Rocky und sein Krieg gegen den Lärm der Zeit.
Rocky und sein Krieg gegen den Lärm der Zeit.
(Ein Mann sieht rot. Charles Bronson lässt grüßen. - Eine Geschichte mitten heraus aus der Endzeit eines Gutmenschen-Zeitalters.)
Rocky war müde. Rocky war soooo todmüde, in seinem Kopf tat jedes auch noch so minimale Denken weh. Er hatte eine anstrengende Nachtschicht hinter sich gebracht, wieder einmal, und alt wurde er jetzt schön langsam auch. Er merkte es irgendwie immer mehr. Zwei gute Monate noch und er war Neunundvierzig. Jedes Jahr spürte er seine Knochen ein wenig mehr, das Kreuz tat immer öfter weh und er fühlte, wie er auch so, also innerlich, jedes Jahr ein wenig müder wurde. Er konnte sich nicht mehr so gut konzentrieren, wie früher und er verlor dabei immer mehr seinen Sinn für Geduld. Es schien so, als würden die Arschlöcher, die ihn umgaben, immer mehr werden und frecher wurden sie von Jahr zu Jahr anscheinend auch. Es schien einfach kein Kraut mehr gegen sie zu wachsen.
Rocky kam gegen sieben Uhr früh mit dem O-Bus nach Hause. Er hat dann noch schnell einen warmen Kakao getrunken. Sein Lieblingsgetränk vor dem Schlafengehen. So ein warmer Kakao mit viel Milch und Zucker holte ihm immer wieder seinen hohen Nervenpegel herunter, wenn er von einer Nachtschicht nach Hause kam, er vertrieb dieses übernächtige „Zittern“ aus seinem Leib. Er lag dann meist noch eine Weile still im Bett, hing seinen Gedanken nach, ließ den Tag, die Nacht noch einmal an sich vorüber ziehen und fühlte dabei, wie seine innere Uhr schön langsam langsamer wurde, und er merkte dabei dann gar nicht mehr, wie er letztendlich eingeschlafen ist.
Bumm-Bumm. Bumm-Bumm. Bumm-Bumm. Bumm-Bumm.
Nein, nicht schon wieder. Rocky zitterte am ganzen Leib, er schwitzte. Er sah auf den Wecker neben seinem Bett. Nein! Zehn Uhr. Der vierzehnjährige Junge über ihm hatte wieder einmal seinen Wochenend-Spaß und bummte sein ganzes noch so pubertäres Gehirn und all sein bisschen Menschlichkeit durch die dünne Wand der Genossenschaftswohnung, gebaut so um 1958 und 1959 herum, also in einer Zeit, als die Baumaterialienhersteller noch keine Ahnung von der einmal ohrenzerbröselnden Kraft von Hip-Hop und Techno hatten. Der Junge lebte gerade wieder einmal sein Recht auf seinen nur ihm zustehenden Individualismus aus. Er bewies seiner ganzen Umgebung, dass er sich wohl fühlte in unserer Welt der miteinander kollidierenden Freiheitsrechte, schließlich war er zumindest auf diesem Gebiet ein gelehriger Schüler seiner ihm Alles nachsehenden LehrerInnen- und Eltern-, oder besser Großeltern-Generation. Jeder auch noch so kleine Wunsch nach ein wenig Rücksichtnahme auf seine Mitmenschen wurde von dieser Möchtegernfriedensgeneration ja bekanntlicherweise als gefährliche Einschränkung der unterschiedlichsten persönlichen Rechte auf Freiheit aufs Schärfste bekämpft. Wenn man damit argumentierte, dass man nach einer anstrengenden Nachschicht ein wenig schlafen möchte, dann grinsten dich diese Intellektuellen an und sagten: „Selber schuld, haha, hättest halt etwas Ordentliches gelernt, dann müsstest du nicht schichteln, du alter Depp!“ Nur so viel, zu Humanismus und Nächstenliebe dieser ganzen Inti-Generation.
