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Richard träumt

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24.04.2003
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Richard träumt

Man kann nicht überall zur gleichen Zeit sein. Das ist nicht möglich.
Mit seinen verkrüppelten Beinen schleppt er sich zur Rolltreppe. Die Krücken wie unter den Achseln festgewachsen.
"Das geht nicht", grummelt er vor sich hin. - "Das geht einfach nicht. Es ist unmöglich."
Geglotze und Gelache. Er kann sie nicht alle retten.
Das färbt ab ... gelegentlich. Wie sich die Welt um einen herum verhält, das färbt ab. Aber nicht im Ursprungston. Bitterfarben nennt er das. Jeder noch so helle Ton immer auch ein wenig blutig.
Nach oben fahren, aufstützen ... zu Befehl.
Einmal in der Woche umsehen; das Reich der Menschen inhalieren. Es sind diese Augenblicke der Bitterfarben, die sich in seine Lungen atmen wie heißer Teer. Interessenlosigkeit und das Gefühl von einer Zeit, die eine Konstante aus der Erinnerung heraus bis heute darstellt. Alles anders und doch gewohnt.

Wenn Richard nach Hause kommt; in die Toilette, manchmal auch in das Waschbecken kotzt, sich die Windel wechselt ... er lacht dann nachher dreckig und wichst sein Sperma auf angetrocknete Flecken.
Man könnte meinen, dass er auf verschrobene Art und Weise Spaß an seinem Tun hat.
Dann schläft er für gewöhnlich ein. Er schläft dann ein; in seinen ungewaschenen Sachen; ohne eine frische Windel. Richard hat immer dieses zufriedene Lächeln im Gesicht.
Man könnte meinen, er sei glücklich in seinem Tun. Die Illusion schwindet erst, wenn er mitten in der Nacht unter der vollgeschissenen Bettdecke aufwacht und in fiebriger Gleichgültigkeit heult, als handele es sich bei Richard um ein Kleinkind. Das sind diese Momente, in denen niemand lachen würde, aber da ist Richard auch allein.

Immer Mittwochs atmet er heißen Teer. Immer Mittwochs kommen die Bitterfarben. Der Krüppel auf der Rolltreppe. Heil Hitler will er manchmal brüllen.
Nicht, dass ihm noch etwas daran läge. Aber es wäre eine schöne Provokation.
Es wäre etwas.

Einmal haben ein paar Typen seine Krücken weggestoßen. Das war an der U-Bahn Haltestelle Sternstraße. Sie haben sie von ihm gestoßen und er hat gemerkt, dass diese dämlichen Dinger doch nicht mit ihm verwachsen sind. Er ist zu Boden gestürzt, hat sich alle möglichen Rippen gebrochen. Dann hat der eine so richtig den Rotz hochgezogen und ihm auf den Schädel gespuckt.
"Alte Mongofresse", hatte er gesagt. Richard war das Hakenkreuz auf seinem Arm aufgefallen, und kurz war ihm der Gedanke gekommen, dass er nun zu den Alten gehört.
Dann war er unter Schmerzen aufgestanden, wie ein kleines Wunder eigentlich, dass er da noch aufstehen konnte ... der Typ jedenfalls nuckelte an seinem Bier und witzelte mit den Kameraden herum.
Richard hatte gar nicht so wirklich nachgedacht in diesem Augenblick. Er schlug einmal, zweimal, dreimal mit der Krücke zu. Die Kameraden standen da, und wussten gar nicht, was sie unternehmen sollten, während Richard zu zählen aufgehört hatte.
Deswegen gab es einen Artikel in der Zeitung. Während des Interviews spürte Richard den Kot an seinen Beinen hinunterlaufen, und er wollte da im Grunde nur möglichst schnell wieder weg.
Dieser Kerl, der da gerotzt hatte, der saß jetzt im Rollstuhl.

Wenn nicht gerade Mittwoch ist, will Richard eigentlich nur zu Hause sitzen, in dem Garten, den er nicht hat. Er will auf den Tod warten. Was kann er denn bitteschön noch gut machen in den paar wenigen Jahren, die noch bleiben?

