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Richard träumt
Man kann nicht überall zur gleichen Zeit sein. Das ist nicht möglich.
Mit seinen verkrüppelten Beinen schleppt er sich zur Rolltreppe. Die Krücken wie unter den Achseln festgewachsen.
"Das geht nicht", grummelt er vor sich hin. - "Das geht einfach nicht. Es ist unmöglich."
Geglotze und Gelache. Er kann sie nicht alle retten.
Das färbt ab ... gelegentlich. Wie sich die Welt um einen herum verhält, das färbt ab. Aber nicht im Ursprungston. Bitterfarben nennt er das. Jeder noch so helle Ton immer auch ein wenig blutig.
Nach oben fahren, aufstützen ... zu Befehl.
Einmal in der Woche umsehen; das Reich der Menschen inhalieren. Es sind diese Augenblicke der Bitterfarben, die sich in seine Lungen atmen wie heißer Teer. Interessenlosigkeit und das Gefühl von einer Zeit, die eine Konstante aus der Erinnerung heraus bis heute darstellt. Alles anders und doch gewohnt.
Wenn Richard nach Hause kommt; in die Toilette, manchmal auch in das Waschbecken kotzt, sich die Windel wechselt ... er lacht dann nachher dreckig und wichst sein Sperma auf angetrocknete Flecken.
Man könnte meinen, dass er auf verschrobene Art und Weise Spaß an seinem Tun hat.
Dann schläft er für gewöhnlich ein. Er schläft dann ein; in seinen ungewaschenen Sachen; ohne eine frische Windel. Richard hat immer dieses zufriedene Lächeln im Gesicht.
Man könnte meinen, er sei glücklich in seinem Tun. Die Illusion schwindet erst, wenn er mitten in der Nacht unter der vollgeschissenen Bettdecke aufwacht und in fiebriger Gleichgültigkeit heult, als handele es sich bei Richard um ein Kleinkind. Das sind diese Momente, in denen niemand lachen würde, aber da ist Richard auch allein.
Immer Mittwochs atmet er heißen Teer. Immer Mittwochs kommen die Bitterfarben. Der Krüppel auf der Rolltreppe. Heil Hitler will er manchmal brüllen.
Nicht, dass ihm noch etwas daran läge. Aber es wäre eine schöne Provokation.
Es wäre etwas.
Einmal haben ein paar Typen seine Krücken weggestoßen. Das war an der U-Bahn Haltestelle Sternstraße. Sie haben sie von ihm gestoßen und er hat gemerkt, dass diese dämlichen Dinger doch nicht mit ihm verwachsen sind. Er ist zu Boden gestürzt, hat sich alle möglichen Rippen gebrochen. Dann hat der eine so richtig den Rotz hochgezogen und ihm auf den Schädel gespuckt.
"Alte Mongofresse", hatte er gesagt. Richard war das Hakenkreuz auf seinem Arm aufgefallen, und kurz war ihm der Gedanke gekommen, dass er nun zu den Alten gehört.
Dann war er unter Schmerzen aufgestanden, wie ein kleines Wunder eigentlich, dass er da noch aufstehen konnte ... der Typ jedenfalls nuckelte an seinem Bier und witzelte mit den Kameraden herum.
Richard hatte gar nicht so wirklich nachgedacht in diesem Augenblick. Er schlug einmal, zweimal, dreimal mit der Krücke zu. Die Kameraden standen da, und wussten gar nicht, was sie unternehmen sollten, während Richard zu zählen aufgehört hatte.
Deswegen gab es einen Artikel in der Zeitung. Während des Interviews spürte Richard den Kot an seinen Beinen hinunterlaufen, und er wollte da im Grunde nur möglichst schnell wieder weg.
Dieser Kerl, der da gerotzt hatte, der saß jetzt im Rollstuhl.
Wenn nicht gerade Mittwoch ist, will Richard eigentlich nur zu Hause sitzen, in dem Garten, den er nicht hat. Er will auf den Tod warten. Was kann er denn bitteschön noch gut machen in den paar wenigen Jahren, die noch bleiben?
"Das ist albern", sagt er zu sich selbst.
Er schließt die Augen und schläft ein.
Es wird kein langer Schlaf sein.