Rocky hatte wieder einmal gerade einmal gut zwei Stunden geschlafen. Es war zehn Uhr Vormittag. Über ihm verbummte unsere Neue Welt. Das Wochenende fing mit einer ihrer Höllen an. Bumm-Bumm. Bumm-Bumm. Bumm-Bumm. Bumm-Bumm. Dazu piepste es in lauter Regelmäßigkeit. Und dazwischen ab und zu hell zirpen tat es auch. Hip-Hop eben oder Techno, Rocky kannte sich in diesem neuen Töne-Reich ja nicht so aus. Er wälzte sich verzweifelt in seinem Bett herum. Er schwitzte vor Schwäche. Er kochte. So ging es in etwa bis elf Uhr. Dann kam das Bumm-Bumm des Schnitzelklopfers von Frau Gutmutter von Herrn Gutsohn dazu. Frau Gutmutter wollte schließlich die beste aller allein erziehenden Gutmütter der westlich zivilisierten Gutwelt sein. Sie beschnitzelte sich und ihren ebenfalls ziemlich fetten, aus allen Gutscheidernähten platzenden Gutsohn an jedem Samstag und auch an jedem Sonntag. Die Gutmutter in der Wohnung über Rocky lebte mit ihrem Gutsohn an jedem Wochenende in ihrer traumhaft schönen Schnitzelwelt. Fett triefende Wiener-Schnitzerl waren deren regelmäßiges Wochenend-Menü. Etwas anderes kannten sie wohl nicht, der Schnitzelklopfer war hiefür Beweis genug.
Rocky wusste inzwischen, dass er keine Chance mehr auf ein wenig Schlaf hatte, also stand er gegen Mittag auf. So ging dies nun schon seit gut zwei Jahren, seit halt die dicke Frau Gutfrau mit ihrem dicken Herrn Gutsohn über ihm eingezogen ist. Rocky hasste Gutmenschen jeder Art, allein schon deshalb, weil sie letztendlich immer Recht bekamen. Unsere von der Friedensgeneration geprägte Gesellschaft von Heute war schließlich schwer verliebt in „ihren Frieden“ und dieser war bewiesenermaßen leichter zu bekommen, wenn man den aggressiven Bösen die Rechte gab, welche sie begehrten. Also hatten die Vordenker dieser Friedensgeneration sicherheitshalber schon im Voraus mit allen möglichen Tätern einen Friedenspakt geschlossen und hiezu den diesen Pakt absichernden Täterhumanismus erfunden, und zwar im engen, also kruden und die Opfer völlig ignorierenden Sinn.
Na ja, ist heute ja sowieso schon scheißen. Und diese neue Musik hielt Rocky ja auch dann nicht aus, wenn er ausgeschlafen und eigentlich frisch und munter war, schon gar nicht, wenn sie ihm sein Wochenende regelmäßig versaute. Bei diesem durch die Wände dröhnenden Bass-Gepumpe klang seine eigene Musik einfach nicht mehr gut, selbst dann nicht, wenn er seine Stereo-Anlage bis zum Anschlag hin aufdrehte, ihr sozusagen den letzten Tropfen Saft entzog und lauter als der fette Gutbub spielte, denn dessen Bumm-Bumm klang immer irgendwie störend durch. Rocky spielte seine Musik normalerweise auch nie laut, sein Rock klang schließlich auch auf Zimmerlautstärke saugut. So ein guter alter Rock brauchte kein so überlautes Bumm-Bumm. (Zumindest heute nicht mehr.)
Rocky dachte seit einiger Zeit nur noch an Mord. Was hätte er schließlich sonst noch tun können? Ihm fiel sonst nichts mehr ein. Diese Gutmenschenwelt hatte alle persönlichen Rechte abgeschafft, indem sie diese Freiheitsrechte zur absoluten Religion erhoben und über unsere gemeinsamen Pflichten gestellt hat. Heute ist inzwischen nahezu ein Jeder, nahezu eine Jede so ein Gutmensch. Heute gibt es Gutmenschen zu jedem Problem. Wer heute kein Arschloch ist, der ist selber dumm und wird mit samt seiner für andere so langweiligen Anständigkeit begraben.
