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Rosenkranz und Güldenstern sind tot
„Lass los. Gib auf.“
Bruno schreckte aus dem Traum hoch und schlug sich den Kopf an. Tränen schossen ihm in die Augen, sein Kopf vibrierte nach wie ein geschlagener Gong. Er quälte sich aus dem Bett und sprang nach unten. Der Schlafsaal war schon verlassen, wieder war er zu spät dran, so würde er nie befördert werden.
Grob strich er sein Betttuch glatt, der einzige Vorteil, wenn man eine Mittelkoje besaß. Bei der Unterkoje musste man sich bücken, bei der Oberkoje strecken. Trotzdem stand ihm bei seiner Dienstzeit schon lange eine Oberkoje zu. Aber dieser verdammte Pfeifenköber wollte ja einfach nicht verschwinden.
Bruno zog die Uniform an, setzte das rote Barett auf und schnürte die Stiefel eilig zu. Seine Zunge schmeckte nach Fell, als wäre ihm in der Nacht eine Raupe in den Mund gekrochen und verendet. Bruno warf sich einen Kaugummi ein, der nach nichts schmeckte, und stopfte die Taschen seiner Jacke mit Klebeband voll.
Auf dem Gang musste er blinzeln, die Helligkeit der Lampen war bereits auf Neun Uhr gedreht, während die im Schlafsaal konstant Mitternacht simulierten.
Der Gang war – eine Seltenheit für den Komplex - breit genug, zwei Personen zu gestatten, nebeneinander zu laufen. Auch dem eher stattlichen Bruno war es so möglich, entgegenkommenden Kollegen auszuweichen. Bei Kolleginnen verhielt es sich anders. Sein Gewicht und der Raum, den sein Körper beanspruchte, passten sich ganz wie von selbst der Brustgröße entgegenkommender Frauen an. Nur ranggleichen oder rangniedrigeren gegenüber selbstverständlich.
„Guten Tag, Tanja“, ging es, und „Wünsche wohl geruht zu haben, Kichiro.“ Wobei er Kichiro, mit deren Namen Bruno ohnehin seine liebe Mühe hatte, durchaus fast unangetastet passieren ließ, Tanja jedoch zwang, sich dicht an ihm vorbeizupressen. „Tut mir leid, Tanja!“, warf er noch hinterher. „Der Hackbraten war einfach zu gut!“ Was selbstverständlich eine glatte Lüge war. Bei dem Essen für die Mannschaftsdienstgrade, das wusste jeder, sparte man an Geschmackssubstanzen. Aber Offiziere, so erzählte man sich, speisten mit Geschmack.
Bruno leckte über seine Lippen, während er sich dicht an die Wand drückte, um einen dicken Oberen vorbeizulassen. Geschmack, davon hatte er früher geträumt. Ein saftiges Steak mit einer blutroten Chilli-Sauce. Und jetzt träumte er furchtbar.
Der Dienst begann und er war zu spät, so würde er nie befördert werden.
Im Saal, dem größten aller Zimmer des Komplexes, standen etwa fünfzehn Leute dichtgedrängt vor dem Lageplan, auch Bruno versuchte, einen Blick darauf zu erhaschen. Die unterste Ebene, so hörte er mehr, als er sah, war mal wieder verloren, dafür waren oben zwei neue Ebenen erschlossen worden. Drei Abgänge seien gestern verzeichnet worden und vier Zugänge. Ein guter Tag also.
„Du kommst schon wieder zu spät“, sagte Pfeifenköber, der hinter seinem winzigen Schreibtisch wie ein Stier wirkte, obwohl er im Vergleich zu Bruno eher ein Kälbchen war. „Sind schon alle unterwegs.“
„Willst du einen Kaugummi?“, fragte Bruno und kramte in den Taschen seiner Hose.
„Das bringt dir jetzt auch nichts mehr, du gehst runter.“
„Alleine?“, fragte Bruno.
„Neuer! Komm doch mal rein. Hey, Neuer!“
„Mein Name ist Gülden-“, hörte er zaghaft eine Stimme von draußen.
„Du heißt Neuer!“, schrie Pfeifenköber. „Denkst du, ich will mir den Namen von jeder Eintagsfliege merken? Wenn du in zwei Wochen noch da bist, denk ich noch mal drüber nach!“
„Runter?“, fragte Bruno.
Pfeifenköber stieß ein bedrohliches Schnauben aus, so schnarchte der Kerl auch nachts.
„Tief runter.“
„Stern“, quiekte die Stimme in seinem Nacken, während Bruno Wendeltreppen nach unten stieg. „Ich bin froh, Ihre Bekanntschaft zu machen, wie ist denn Ihr Name, wenn man fragen darf?“
„Klebeband“, sagte Bruno. „Immer genug Klebeband am Mann haben, das ist das Wichtigste, Neuer.“
Die Luft wurde dicker und muffiger, je tiefer er hinunterstieg. Früher hatte ihn das an Pfeifentabak erinnert, als er noch gewusst hatte, wie Pfeifentabak roch. Die Oberen, erzählte man sich, rauchten noch. Pfeifenköber behauptete das öfter.
