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Robert
Robert steht auf dem Bahnhofsvorplatz. Menschen strömen um ihn herum. Mehrmals wird er angerempelt. Keiner entschuldigt sich, viele schimpfen, dass er im Wege steht.
Robert dreht sich im Kreis, hält Ausschau.
Vorgestern hat er auch Ausschau gehalten. Hat gewartet. Auf den richtigen Moment, die richtige Frau, die richtige Tasche. Darin ist er Meister. Das kann er, die Anerkennung der anderen war ihm stets gewiss.
Auch gestern. Kevin klopfte ihm auf die Schulter, Flori pfiff durch die Zähne.
„Das sind hundertfünfzig Euro!“ Nadine nahm die Scheine aus der Börse, warf den Beutel dann achtlos weg, die Tasche schwamm längst den Fluss hinunter.
Der Nachmittag war toll. Zwei Kinofilme hatten sie sich angeguckt. Der eine war zwar erst ab sechzehn, aber Nadine hatte, stark geschminkt, die Karten für alle geholt.
„Kein Problem, Jungs!“ Sie wedelte mit den Karten und kurz darauf saßen sie im Dunkeln, jeder einen Eimer Popcorn und eine Riesencola auf dem Schoss. Als sie satt waren, bliesen sie das Popcorn mit den Trinkhalmen an die Decke des Kinos.
Robert lachte, sonnte sich in seinem Heldentum.
Die Farbe der Handtasche, das Gefühl des kratzigen Wollmantels am Arm, das Gesicht der alten Frau, all das war längst verschwunden. Hätte man ihn danach gefragt, er hätte die Schultern gezuckt.
Jetzt steht er wieder auf dem Bahnhofsplatz. Diesmal allein, seine Freunde sind in der Innenstadt.
Gestern Abend, als er nach Hause kam, hatten seine Eltern vor dem Fernseher gesessen. Seine Mutter hatte sich kurz rumgedreht, irgendetwas vor sich hingemurmelt, dann wieder auf das Filmern des Bildes gestarrt. Robert hatte sich eine Cola geholt, wollte sich zu den beiden setzen.
„Schuhe ausziehen!“, brummte ihn der Vater an.
Robert guckte auf die schwarzen Schuhe an den Füßen des Vaters. Er wollte etwas sagen, der Vater zischte ihn an:
„Na, wird`s bald!“
Robert zog die Schuhe aus, ließ sie achtlos unter dem Wohnzimmertisch fallen. Die Mutter griff zu einer Zigarette, zündete sie an.
„Wird Zeit, dass du kommst.“, sagte sie ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. Sie schob Fernsehzeitung, Gläser und Anderes auf dem Tisch hin und her, fand den vollen Aschenbecher zwischen Papiertaschentüchern und Schokoladenpapier.
Robert guckte auf den Fernseher, ließ die Bilder irgendeiner Nachrichtensendung vorbei ziehen. Hörte mit halben Ohr den Kommentaren von Vater und Mutter zu.
Er war fast eingedöst, als etwas seine Aufmerksamkeit anzog. Eine alte Frau war überfallen worden.
`Na, und, was denn?, dachte Robert, `die hat doch bestimmt genug Kohle, so wie die aussieht`.
Er blickte auf das Bild der alten Frau.
`Sieht aus, wie alle. Gibt es viele von.` Er nahm einen Schluck Cola.
Das Bild verschwand, ein Sprecher in einem Fußgängertunnel tauchte auf, erzählte vom Überfall auf die alte Frau. Robert blieb unberührt.
`Soll sie halt nicht da durchgehen mit Kohle in der Tasche.`
Zeugen wurden befragt, schilderten, wie der alten Frau die Tasche entrissen wurde. Von einem Jugendlichen. Robert wurde aufmerksam.
„Der war höchstens vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Hat die arme Frau am Arm gepackt, ihr die Tasche weggerissen und ist da runter gerannt!“
Ein Mann zeigt den Tunnel entlang.
Robert blickt stumm auf den Fernseher.
„Die Frau hat sich erst an die Wand gelehnt, dann ist sie einfach umgekippt. Ich habe sofort den Notarzt gerufen!“ Eine Frau weint in die Kamera.
„Aber, als der Arzt kam, war sie schon tot. Die ist vor Schreck einfach tot umgefallen.“
Robert wurde heiß. Er sah sich den Bericht genau an. Sah, dass es eine andere Stadt war. Sah, dass der Fußgängertunnel ganz anders war, mit vielen unbekannten Geschäften. Er war größer, neuer schöner.
