist registriert. 3. Irgendwie 'n bisschen fluffiger. Nicht von schwarz auf weiß, sondern die Graustufenskala nutzen. Gern auch in Farbe, du verstehst.

Da sind richtig gute Ideen drin, ordentliches Wortmaterial und ein starker Erzähler. Raus aus der Gravitation ums Ich (hatten wir ja bei dem anderen Text schon) und auch mal die Zwischentöne ausloten ...

Grüße,
Kubus

 

Hallo,

ich glaube, immer mehr zu verstehen, was du meinst, K. Morgen fühlen, was heute nur gedacht, geahnt wurde. Vielleicht.

Gruß

 

Hallo Salamander,

Die Muse temperierte ihr Gelächter herunter, um mich zu unterbrechen. Ihre nun folgenden, bedeutend klingenden Worte wurden abermals durch ihre vom Lachen nachbebende und fühlbar gut durchblutete Konstitution kontrastiert: "Nicht nur aus dem Schlechten, das du von dir abgestoßen hast, bin ich geboren. Dein Leben verkümmert, weil du den, wie du sagst, optimalen Erfolg aus ihm herauskratzen, herausschaben willst, mit allen Mitteln, unter allen Opfern. Deine vielgestaltigen Kräfte und Fähigkeiten nutzt du nur, sofern sie diesem einen Zweck dienlich sind. Träume von Geborgenheit, Liebe und Sexualität finden in deinem Zettelkasten keinen Platz. Unter all deinen zynischen Krusten und Panzern, die das Sammelsurium von Gedankenfetzen und infantilen Gefühlen, das du Ich nennst, mühsam zusammenhalten, leben diese Träume aber weiter. Und hier stehen sie vor dir, Süßer." Sie war zum Fenster gegangen, um nach der Taube zu sehen. "Ist dies ein Traum?" - diese Frage, die ich mir oft vor dem Erwachen stelle, wenn das Wachsein gleichsam in den Traum hineinsieht, schoss mir durch den Kopf.
diesen Part würde ich - wenn auch nicht ersatzlos - doch auf alle Fälle streichen. Er ist viel zu erklärend. Alles andere muss für mein Gefühl nicht gestrichen werden, auch, wenn es sich sicherlich straffen lassen könnte. Allerdings passt es zu dem verkopften Erzähler.
Mir fehlt ein bisschen die Entwicklung. Sicher gibt es nicht das Schlüsselerlebnis, durch welches er vom kleinen Revoluzzer zum angepassten Studenten wurde. Aber möglicherweise gibt es Stationen der Desillusionierung, die dieses zweite Ich so in den Schatten gedrängt haben.
Auch finde ich, die Körperlichkeit nimmt Sehnsüchte. Es ist im Grunde ein stimmungsvolles Bild für deinen Erzähler, dass er am Ende seine eigenen früheren Ideale fickt, ich finde es im Moment noch nicht ganz glaubwürdig hergeleitet. Im Grunde müsste es dann aus Widerstand erfolgen, nicht aus der Resignation der Niederlage diesen alten Idealen gegenüber.
Ich spüre keinen inneren Kampf - und das, obwohl doch die Geschichte in der Teilung des Ichs genau das thematisiert. Die Zerrissenheit fehlt. Die spürbare Verlockung dessen, was er mal war, der große Widerstand dagegen.

Das liest sich jetzt viel negativer als ich die Geschichte beim Lesen empfunden habe. Sie las sich für mich (bis auf den eingangs zitierten Part) interessant und flüssig, ich konnte gut folgen und habe sie gern gelesen. Nur den inneren Kampf hätte ich dabei gern mehr gespürt.

Liebe Grüße
sim

 

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