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Rocco's Finale
Schritt für Schritt kämpfte er sich durch den Schneesturm. Zwei Tage waren vergangen, seit ihn der Frachterkapitän rausgeworfen hatte. Sein Gesicht war ein Eisblock, sein Magen begann sich selbst zu verdauen und die Hoffnung, lebend aus dieser Kryokammer zu entkommen war bei der letzten Rast erfroren.
„Nur die besten Lügner kommen durch!“, rotierte es in seinem Kopf. Er blieb stehen und zog die schwarze Kutte enger. „Da! Ein Blitz!“, durchzuckte es ihn. Warmes Blut schoß in sein Hirn, das Adrenalin raste durch den Körper und er trabte los. Ihm war als würde sein ausgestoßener Atem kristallisieren.
Nach einem Kilometer blendete ihn bereits das Turmlicht einer Tempelanlage und er verlangsamte seinen Schritt. „Ja!“, schnalzte seine Zunge.
Die ehrfurchtgebietenden Statuen beiderseits des Torbogens zeigten zwei Krieger in Kutten.
Über der stählernen Pforte las er die Inschrift: “Laß fahren alle Hoffnung, du, der du hier eintrittst!“. „Schlimmer kommt’s immer!“, hauchte es in ihm. Mit letzter Kraft, drückte er einen Torflügel nach innen und sackte auf den Boden.
Als er die Augen öffnete, lag er nackt in einem Krankenbett. Es roch nach Desinfektionsmittel und neben ihm stand ein brauner Leinensack.
„Ich bin Bruder Habakuk! Du warst halb Tod als wir dich fanden.“, sagte der rauhe Stoff. „Rocco!“, stammelten seine balsamierten Lippen, bevor ihn eine gnädige Ohnmacht heimsuchte.
Rocco's Wunden heilten schnell. Sein Arzt hatte ständig ein Lob parat und er fühlte sich von Tag zu Tag besser. Es nervte ihn nur das ständige „Wir“, daß Bruder Habakuk verwendete. Der Arzt und der Patient. Ein Team, das die Heilung als Cupfinalsieg gegen die Krankheit sieht. Er war aber kein Teamspieler.
„Große Freude, werter Rocco! Wir werden heute den Abt treffen!“, kam es zuckersüß vom Faß. Habakuk legte ihm eine Kutte über das Bett, blinzelte ihm zu und verschwand durch die Tür des grünen Krankenzimmers.
Rocco bastelte sich in das Ordenskleid und setzte sich auf die Bettkante. „Das kann ja heiter werden!“, dachte er sich und schnürte den Leibriemen.
Es klopfte.
„Ja!“, entfuhr es ihm. Der Abt war ein untersetzter Latino, dessen weitläufiger Wanst von einem gigantischen Kummerbund zusammengehalten wurde. Rocco stand auf.
„Oh nein, bleib sitzen, werter Fremder!“, fistelte das Schokoladeei. Er roch nach irgendeinem Branntweingemisch, was den Genesenden erheiterte.
„Ich bin Abt Roberto! Du bist hier im Tempel des ehrwürdigen Langmar, dem
Friedfertigen.“, erklärte er sich.
„Lang…wer, dem Fried…was?“, fragte Rocco erstaunt.
„Langmar, der Friedfertige. Seit über 1000 Jahren ruht er in diesen geheiligten Hallen, um die Erlösung durch Schweigen und Negierung aller äußeren Emotionen zu erlangen. Du hast doch schon von ihm gehört?“, sprach der Abt salbungsvoll.
„Also hier bin ich gelandet! Oh Mann, das ist perfekt!“, dachte Rocco.
„Wenn sie die Güte hätten meinem vereisten Gehirn ein bißchen auf die Sprünge zu helfen…“, antwortete er und machte ein kleines OK-Zeichen mit der Linken.
„Aber gerne edler Fremder! Langmar der Unergründliche wurde vor 1680 Jahren von meinem geliebten Vorbruder dem heiligen Danael auf seiner Pilgerreise nach Roma Nova gefunden.