"Das ist albern", sagt er zu sich selbst.

Er schließt die Augen und schläft ein.

Es wird kein langer Schlaf sein.

 
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Uff.

Hallo Cerberus,
eine dichte und bedrückende Stimmung, die Du gekonnt transportierst!

Die Verzweiflung, Ausweglosigkeit und die hin und wieder aufkeimende Wut des Protaginisten wird spürbar. Und dann ist da noch mehr - eine Art "Galgenhumor", mit der er ab und an aus sich heraustritt und sich betrachtet ... und das mit einer brutalen Komik.
Und weil er sich diese erhalten hat, wehrt er sich (noch) und gibt nicht gänzlich auf. Obwohl er schon vieles in sich gänzlich aufgegeben hat... Zumindest lese ich das aus Deinem Text heraus. ;-)

Meine Bewunderung für Deine empathische Fähigkeit ist Dir sicher. :-)

 

Hallo Ceb,

Schon eine harte bedrückende Geschichte, die du uns hier lieferst. Du schreckst dabei vor nichts zurück und das finde ich gut. Handelt es sich hier um einen Mann mit Down-Syndrome? Ja, oder?
Ich fand es ein bisschen erstaunlich, dass er, obwohl er mit Krücken herumläuft, es schafft einen Mann in einen Rollstühl zu verprügeln...
Gut geschrieben auf jeden Fall.

mfg,

JuJu

 

Hallo ihr beiden und vielen Dank für eure Kommentare.

Es soll sich allerdings nicht um einen Mann mit dem Down-Syndrome, sondern schlicht und einfach um einen alt Nazi handeln, der seine Gesinnung bis zum heutigen Tage nicht hat völlig aufgeben können.
Da ich keine heute alt gewordenen, ehemaligen Soldaten des dritten Reiches verunglimpfen wollte, habe ich mir ein individuelles Ekelpaket herausgesucht, das von Anfang an voller Überzeugung gewesen ist, und sich niemals irgendwelche Gedanken gemacht hat. Solche Menschen gibt es leider.
Mir ist es wichtig klarzustellen, dass diese Geschichte keine ehemaligen deutschen Soldaten diffamieren soll. Ich ziele hier ganz speziell auf diese überzeugten alt Nazis ab, die noch heute darüber trauern, dass das Deutsche Reich den Krieg nicht für sich entscheiden konnte.

 
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Hallo Cerberus,

sorry, aber das war nicht mein Fall. Wenn ich die Geschichte in ihr diametrales Gegenteil umkehren würde, wäre sie so schmalztriefend kitschig, dass es mein Notebook zerreißen würde vor Harmonie. Und nur, weil Du Dreck an Kotze an Scheiße an schlimme Menschen reihst, soll es Tiefgang haben oder toll sein oder ... nee nee nee! Das ist nichst als ein Negativklischee im Ultraformat!

Mir fehlt die Spannung, das Gefälle. Der Wechsel zwischen Licht und Schatten, Gutem und Schlechtem, die Brüche, die Kontraste. Der Altnazi käme viel schlimmer rüber, wenn seine ideologische Bösartigkeit mit irgendeinem sympatischen Wesenszug kontrastierte.

Und, als medizinberuflicher Plausibilitätsfanatiker:

wenn er eine Enddarminsuffiziens hat, ist das Rückenmark dergestalt geschädigt, dass er nicht mehr an Krücken gehen kann, zumindest nicht mehr als wenige Meter.
Sich einkoten und ungewaschen, ohne frische Vorlage ins Bett gehen - das macht er bis zum ersten Drückgeschwür, welches nicht lange auf sich warten lässt. Spätestens wenn das rohe Fleisch in Urin und Stuhl scheuert, kehrt auch der unbelehrbarste Nazi zur Hygiene zurück.
Dass ein auf Krücken angewiesener Krüppel jemand anderes krankenhausreif schlägt ... haben andere schon angekreidet. Nur so viel: ein stehender Mensch bezieht seine Kraft größtenteils aus dem Becken, was bei Deinem Prot hinfällig ist.