Rocky denkt nur noch an Mord. Gewalt scheint heute das einzige zu sein, das diese so welt- und lebensfremden Gutmenschen-Arschlöcher noch verstehen. Also wird es wohl Zeit, dass Rocky sich in diesem Sinne endlich etwas einfallen lässt. Er hat diesen Gutbub einmal höflich ersucht, seinen Samstag und seinen Sonntag etwas leiser anzugehen. Dieser Gutbub hat ihn angegrinst und dann gemeint: „Okay, Alter, mal sehen!“ Am nächsten Samstag haben dann selbst die Ratten im Keller den Sound ihrer Zeit gehört und dementsprechend gezittert. Und der armen Schwalbenmutter auf dem Dach ist von diesem Geschepper glatt ihre niedliche Brut aus dem Nest gefallen. Sie lagen an einem Sonntagmorgen in der winzigen Wiese vor dem Haus, ganz nackt und bloß. Die Schwalbenmutter hat dann nie wieder eines ihrer Lieder gesungen. Rocky hat aufgepasst. Sie saß immer nur oben auf der Rinne vom Dach und starrte reglos in den Himmel hinauf. Sie ist dann in ihrer Trauer und wohl auch wegen dem Dauerlärm, schließlich waren die langen Sommerferien, im Frühherbst vorzeitig in den Süden geflogen und dann im Frühling mit einer gutmenschenfeindlichen neuen Grippe zurückgekommen. Rocky weiß wieso und kann sie voll und ganz verstehen. Auch er denkt heute nur noch an den guten, alten und so schönen Mord.
Rocky ist dann Anfang Juni mit seinem Tennisverein auf eine Trainingswoche nach Kroatien mitgefahren. In einem geilen und so gemütlichen Bluesrock-Lokal hat er sich auf Anhieb mit einem der Kellner dort verstanden. Irgendwie kamen sie bei ihren Gesprächen an der Bar auch auf Waffen zu sprechen. Sein neuer Freund hat ihn sofort verstanden. Er wusste sofort „Wie, welche und auch Wo“. Da hat sich Rocky um vierhundert Teuros eine fünfzehn-schüssige Beretta 92, Kaliber neun Millimeter, samt Schalldämpfer und fünfhundert Schuss Munition gekauft.
Er hat sie an einem der weiten und so einsamen Strände gleich ausprobiert. Man stelle sich vor, er hat sogar etwas getroffen. Sein Freund hat gemeint, er sei halt ein Naturtalent. Was für ein irre geiles Gefühl! Er hatte zuvor noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Er hat Waffen eigentlich immer gehasst. Aus diesem Grund ist er damals ja auch in der ersten Zivildienst-Truppe ab 1977 mit dabei gewesen. Er glaubte damals noch an diese Philosophie der Gewaltlosigkeit. Leider hat sie sich dann im Laufe der Zeit immer mehr als purer Nonsens herausgestellt, zumindest auf jene Art und Weise, wie sie von den Intellektuellen der 68er-Generation in der Praxis dann umgesetzt worden ist. Die hinterhältige Krux an diesem Traum war nämlich, dass auch die bösen Täter dann mit der Zeit immer mehr daran geglaubt haben. Schließlich ist ja niemand dumm im Kopf, nur weil er ein Böser ist. Heute wissen alle Bösen, dass der europäische Gutmensch niemandem etwas Böses tut, auch nicht einem Bösen.
Und deshalb hasst Rocky heute all diese Gutmenschen, schließlich weiß man bei denen nie, auf welcher Seite sie tatsächlich stehen. Sie quatschen dich mit ihren schönen Gedanken zu, sie begutmenschen dich mit ihrem so schön klingenden Blabla, und wenn dann einmal der Arsch auf Grundeis geht, dann lässt dich dieses Gesindel einfach im Stich und mit dem Täter allein.
