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Riegel
Jetzt geht der Bruder so spät noch aus dem Haus. Vom Fenster aus sehe ich ihn, wie er um die Ecke biegt, wie er kurz in meine Richtung blickt, aber doch an mir vorbei.
In seinem Zimmer brennt kein Licht. Nur Schattenwerfer und ihre Schatten hier. Ein Schatten auch in der Schublade neben seinem Bett, wo sonst das Messer lag.
»Ich habe schon geahnt«, tönt es aus dem Flur, »dass du meinen Privatbesitz nicht achtest.«
»Wovon sprichst du«, sage ich bloß und schiebe währenddessen die Schublade zu, hebe sie leicht an, sodass sie in ihren Schienen keinen Laut von sich gibt, und setze mich aufs Bett.
»Es war doch schon heute Morgen klar, dass du etwas ausheckst«, sagt der Bruder und tritt in den Türrahmen. »Du warst schon immer ein miserabler Lügner, Riegel.«
»Nenn mich nicht Riegel und komm mir nicht zu nah!«
»Du musst doch keine Angst haben, Riegelchen, doch nicht vor deinem Bruder?«
»Wenn du mein Bruder bist, warum gehst du dann so spät noch aus dem Haus? Was hast du da draußen zu suchen? Reicht es dir nicht, hier mit mir zu sein, zwar nicht direkt zusammen, aber doch Zimmer an Zimmer, Wand an Wand, was lässt dich im Dunkeln wegschleichen wie ein Dieb oder vielleicht sogar Schlimmeres?«
»Worum geht es dir denn, Riegel?«
Als würde er auf einem Seil balancieren, betritt der Bruder den Raum. Setzt einen Fuß vor den anderen. Hacke, Ballen, Zehen entrollen sich wie ein Teppich, der jeden Laut erstickt.
»Bist du nicht gern allein? Ist es das?«
»Nein, darum geht es nicht.«
»So. Darum nicht. Aber vor irgendetwas hast du Angst, das ist ganz deutlich. Es ist ja, als würde das Schwarz um dich herum im Takt deines rasenden Herzens pulsieren. Du machst das Schwarze ja noch schwarzer mit deinen dunklen Gedanken …«
»Komm mir nicht zu nah, hab ich gesagt!«
Da erzittert der Raum kurz in zackigen Wellen, so schrill kratzt mein Schrei durch die Luft.
»Beruhige dich, Mann. Denk an die Nachbarn. Ich komm jetzt näher, Riegel – ich darf doch? Ist ja mein Zimmer, wenn man darüber nachdenkt, ich gehöre ja hier her. Du hingegen …«
»Ich hingegen bin ein Einbrecher, willst du darauf hinaus? Aber lass mich dich gleich unterbrechen, immerhin bin es ich, der hier die Miete zahlt, während du –«
»Während ich nachts durch die Gassen schleiche wie ein Dieb – oder Schlimmeres, waren das nicht deine Worte? Hast du Sorge, was dein Bruder in der Nacht da draußen macht? Hast du Angst? Ich könnte es dir verraten – ganz einfach. Dann müsstest du nicht mehr am Fenster stehen wie ein lausiger Spion oder ein Privatdetektiv, kein guter, muss ich an der Stelle noch mal anmerken …«
»Warum denn nicht?«
Da lacht der Bruder auf, dass ich mich an die Wand presse. So laut, dass vermutlich das halbe Haus davon wach wird, die Lampen anknipst und aufrecht im Bett sitzt.
Aber schon herrscht wieder Stille. Die folgenden Worte kommen dem Bruder ganz leise über die Lippen. Fast säuselnd, fast sinnlich.
»Du hast wieder an die Nachbarn gedacht, oder nicht? Als ich so laut gelacht habe. Hast, ob du wolltest oder nicht, den Maier und seine Frau vor dir gesehen, aufeinander, untereinander, eng umschlungen. Wie sie mit zerwühlten Haaren und geröteten Wangen ihre Nachttischlampen anknipsen und sich im Bett aufsetzen, darauf lauschend, ob hier noch weiter gelacht oder gebrüllt – », und hier brüllt der Bruder tatsächlich wieder, spricht die erste Silbe noch ganz leise und wir dann laut, »ge-brüllt wird.« Wieder leise: »Ach, du solltest dich mal sehen, Riegel. wie ein Zitteraal oder ein Kaninchen. Oder bin ich der Aal, ich und alle anderen, und nur du das Kaninchen? Immer fluchtbereit, immer mit angelegten Ohren, die Augen schreckensstarr geweitet, in Panik – aber wovor eigentlich? Was plagt dich denn, Riegelchen? Das Gewissen? Spuck’s aus! Bin doch bloß ich. Du weißt schon. Dein Bruder.«
So sicher war ich mir dabei nicht. Vorhin, als ich aus dem Fenster sah. Trug er da nicht noch etwas anderes? Trug er da schon diesen breitkrempigen Hut und den langen Mantel? Überhaupt hatte ich ihn noch nie in diesem Aufzug gesehen.