Zuerst erkannte er den ewig Besonnen nicht sofort. Nein, er rastete gar auf seinem Haupt. Denn wahrlich, des zeitlosen Asketen Äußeres ist einem Felsen gleich. So erhob Langmar seine Stimme, daß alles Grün im Umkreis von 20 Kilometern bebte.
„Wer bist du?“, fragte er Danael.
Doch jener, in seinem Glauben fest und antwortete stark: “Danael von Lourdes II! Priester des Ordens zur ewigen Anbetung des heiligen Rufus auf dem Weg nach Roma Nova!“.
Daraufhin begann ein langes Gespräch, dessen Inhalt du in den neun Schriften des Danael nachlesen kannst. Nach 90 Tagen und 90 Nächten erkannte Danael seinen Irrglauben und schwor Langmar ewige Treue. Er setzte seinen Weg nach Roma Nova fort, wo er in kurzer Zeit viele Brüder fand, die, so sie hierher zurückgekehrt, begannen, um Langmar herum einen Tempel zu bauen. Nach Beendigung des Baus trat Danael vor Langmar im heiligen Saal der Ruhe und hielt sein letztes Gespräch mit ihm.“.
Während dieser Ansprache verbeugten sie sich die frommen Männer jedesmal bei den Namen Danael und Langmar. Immer 9 Sekunden lang.
Rocco kratzte sich am Kopf und sagte: “Aber da war doch noch etwas…“.
„Du meinst die große Prüfung?“, hechelte Bruder Habakuk. Der Abt hieß in Schweigen mit einem Wink seiner Rechten.
„Was mein Bruder so kläglich zu sagen versuchte ist dies:
Im letzten Gespräch hinterließ Langmar seine Botschaft an uns Menschen. Wer immer den Mut aufbringt, sich mit Langmar zu messen, soll dies tun. Wer immer es schafft, Langmar eine Gefühlsregung abzugewinnen, soll dies tun. Wer immer es schafft, dies zu vollbringen, dem wird Großes zuteil werden.“, predigte der Abt mit geöffneten Armen in Richtung der geheiligte Halle und verharrte.
„Was ist das Große?“, fragte Rocco. Der Abt rührte sich nicht.
„He! Hallo!“. Er stupste ihn an.
Roberto erschrak: “W-was?“.
„Was ist das Große?“, zog er die Worte.
„Oh, ein Haufen Gold und die Erleuchtung!“, kam es mit einer gleichgültigen Handbewegung zurück.
„Ja! Die Gerüchte stimmen also!“, schnalzte es in Rocco’s Gehirn.
„Was muß man tun?“, fragte er den Abt.
„Nun es ist relativ einfach. Du hast 3 Chancen, Langmar in 9 Minuten eine Gefühlsregung zu entlocken. Schaffst du es, kriegst du das Gold und die ewige Erleuchtung.
Schaffst du es nicht, sind wir leider gezwungen, dich deiner Wege ziehen zu lassen.“, lächelte der Abt. Rocco fühlte einen stechenden Schmerz in seinen tauben Zehen.
Vor dem heiligen Saal, dessen Tore mit Gold ornamentiert waren, zeigte Abt Roberto auf eine kleine Tür links neben der Pfortensäule. Die Brüder hatten die Nachmittagsstarre ausfallen lassen und flüsterten aufgeregt hinter dem Abt.
„Hier wirst du dich ausruhen und vorbereiten können! Du hast alle Zeit der Welt, aber nur 3 Versuche.“, sagte der Abt.
„Wunderbar!“, sagte Rocco und marschierte los.
Ein überaus schneller und fester Griff hielt ihn aber an der Schulter.
„Mein Bruder du hast etwas vergessen!“, schnitten die Worte des Abtes durch die Luft.
„Es ist eine Ehre, dem ewig Andächtigen entgegentreten zu dürfen. Es ist eine wertvolle Angelegenheit. Eine sehr wertvolle Angelegenheit!“.