Und da fällt Rocky wieder ein, was sein Freund in Kroatien, dieser Kellner, eines Nachts zu ihm gesagt hat. Er stammte aus Srebrenica. Er hat dort seine ganze Familie verloren. Er selber hat es überlebt, weil er zu dieser Zeit in Österreich gearbeitet hat. Seinen Vater, seine Großväter, seine zwei jüngeren Brüder, zwölf und sechzehn Jahre alt, und all seine Onkeln und einen Haufen Freunde hat er nie mehr wieder gesehen. Seine zwei Schwestern wurden über Monate hinweg von den Serben in ein Kinder- und Frauen-Vergewaltigungslager gesteckt. Die ältere Schwester kam zwar wieder verrückt. Sie war hochschwanger und hat sich deshalb im Winter 1996 in Bihac, in der eisig kalten Una, ertränkt. All seine Jugend- und Schulfreundinnen blieben bis heute verschwunden, bis auf zwei, und die sind heute seelisch mausetot. Er hat sie nie wieder lachen gehört. Selbst damals erst achtjährige Mädchen haben sie in diesen Lagern fertig gemacht.
Dieser Kellner hat ihm dann in dieser warmen und so süffig-feuchten Nacht den Charakter des europäischen 68er-Gutmenschen erklärt. Er hat zu ihm gesagt: „Stell dir vor, du bist ein mögliches Opfer, du hast Angst vor einem Bösen, der dir gegenüber steht. Du weißt, dass dieser Böse nun bald über dich herfallen wird. Du weißt genau, du musst dich bewaffnen oder du musst davon laufen, etwas anderes gibt es nicht, denn dieser Böse will etwas von dir, das du ihm nicht einfach so mir nix dir nix geben kannst, schließlich steht und fällt mit diesem Etwas dein ganzes Leben. Ja, er will ja genau dieses Leben. Aber siehe da, da gibt es diesen europäischen Gutmenschen. Du rufst ihn um Hilfe an, und man glaubt es kaum, er verspricht dir tatsächlich, dass er dir helfen wird. Er verspricht dir, dass er dir fünftausend UNO-Soldaten schicken würde, die dir die mordlustigen Serben vom Hals halten würden. Du vertraust darauf, und siehe da, man glaubt es wieder kaum, diese fünftausend UNO-Soldaten kommen tatsächlich, und sogar auch noch rechtzeitig vorbei. Wahnsinn! Wer hätte das zuvor gedacht, schließlich kannte ja inzwischen die ganze restliche Welt diesen europäischen Gutmenschen. Man wusste, dass der sich halt gerne schön und wichtig reden hörte. Und man wusste ja auch, was diese seine Worte tatsächlich wert waren.
Diese fünftausend Blauhelmsoldaten stellen sich dann auch brav rund um die Stadt auf. Eine Hoffnung breitet sich dort aus. Doch dann kommt es, wie es ja manche eh voraus gesehen haben, da wird es dann eng! Der Böse zeigt dem europäischen Gutmenschen seinen dicken Stinkefinger und droht mit einem dicken Panzerrohr und einem langen Lauf von einem Schießgewehr. Der böse Herr General hat aber einen südländisch angenehmen Humor, der im Serbenland sogar heute noch bewundert und geschützt wird, und geht daher mit dem UNO-Gutgeneral, der leicht hin und her zitternde Kniescheiben hat, auf einen Slibovitz. Mit der Zeit werden die Slibovitze dann mehr, die Kniescheiben hören auf zu zittern, und man wird warm miteinander und erzählt sich geile Weiberwitze. Der Bösgeneral war kurz vor seinem Krieg noch auf Urlaub in einem Kindervergewaltigungslager für serbische Offiziere, hat dort ein wenig gefeiert und herum geliebt, und kannte daher eine Menge lustiger Männerwitze. Auch der niederländische General wollte da natürlich nicht nachstehen, und hat auch ein paar geile Zoten erzählt, die er von seinen zahlreichen Besuchen aus dem Red Light District in Amsterdam gekannt hat. Diese Witze wurden von den umstehenden Offizieren und den Leibgardisten der zwei Generäle dann sofort nach draußen an die Soldaten weiter erzählt. Auch dort hat man ein paar tausend Flaschen Slivovitz geleert, die man in den gesäuberten Häusern der umliegenden Dörfer gefunden hat. Bald hat die ganze UNO-Truppe rund um Srebrenica so laut gelacht, dass jedes andere Gelärm, zum Beispiel das Geschrei der Einwohner der Stadt, ja selbst die vielen Schüsse, in dieser lärmenden Lachkulisse untergegangen sind. Und mit noch mehr Zeit glaubten dann alle UNO-Gutsoldaten, dass sie eh nur Zuschauer in einem spannenden Indianer-Western waren. Alle klopften sie sich auf die Oberschenkel, tanzten mit den Serben-Cowboys um den Marterpfahl Srebrenica herum, Hand in Hand, und riefen lustig und laut wie damals die weißen Amerikaner: „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer!“ Nach dem Massaker im Indianerdorf haben die UNO-Gutsoldaten dann mit den Serben-Cowboys die Rationen getauscht und sich das Essen an den zahlreichen Lagerfeuern auf den Hügeln rund um die Stadt schmecken lassen. Kein Gutsoldat aus den Niederlanden hat jemals wieder so einen schönen und so gut bezahlten Urlaub gehabt.“
Rockys neuer Freund hat dann noch gemeint: „Siehst du, lieber Rocky, genau so ist der Charakter deines Alten Europas! Der europäische Gutmensch stellt sich immer wieder gerne zwischen einen Täter und sein Opfer. Er schüttet beide mit seinem wunderschönen Gequake zu. Wenn dieser Redefluss dann dem Täter jedoch mit der Zeit langweilig und zu viel wird, und er ihm, dem EU-Gutmensch, den Stinkefinger zeigt und dann über sein Opfer einfach herfällt, ohne sich um das Gequatsche weiter zu kümmern, na, dann dreht sich dieser europäische Gutmensch um, murrt ein wenig vor sich hin, schimpft entrüstet über diese blöden Menschen, die einfach nicht auf ihn hören wollen, trinkt ein Schnapserl zur Beruhigung seiner doch leicht angegriffenen Gutnerven, und sucht sich dann einen nächsten Täter mit seinem Opfer aus. Und dort läuft es dann wieder genau so und nicht anders ab. Es ist immer und immer wieder dieselbe Gutmenschenscheiße.“
Rocky hatte keinerlei Antworten darauf. Genau so hatte er sich nämlich damals gefühlt, als er erstmals von diesem Massaker in Srebrenica gehört hatte. Er fühlte sich ja als ein Teil dieses so genannten Alten Europas der Werte. Auch er hatte ja immer brav geschwiegen. Er wollte damals einfach nicht glauben, dass er so ein schweigender Teil dieses Riesenarschlochs war, das da Europa hieß. Irgendwie konnte er damals jedoch seine Gefühle noch nicht ausdrücken. Er ist damals in ein tiefes Loch der Sprachlosigkeit gefallen. Die alten Argumente waren tot, mausetot, so wie die Seelen der überlebenden Frauen von Srbrenica. Doch die Worte seines Freundes hingen in ihm nach und zeigten nun endlich Wirkung. Er wusste, der Mann hatte Recht. Jeder europäische Gutmensch ist eine egoistische Riesendrecksau. So ein Mittäter zählt zum Gutmenschengesindel der übelsten Sorte und kann es jederzeit mit einem Adolf Hitler, einem Eichmann, einem Stalin, einem Pol-Pot oder einem Saddam aufnehmen, diesen Tätern. Der Unterschied zwischen ihnen ist nur minimal. Dieser Unterschied besteht nur aus drei mikrigen Buchstaben: M und I und T. Der Eine tut selber etwas Böses und der Andere hilft dabei mit oder schaut auch nur dabei zu. Wie hat doch Dietrich Bonhoeffer einst so schön gesagt: „Es ist schlimmer böse zu sein, als Böses zu tun!“ Und, schon Edmund Burke hat vor mehr als zweihundert Jahren schon gemeint: „Das Böse triumpfiert immer wieder allein dadurch, weil diese „guten“ Menschen nichts dagegen tun!“
Rocky ist nun im Frühling 2005 aufgewacht. Er hat beschlossen, dass er nie wieder zusehen würde, wenn ein Mensch zu so einem Gutmensch wird. Es war Zeit, und zwar höchste Zeit, dieser Gutmenschen-Ära ein Ende zu bereiten. Und weil ja ein jeder Mensch zuerst einmal vor seiner eigenen Türe kehre sollte, hat er beschlossen, diesen Gutbuben zu ermorden. Wow! Wie geil! Dieser Gedanke gefiel ihm von Tag zu Tag besser. Ja, er lebte sich immer besser in diese Idee hinein. Er würde dieser Entartung des Individual-Gedankens, diesem Beispiel an Egoismus vor seiner eigenen Haustüre den Garaus bereiten.