»Weißt du, Riegel, die Mutter hat mal gesagt –«
»Halt die Mutter aus der Sache raus!«
»Sachte, jetzt weckst aber du die Nachbarn auf, mein Kleiner! Alles gut, Herr und Frau Maier, alles gut, das geht vorüber, das ist nur eine Phase, ein kurzer Aufwallen unterdrückter Emotionen – ach nein. Jetzt sind mir die Worte der Mutter ja doch rausgerutscht. Sag mal, weinst du jetzt? Aber warum denn, mein Kind? Weil der Vater uns verlassen hat? Weil die Phasen ihm zu viele wurde, zu viel waren, wie du, weil er«, und da setzte der Bruder wieder die Hacke seines Fußes auf, »dich«, Ballen – »nicht«, Zehen – »lieb hat?«
Irgendwo stand ein Fenster offen, denn im Raum wurde es schlagartig kalt. Das weiße Licht der Laternen, das von der Straße hereindrang, verstärkte diesen Eindruck noch.
»Hier, nimm meine Decke. Du zitterst ja.«
»Deine Decke? Die ich besorgt, die ich bezahlt habe?«
Aber ich nahm sie trotzdem und warf sie mir sogar über den Kopf, dass nur noch meine Augen zu sehen waren.
»Ich sehe sowohl den Vater als auch die Mutter in deinen Augen, Riegel. Der Vater ist der Schrecken – das Kaninchen, das Fluchttier. Das erstarrt und gelähmt wird bei dem Gedanken, wie es vor sich selbst wegrennen kann. Der Vater … Ist das wummernde Herz. Der Puls. Mit der Mutter ist das schwieriger. Die Mutter ist wohl eines dieser Fabelwesen, wie man sie sich früher zurechtgesponnen hat, wenn man bei Nacht alleine im Wald unterwegs war, als Landstreicher unterm Sternenhimmel, von einer Stallung zur nächsten, und dann ein Geräusch vernahm. Eine geflügelte Wildsau mit Geweih oder ein Luchs mit acht dünnen, feingliedrigen Spinnenbeinchen, was weiß ich. Denn die Fantasie, die mir fehlt, die hast ja du von der Mutter bekommen. Und was für eine verheerende Kombination das ist, das weißt du ja selbst, mein Riegelein, nur deshalb schließt du dich wieder und wieder ein. Setzt der Fantasie bewusst Grenzen. Hinderst dich an der Flucht, und hoppla, jetzt frage ich mich doch, ob du das wirklich weißt, ob du dir dessen wirklich bewusst bist? Ob dir das schon mal jemand gesagt hat? Aber wer denn, wenn nicht ich – Herr und Frau Maier wohl kaum!«, und das brüllte er wieder, wie ein Bellen fast, wie ein Fauchen, »Kaum!«, zisch!, und da springe ich auf und will ihm an die Gurgel – und halte mich gerade noch zurück.
»Oho, schau mal an!«, sagt der Bruder bloß und bleibt an der gleichen Stelle stehen. Mitten im Raum, einen Fuß vor den anderen gesetzt, mit den Armen die Balance haltend.
»Da war es fast so weit – der Brudermord, wie prophezeit! Darauf läuft es also hinaus. Und trotzdem – hält dich etwas zurück. Was ist es denn, Riegel? Was fesselt dich noch, was lässt dich die Augen senken? Doch nicht die Scham? Nein, wozu denn schämen, zumal vor mir, deinem Bruder – deiner Familie! Ich kenne dich doch, mehr sogar, als du dich selbst kennst, mag es mir manchmal scheinen. Ich weiß doch, dass du einen Schwanz hast wie ich und ich weiß doch von deiner Fantasie … Die du von der Mutter hast … Und ich will dich nicht quälen, Bruder, aber auch unser Vater hatte einen solchen Schwanz, das weißt du doch? Ich bin mir da gar nicht mehr sicher … Also, was dich angeht. Was du weißt … Aber du hast doch nicht wirklich geglaubt, alles ausblenden zu können? Zu verdrängen, in eine Schublade zu stecken und – ach, da fällt mir noch etwas ein, Riegel. Fast hätte ich es vergessen. Mach mal Platz.«
Hacke.
Da wurde mein Blick auf die Tasche seines Mantels gelenkt.
Ballen.
Auf den dunklen, nassen Fleck, der sich von dort ausbreitete.
Zehenspitzen.
»Ich soll dir noch einen Gruß ausrichten.« Säuselnd wieder, schlüpft er ins Bett.
»Und ich habe sogar etwas mitgebracht. Was gar nicht so einfach war. Denn von da, wo ich gewesen bin, nimmt man eigentlich nichts mit. Man hinterlässt etwas, aber auch das habe ich getan. Also, Riegel, willst du es sehen? Bist du bereit?«
Ich dachte, ich wär’s.