Der schwarze Balken über Robertos Augen bildete ein kleines Dach.
Rocco durchsuchte seine Uniform, die er für diesen Anlaß zurückerbeten hatte und gab dem Primus seinen Kompaß, einen Gutschein von Starbucks für 3 Becher Kaffee freier Wahl und seine Uhr. Die letzte Habe.
„Ich danke dir für deine Anteilnahme, Edelster! Das Beste für dich und dein Begehren!“, kam es schmalzig durch das breite Grinsen. Der Prüfling betrat die Kammer.
Der Raum war nicht besonders groß. Ein Bett, ein kleiner Stuhl, ein paar Haken an den Wänden. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte Rocco ein frisch rasiertes Gesicht.
„Die Gier, die Gier! Naja, mal sehen. Was haben wir hier!“. Er holte aus seiner Brusttasche ein Set Schminkstifte. Mit geübter Hand zog er Linien, färbte Flächen, bis ihm ein Clown entgegenlachte. „Wie meine Mutter immer sagte: Lern einen ordentlichen Beruf, dann wirst du nie Hunger leiden!“, grinste er, „Wenn die wüßte!“.
Er trat auf die Tür zu, zupfte ein paar Fusel von seinem weißen Kostüm, richtete sein Hütchen zurecht und sprang mit dem lautesten „Tadaaaa!“ das er zustande brachte in den Saal.
Der Saal ertrank förmlich in goldenem Licht. An den Wänden waren riesige Kerzen angebracht und es roch nach Jasmin. 20 Meter vor ihm war eine Art Theaterbühne mit roten Vorhängen, aus der sich eine gigantische Steinlawine ergoß. Das war Langmar.
Rocco ging in die Mitte des Raumes. Er hatte 9 Minuten.
„Also los!“, spornte er sich an. Er begann über die eigenen Beine zu stolpern, schlug Purzelbäume, machte Hampelmänner im Kopfstand, lief gegen die Wand, das volle Programm. Als er so richtig warm gelaufen war, läutete auch schon die Glocke.
Der Felsen blieb ein Felsen.
„Verdammt! Die erste Chance vergeigt! “, durchzuckte es ihn, als er wieder in sein Kämmerlein trat. Was nun? Ihm war klar, daß der zweite Auftritt anders sein müßte, aber wie? Er erinnerte sich eines alten Ausspruchs seiner Mutter: „Wenn es mit Späßen nicht klappt, dann heule zum Steinerweichen!“.
Das war’s! Für solche Zwecke hatte er immer ein paar seiner trübseligsten Gedichte auf Lager. Rocco biß sich auf die Zunge um den Tränenfluß anzuregen und einen richtig weinerlichen Ton zustande zu bringen.
„Auf in die zweite Runde du Aas!“, sagte er. Die Tür schloß sich hinter einem heulenden Clown.
9 Minuten später polterte er in die Kammer, riß sich das Hütchen vom Kopf und schlug mit der Faust in den Spiegel. „Verdammte Scheiße! Warum mußte dieser verdammte Danael diesen riesigen Haufen Scheiße hier heraußen finden? Warum hat dieser Haufen Scheiße auch noch Gold? Und wie kann ich diesen verd…“.
Rocco hatte die Lösung.
Wenn Langmar Freud und Leid nicht aus seiner Lethargie rissen, dann etwas Stärkeres.
Etwas worin er zweifelsohne ein Meister war. Wenn auch selten erfolgreich, aber den Versuch war es wert.
Rocco wischte sich die Schminke aus dem Gesicht, drehte seine Kleidung von innen nach außen und ging abermals in den Saal.
Er setzte sich vor Langmar und schwieg 5 Minuten lang.
Dann sprach er:
„Ok, Langmar. Ich hab’s versucht, du hast nicht reagiert. Mein Pech, dein Glück. Was schert’s dich auch. Ein Clown mehr oder weniger. Scheißegal. Sowieso alles Lügner. Wie die Priester.
