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Risse im Spiegel
Ich lebe schon lange alleine in meiner kleinen Wohnung. Es ist eine trostlose Stadt.
Große graue Häuser, eckige Kästen die in den Himmel ragen.
Es gibt nur wenig Farbe, alles ist grau und trübe, hellgraue Straßen, dunkelgraue Häuser, die graue Kleidung der Leute und die grauen Wolken am Himmel.
Mein Zimmer ist schlicht eingerichtet. Ein Bett, ein Schrank mit Spiegel, ein Schreibtisch und ein Regal. Die Glühbirne flackert, ich habe sie schon lange nicht gewechselt. Heute ist Mittwoch. Jeden Mittwoch geschieht etwas dass mich aus meinem grauen Alltag herrausreißt, etwas dass mein Leben mit einem Sinn erfüllt. Jeden Mittwoch treffe ich die Frau auf der anderen Seite des Spiegels. Der Spiegel in meinem Schrank ist der Durchgang zu einer anderen, fensterlosen und dunklen Wohnung. Dort wohnt sie. Die schönste Frau die ich je sah, lange Haare, die Haut blass - fast weiß. Dunkle endlose Augen in welchen ich mich verliere. Sie spricht niemals, aber dennoch verstehe ich sie. Sie zeigt mir in meinen Gedanken Dinge von unglaublicher Schönheit, Farben und Formen die ich in meiner eckigen grauen Welt nicht sehe. Ich nenne sie P.
Ich durchschreite den Spiegel. Ihre Wohnung ist groß, viele Räume und verschachtelte Flure. Es gibt kein Licht, ich nehme die Taschenlampe. An den Wänden krabbeln Insekten und Käfer in den schillernsten Farben, es sind so viele, dass sie wie ein wanderndes Gemälde wirken. Die Luft ist feucht und es duftet nach Blumen. Überall auf dem Boden sehe ich die schönsten Blüten. P sitzt in ihrem alten Stuhl im größten Zimmer. Dieses Zimmer ist anders. Die Blumen sind verwelkt und hängen über dem Boden, die Käfer längst gestorben und verfaulen an den Wänden. P sitzt immer in einem alten Holzstuhl, traurig das Gesicht gesenkt, aber wenn ich hereintrete lächelt sie. Auch heute sieht sie mich lange an. Ich spiegle mich in ihren Augen. P ist in ein weißes Kleid gehüllt, der Saum ist schwarz und beginnt sich aufzulösen. Sie trägt immer dieses Kleid. Ich genieße die Dunkelheit, die Ruhe und die Gerüche. Ich würde am liebsten immer hier bleiben und P. betrachten, aber immer wenn der Tag anbricht löst sich alles auf, der Spiegel ächzt und ich werde zurück in mein Appartment gezogen. Immer wenn ich zurückkehre bekommt mein Spiegel einen Sprung. Er ist nun im Lauf der Jahre mit Rissen übersäht und ich weiß das er irgendwann zerspringen wird. Ich selbst kann mich nur noch verzerrt darin sehen. Es ist fraglich ob ich dann noch einmal zu P. zurück kann. Ich versuche die Tage zwischen den Mittwochen schnell zu überwinden, ich lebe für das Treffen mit P. Es ist alles was mein Herz noch mit Freude erfüllt, mehr gibt es nicht mehr für mich.
P. nimmt mich an die Hand. Sie tut dies oft und führt mich zu neuen Orten ihrer Wohnung. Ihre Hand ist klein, zierlich und zerbrechlich. Sie ist kalt. Ich liebe sie, doch ich werde diese Liebe niemals ausleben können. Obwohl ich alles dafür tun würde bei ihr zu bleiben wird es niemals geschehen. Sie führt mich durch die langen dunklen Gänge ihrer Wohnung. Ich spüre wie die Pflanzen zu meinen Füssen dicker werden und versuchen sich um mich zu schlingen. Das Rascheln der Käfer an den Wänden wird lauter. Ich leuchte mit der Taschenlampe auf verdorbener Früchte - sie leuchten in allen Farben. Der Geruch wird intensiver. Sie sieht mich an. Ihre Augen fesseln mich erneut. Ihr Gesicht unter all den langen Haaren ist makelos. Doch im schönsten Moment löst sich das Spiel aus Farbe und Musik auf. Ich erkenne zuerst die Schatten, dann die Umrisse meines Zimmers. Ich bin zurück - der Spiegel ächzt und ein weiterer Sprung wird sichtbar.
Die ersten Glassplitter gleiten herunter. Meine Seele schmerzt, er wird nicht mehr lange halten. Ich höre das plätschern des Regens. Es wird hell draußen. Die Sonne schimmert schwach orange durch die grauen Wolken. Eine Woche werde ich warten müssen bis ich zurück kann. Endlose Stunden werden vergehe. Ich lebe nur für die Rückkehr.
Die Tage vergehen langsam. Ich gehe durch die Straßen. Es ist kalt, doch ich nehme die Kälte kaum war. Viele Menschen in grauen und schwarzen Menschen kommen mir entgegen, ich sehe sie nicht an. Der Lärm der Autos, ich höre ihn nicht mehr. Ich fühle mich wie in einer Seifenblase. Nachts wenn ich schlafe, wenn ich am Tag die Augen schließe, höre ich wie sich die Splitter aus meinem Spiegel herauslösen. Es ist ein leises schleifendes Geräusch. Ich versuche die Augen nicht mehr zu schließen. Ich versuche nicht mehr zu schlafen. Ich starre stundenlang in den Spiegel und sehe meine von Rissen durchtrennten Körper. Der Rahmen des Spiegels ist schwarz und modrig geworden. Ich habe Angst ihn zu berühren. Ich kann die Welt da draußen nicht mehr ertragen, ich verdunkle meine Fenster. Ich warte, Stunde um Stunde. Ich habe mein Zeitgefühl verloren. Nach endlosem Warten, es ist soweit. Ich kann hindurch. Meine Knochen schmerzen, ich habe sie lange nicht mehr benutzt. Ich krieche in den Spiegel, krieche durch die dunklen langen Gänge. Die Pflanzen sind weich, wie ein Kissen. Sie bewegen sich, sie treiben meinen Körper vorwärts. Ich gleite auf einem Meer aus Blüten. Ich sehe weiße Beine. Es sind die Beine von P. Sie gibt mir ihre Hand. Es fällt mir nun leicht aufzustehen. Sie lächelt. Ihr Kleid ist schwarz geworden. Hinter ihr ist ein Spiegel, ich sehe meine Wohnung dahinter. Ein schleifendes Geräusch, der Spiegel zerbricht. P. nimmt meine Hand, ich folge ihr in die Dunkelheit.