Über den Sommer hinweg wurden seine Gedanken immer klarer, bloß die Frage des „Wie?“ war noch offen. Rocky hatte nämlich absolut keine Lust, wegen so einem Gutmenschen ins Häfen zu gehen. Doch auch diese extrem schwierig zu lösende Frage war nach drei weiteren Wochenenden mit Hip-Hop und Techno-Bumm-Bumm am Morgen gelöst.
Der blade Gutbub von Über-Ihm verkehrte immer gerne im nahen Park. Dort saß er mit seinen Freunden herum. Natürlich war eine Sound-Machine mit dabei. Wenn die Jungs dort ordentlich aufdrehten, dann war der Park meist nach kurzer Zeit menschenleer. Die Mütter mit ihren kleinen Kindern flüchteten wo anders hin. Da wusste Rocky dann bald nach ein paar Beobachtungen, dass er nicht ins Gefängnis gehen würde, zumindest nicht, wenn nicht Alles schief ging, was nur schief gehen konnte.
Und dann kam der Herbst. Es wurde wieder früher finster. Eines Tages, es war schon leicht dunkel, da saß Herr Gutsohn mit seinem Freund auf der Bank in einer kleinen Nische von Sträuchern, die von keiner Seite der Parks gut einzusehen war. Ideal. Einfach perfekt. Der Park war sonst völlig leer. Die Sound-Machine schrie sich ihr Bumm-Bumm aus dem Eisen- und Plastikleib.
Rocky packte seine Beretta aus, entsicherte sie. Er schlich sich von Hinten an und: Peng! Und: Peng! Zwei Genickschüsse. Eigentlich hat es nur zweimal ziemlich leise „Plack“ gemacht. Ein irre geiles Geräusch. Das hat kein Mensch gehört. Und gesehen auch nicht.
Rocky hatte eine Unmenge von Krimis im Kino und im Fernsehen gesehen. Er war also nicht blöde. Er überprüfte mit den Fußspitzen, ob sich die zwei Gutbuben noch rührten. Ne, da kam kein Zucken mehr. Er sah sich noch einmal um. Alles okay. Dann ging er über einen Umweg nach Hause. Er kaufte noch kurz vor Ladenschluss in seinem Geschäft ein paar Sachen ein, unterhielt sich kurz mit der Kassiererin, und schaute dann auch noch schnell im DVD-Verleih vorbei. Dort hörte er dann schon die Sirenen von Rettung und Polizei. Er borgte sich einen Kriegsfilm aus, „Jarhead“, die perfekte Antwort auf die Philosophie dieser seiner von ihm so innig geliebten 68er-Generation. Wow! Wenn es überhaupt so etwas wie einen Anti-Kriegsfilm gab, na, dann war das „Jarhead“. Da starben zweihundert tausend Iraker im Bombenfeuer und die Infantrie am Boden kriegte den Lagerkoller, weil sie nicht zum Schießen kam. Die Jungs weinten gegen das Ende des Films schon und sangen: „Ich will endlich schießen! Ich will endlich so einen Iraker killen!“ Geil! Echt geil! So hat Krieg unserer us-amerikanischen Freunde ab nun wohl zu sein. Die Soldaten tun den ganzen Tag nichts anderes als mit der Gasmaske durch die heiße Wüste robben und in der Nacht sieht man sie nur wichsen. In diesem Film kann man doch tatsächlich dabei zusehen, wie sich so ein tapferer GI-Joe beim grausigen Anblick einer verkohlten Leiche einen runter holt. Einfach irre und wohl gar nicht irreal!