Außerdem gefallen mir die Stellen nicht, an denen der Erzähler sich penetrant in den Vordergrund drängt und das Leben des Prot kommentiert.

Von Charons Haustier habe ich schon besseres gelesen!

Einziger Lichtblick:

Es sind diese Augenblicke der Bitterfarben, die sich in seine Lungen atmen wie heißer Teer.

Nix für ungut,
Pardus

 
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Hallo Cerberus81,

da sind aber allerhand inhaltliche Ungereimtheiten und effekthascherische Aufbauschungen drin!

a) zum Thema „Altnazi“: Du sagst in deiner Geschichte bezüglich des Hitlergrußes:
„Nicht, dass ihm noch etwas daran läge. Aber es wäre eine schöne Provokation.“
In deinem anschließenden Kommentar aber belegst du, dass er immer noch ein überzeugter Altgesinnter sei.
Liegt ihm nun was dran oder nicht?

Im Übrigen leuchtet mir nicht ein, warum bei jungen und jüngeren Leuten die Nazimasche und Nazikraftausdrücke so hochaktuell sind, ….dass dieses Thema für jeglichen Frust und jegliches Feindbild herhalten muss und sogar –wie ich lese - oft zum Thema von Kurzgeschichten gemacht wird…. hat sich fast so eingebürgert wie die Ausdrücke „cool“ und „geil“.
Es müssten sich doch andere Feindbildkonstellationen aufbauen lassen, als immer nur das unehrenhafte Andenken an diese Zeit aufzuwärmen…. Scheint aber „in“ zu sein.

b) Hast du dir mal Gedanken über das Alter des Veteranen gemacht?
Zeitrechnung Mittelwert 1942 = Mindestalter 18 Jahre: Als Kriegsveteran müsste der Mann jetzt mindestens 84 Jahre alt sein!
Ich glaube kaum, dass man mit 84 so locker mit den Krücken rumläuft.

c) Warum leidet der an Krücken Gehende zu allem Übel noch an hochgradigem Darmkontrollverlust? Ein Anus-Praeter und Pflegekassenbelastung (Pflegestufe I) würde hier schnelle Abhilfe schaffen.– auch ein altes Kriegsleiden??? Hier kommt es ja knüppeldick!… bisschen Prostata hätte ja auch gereicht!

Nun gut, mit 84 und jünger kann es passieren, dass man zuweilen unter sich lässt, aber dass man dann gleich auch noch wöchentlich in diesem Alter (84) seinen Sexualtrieb am Waschbecken austobt -zwangsweise austoben muss???
Und Erbrechen muss er auch noch regelmäßig? Der Mann ist hochgradig krank, bräuchte Pflege!

d) Mittwochs wechselt er immer seine Windel nach seinem Teeratmungsausflug sagst du, ….dann aber schläft er - Zitat:„in seinen ungewaschenen Sachen; ohne eine frische Windel.“

e) Zitat.“Richard hat immer dieses zufriedene Lächeln im Gesicht.“
Ich schließe daraus, dass der ansonsten total frustrierte / verbitterte alte Mann nun auch noch geistig nicht mehr ganz zurechnungsfähig ist.

Du hast aber auch alle Geschütze aufgefahren!

Fazit: Für ein von dir aufgebautes Kurzgeschichten- Feindbild (Abscheu vor Altnazi) kann ein so Verwirrter doch nicht ernsthaft herhalten, oder?

Man hätte aus dem Ganzen eine Mitleidsgeschichte über verwirrte, alte, hochgradig kranke Menschen – hier Männer- machen können, denen man – weil vom Umfeld unbeachtet – keine Hilfe (Altersheim/ Anstalt/ Pflegestufe) zukommen lässt.

Unter diesem Aspekt finde ich die Geschichte – sorry – geschmacklos!

kathso60

 

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