Unser Tunnel ist klein, dreckig beschissen und bepisst``, dachte er. Harnröhre nannten sie ihn.
`Das ist eine andere Omi! Meine hat hinter mir her geschrieen!`
Und mit einem Mal sah er die Frau vor sich. Einen roten Mantel hatte die angehabt. Und ihre Haare waren gar nicht grau gewesen, blond, obwohl sie doch schon alt war. Jetzt hörte er, was die Frau geschrieen hat:
„Du dreckiger Verbrecher, du gehörst ins Gefängnis! Bleib sofort stehen!“
Er stand auf, ging in seine Zimmer, guckte dort lange aus dem Fenster. Wieder und wieder sah er seinen Überfall. Dachte an das, was in der anderen Stadt passiert war. Was wenn seine Frau auch tot war, nur später vielleicht?
Jetzt steht er da, wo er sich gestern als Held gefühlt hatte.
Seinen Freunden ist er aus dem Weg gegangen. Sie haben ihn nicht vermisst. Er stand hinter einem Baum und sah sie gehen. Keine zehn Minuten haben sie gewartet, gestern. Heute sind sie sofort weiter gegangen.
Jetzt steht er auf dem Bahnhofsplatz, wartet auf die Frau, weiß nicht warum. Zweimal schon hat er gedacht, da ist sie. Dann war er sicher, sie hat anders ausgesehen. Nicht so gebeugt, wie die eine, nicht so groß, wie die andere.
`Sehen doch nicht alle gleich aus!`, denkt er, versucht sich seine Großmutter vorzustellen. Eine hat er noch. Er kann sich nicht an sie erinnern, hat sie das letzte Mal als Kindergartenkind gesehen. Dann haben sich die Eltern mit ihr zerstritten.
Da, das ist sie wirklich. Das ist die Frau von gestern. Heute zieht sie eine Einkaufskarre hinter sich her, unter dem Arm trägt sie eine andere Tasche, hält sie heute ganz fest an sich gedrückt. Langsam kommt aus dem Bahnhof schaut hin und her. Dann wählt sie einen anderen Weg, geht nicht durch den Fußgängertunnel, geht außen herum, auch, wenn es weiter ist.
Die Frau geht dicht an den Wänden des Bahnhofsgebäudes vorbei. Die Tasche unter dem Arm, der bleibt dicht an der Hauswand, dann über die Straße, folgt der Straße bis zur großen Kreuzung.
`Hier könnt ich ihr die Tasche noch besser entreißen, kein Mensch weit und breit!`, denkt Robert, grinst für einen Moment, dann wird er rot.
Sie müssen an einer Ampel stehen bleiben. Robert merkt, dass die Frau ihn von der Seite mustert. Ja, sie ist es . Sie hat den gleichen roten Mantel an.
Sie blickt Robert prüfend an, streicht eine Haarsträhne hinter das Ohr, guckt wieder gerade aus auf das Ampellicht. Robert zieht die Kapuze seines Pullovers über den Kopf.
In der Fußgängerzone dreht sie sich mehrmals um. Schließlich bleibt sie stehen.
Robert geht auf sie zu, zögert.
„Hallo, kann ich ihnen helfen, vielleicht ihre Karre ziehen...“
Er will weiter sprechen, da kracht die Handtasche der alten Frau auf seinen Kopf. Einmal, zweimal, er spürt eine Metallschnalle an der Schläfe, duckt sich weg, beim dritten Mal trifft sie nur noch seine Schulter. Er sinkt nieder, sitzt am Boden, hält die Hand an den Kopf, spürt sie nass werden.
Die Frau guckt ihn böse an. Robert sieht, dass sie ihn auch erkennt. Dann geht sie wortlos weiter.
Menschen drängen sich um Robert. Jemand kniet neben ihm, zieht ein Taschentuch heraus, drückt es an seine Stirn.
„Die Alte ist wohl vollkommen verrückt geworden!“
„Beginnt einfach aus heiterem Himmel auf den Jungen ein zuhauen!“
„Ist jemand hinter der her!? Die muss doch festgehalten werden!“
Robert hörte empörte Stimmen um sich herum.
„Lasst sie. Ist schon gut!“, sagt er.
Er spürt etwas über sein Gesicht laufen, denkt, Blut, will es wegwischen. Merkt, es sind Tränen. Eine fremde Frau hält ihn in den Armen.
Tränen, immer mehr Tränen laufen über sein Gesicht. Er weint zum ersten Mal seit Jahren.