Spielen Freude oder Leid vor, obwohl es in ihnen ganz anders aussieht.
Ich möchte mit einer Wahrheit auf den Lippen sterben.
Sie werden es dir sicher vorenthalten haben, aber der Abt und einige deiner Wärter, wenn ich das so formulieren darf, haben diesen Eiswürfel satt. Sie haben mir gesagt, daß ich der Letzte bin, der die Prüfung macht, und wenn’s wieder nicht klappt, sperren sie die Hütte hier zu, schmeißen den Schlüssel weg und verschwinden nach Roma Nova.
Hei, ich meine, die Typen wissen ja nicht einmal mehr ob du noch lebst. Also, mach’s gut! Warst ein harter Brocken!“.
Rocco stand auf und ging Richtung Tür, als der Boden zu beben begann.
„Roberto! Roberto!“, donnerte es in seinen Ohren. Die Kerzenhalter lösten sich von den Wänden und Sand rieselte von der Decke. „Komm her!“
Hinter Rocco hatte sich langsam ein vertikaler Spalt im Felsen geöffnet, der ein bläulich schimmerndes Inneres freigab.
Auf allen Vieren kroch der ungeschminkte Clown in die Kammer zurück und sah, wie Abt Roberto, die Hände zum Himmel reckend, auf Knien in die Mitte des Saals rutschte, während immer größere Brocken von oben herunterfielen.
„Oh edler, oh ruhmreicher, oh Asket aller Emotionen!“, schluchzte er.
„Du willst gehen?“, polterte es aus Langmars Rachen. „Aber nein, nein, nein, Edelster!“, schrie der Abt. „Laß mich dich zum Abschied umarmen!“. Der Saal krachte aus allen Ecken.
Die Tür fiel zu. Große Stücke der Decke fielen auf Rocco herunter, der sich unter dem Bett versteckt hatte. Ein schauriges Knirschen, als ob Tonnen von Gestein über Sand geschliffen würden, zerfetzten fast seine Trommelfelle. Er hielt sich die Ohren zu und betete um sein Leben.
Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Rocco schob die Reste des Bettes zur Seite und stieg über die Deckenbrocken zur Tür. Er mußte sich dagegen lehnen um sie aufzumachen.
Der Saal war verwüstet. An den Wänden links und rechts klebten die Reste Robertos.
Er kletterte über die Steine in Richtung Langmar.
„Du bist ein treuer Diener!“, fing der Wiedererwachte an.
„Oh, danke, edler Langmar!“, antwortete Rocco, während er sich auf einem Felsen in der Mitte des Saals bequem machte und die Hände in seine Hose wischte.
Die Brüderschar unter dem goldenen Torbogen gesammelt, umklammerten sich wie ein Rudel Frettchen.
„Äh, großer Meister, wie sieht’s denn jetzt mit meiner Belohnung aus?“, fragte Rocco unsicher.
„Deine Belohnung! Ach ja!“, rieselte es. „Habakuk, Raphael, kommt her!“.
Eilig gebuckelt kamen die Genannten näher. „Dieser treue Diener Langmars soll den edelsten Schatz bekommen, den mir zu Vergeben die Ehre gebietet! Er bekommt, was er
verdient!“, rollte es durch den Saal.
Rocco strahlte.
„Steh auf Rocco! Der du ab jetzt Abt Rocco genannt sein wirst!“, verkündete der heilige Felsen und schloß sich auf unbestimmte Zeit.
In Rocco’s Ohren rauschte das Blut. Habakuk und Raphael brachten ihm die Kutte des Abtes und führten ihn aus dem Saal.
„Dieser Scheißhaufen hat mich reingelegt! Oh Mann! Aber wenn das der Frachterkapitän wüßte! Schmeißt mich raus, weil ich ein falscher Priester bin! Ha Ha! Wenn dieser Idiot das hier sehen könnte!“, dachte Abt Rocco hysterisch, als er im Triumphzug in seine Gemächer geführt wurde.