Beim Ansehen des Films hat Rocky tief in sich hinein gefühlt. Er hatte auf einmal Sorge, dass sich da vielleicht irgendwo in ihm ein schlechtes Gewissen regen würde. Aber es war nicht. Er war irgendwie völlig cool und fühlte sich sauwohl. Irgendwann war im Stiegenhaus auf einmal die Hölle los. Er stand auf und ging ins Zimmer zur Straße hin. Durch die Vorhänge blinkte das Blaulicht eines Polizeiautos. Oh, oh, Frau Gutfrau hat wohl behördlichen Kondolenzbesuch! Das rührte Rocky nicht. Er zuckte bloß mit seinen Achseln. Er setzte sich wieder vor den Fernseher hin und sah sich den Film bis ans Ende an. Er ging dann gegen zweiundzwanzig Uhr ins Bett, schließlich musste er um vier Uhr in der Früh aufstehen. Er hatte diese Woche Frühschicht. Natürlich hat er auch noch seinen Kakao ausgetrunken, mit viel Milch und Zucker. Er hat dann wie ein Baby geschlafen. Er hat vom nächsten Wochenende geträumt. Er würde es gemütlich angehen lassen. Kein Hip-Hop und kein Techno mehr, so Viel war sicher.
Am nächsten Tag kam er gegen drei Uhr von der Schicht nach Hause. Er war gerade beim Kochen, als es an der Türe klingelte. Eine hübsche junge Polizistin stand draußen. Sie wollte wissen, ob er etwas gehört oder gesehen hätte. Ne, gesehen hatte er nichts. Aber er hätte es schon im Radio gehört und von seinen Kollegen. Er erzählte ihr, dass er um die relevante Zeit herum in „seinem Geschäft“ einkaufen war und sich dann anschließend im DVD-Laden diesen Film „Jarhead“ ausgeborgt und dann angesehen hätte, er zeigte ihr die Kassette, und dass er dann früh zu Bett gegangen wäre, wegen seiner Frühschicht. Er erzählte ihr auch ein wenig aus dem Film. Sie meinte, dass man das überprüfen würde. Den Film würde sie sich demnächst ansehen. Es war schon eigenartig, aber er wurde dann nie wieder von der Polizei gestört. Herr Gutbub und sein Freund hatten anscheinend nicht nur Freunde. In der Zeitung hieß es, es gäbe da einige Verdächtige, auch aus dem Kreis ihrer Schulkameraden. Auch eine Bande von jungen Türken, welche die Gegend unsicher machte, stand in Verdacht und würde zu diesem Doppelmord verhört.
Rocky war es Recht. Er hatte Blut geleckt und bereitete dann bald das nächste Attentat auf einen Gutmenschen vor. Ein böser Arbeitskollege stand gleich als erster auf seiner Todesliste. Auch ein BAWAG-General und ein paar Gewerkschaftsbosse kamen drauf.
Doch davon, meine lieben Leser und Leserinnen, davon erzähle ich Euch beim nächsten Mal. Und keine Angst: Gutmenschen einer jeden Art gibt es heute wie Sand am Meer. Also, so schnell stirbt dieses neue Jagdvieh schon nicht aus. Und auch keine Sorge: Rocky ist nicht dumm, es wird für die Gutmenschen-Polizei mit Sicherheit nicht leicht werden, ihn zu erwischen. Es gibt also noch viele so schöne Mordgeschichten. Bis bald und liebe Grüße!
© Copyright by Lothar Krist (O-Bus und Straßenbahn am 10./11.05.2006 von 22.15 – 22.45 Uhr und Smaragd von 01.20 – 04.15 Uhr)