Güldenstern kroch auf allen Vieren dem massigen Hinterteil Brunos hinterher. Ab und an furzte der, Güldenstern sah es an seiner Hose, sie flatterte kurz und heftig, aber gottlob roch er nichts.
„Wir sollen hier Lecks ausbessern?“, fragte Güldenstern.
Der Rücken seines Vordermannes krachte gegen die Decke des schmalen Gangs, doch er antwortete nicht.
Güldensterns Handgelenke schmerzten, die Luft war modrig, das Holz knirschte. Seine Handflächen brannten schon lange, wahrscheinlich hatte er Splitter gezogen.
In der trüben Dunkelheit des Gangs war es Bruno, als ob er schliefe. Ein traumloser Schlaf, fast traumlos. Manchmal hörte er noch das Rauschen der Wellen und fühlte seine Zehen, die sich in den warmen Sand bohrten. Oder er spürte den Hauch eines Kusses in seinem Ohr. Traumlos, dachte Bruno. Es ist ein traumloser Gang, ich muss damit aufhören. Ich werd noch zum Philosophen, die schaffen es nie bis zum Offizier. Bruno krabbelte weiter.
Als das Hinterteil seines Vordermannes endlich verschwand, jubilierte Güldensterns Nase. Phantomgerüche, dachte er.
Nun halbwegs aufrecht gingen sie zwar immer noch hintereinander, aber wenigstens war Güldensterns Nase nun auf einer Höhe mit dem Hinterkopf seines Vordermanns. Im Halbdunkel öffnete der eine Stahltür zu einem kleinen Spalt, wartete bis sich Güldenstern hindurchgequetscht hatte, presste sich dann selbst hindurch und machte: „Hmmm. Glück gehabt.“
„Bitte?“, fragte Güldenstern, während Bruno die Tür schloss.
„Kann manchmal sein, dass sie hier schon warten“, murrte Bruno. „Da ist das Leck, geh mal ausbessern. Ich halte so lange Wache.“
„Wo denn?“, fragte Güldenstern.
„Na dort hinten. Du hast doch genug Klebeband mit, oder? Klebeband ist das Wichtigste.“
Güldenstern ging ein paar Schritte in den Raum hinein, viel mehr als ein Gang war es auch hier nicht. Holz an den Wänden, Holz an der Decke, modriges Holz. Er massierte seine Handgelenke, einen Splitter hatte er sich nicht gezogen.
„Du wirst schon auf die Knie gehen müssen, Neuer.“
Und da war das Leck, tatsächlich, ein Spalt im Holz, so groß wie der Schlitz in einem Getränkeautomaten.
„Du musst viel Klebeband nehmen, echt viel“, brummte Bruno hinter ihm.
Bruno schob sich einen Kaugummi rein und lehnte sich gegen die Wand. Er gähnte und hielt sich dann die Hand vor den Mund. Obere konnten frei wählen unter allen Frauen, erzählte man sich. Diese Kichiro … es wäre schön, mal wieder etwas Warmes neben sich zu haben. Ihnen war der Kontakt mit den weiblichen Kameraden ja untersagt.
Eine Stimme drang zart an Brunos Ohr. Ein Säuseln nur, begleitet von Meeresrauschen. „Lass los!“, säuselte die Stimme, und „Gib auf!“
Bruno öffnete die Augen.
Güldenstern hatte das Klebeband neben sich auf den Boden gelegt und starrte durch den Schlitz nach draußen. Es war dunkel da, eine monddunkle, aber sternenhelle Nacht.
„Scheiße, Neuer! Was zum Teufel machst du da?“
Etwas klatschte von Außen gegen die Wand.
„Dreck, Dreck, Dreck! Komm da weg!“, schrie Bruno.
Ein filigraner Duft zwängte sich durch den Schlitz.
„Nimm das Klebeband! Verdammt noch mal!“
Er umwehte Güldensterns Nase, liebkoste ihn freundlich. Er spürte eine harte Hand an seiner Schulter und blickte in Brunos rotes Gesicht: „Weg da! Komm!“
Die Hand zerrte an ihm, der Duft noch mehr. Güldenstern fühlte sich leicht und machte sich ganz schwer.
Er dachte an den Strand, an warmen heißen Sand, und an das Rauschen des Meeres.
Scheiß Tür, geh doch endlich auf! Hinter sich hörte er das Rauschen des Meeres, Bruno wagte nicht, über die Schulter zu sehen. Er zerrte und zog an der Stahltür herum, „Lass los“, hörte er in seinem Rücken, da riss er endlich die Tür auf, zwängte sich hindurch – ein Duft strich um seine Nase – und er warf die Tür hinter sich zu, drückte seinen Rücken mit aller Gewalt dagegen und sank nach unten.
„Diese Neuen“, sagte Pfeifenköber. „Kaugummi?“
Bruno stand vor Pfeifenköbers winzigem Schreibtisch und starrte auf den Kaugummi.
„Nein“, sagte Bruno.
„Man hat nach mir gefragt“, sagte Pfeifenköber. „Ich glaub, jemandem da ganz oben ist aufgefallen, wie gut wir uns hier halten.“ Er zeigte mit einem Finger an die Decke.
„So?“, fragte Bruno.
Pfeifenköber stand aus seinem Stuhl auf, zwängte sich um den Tisch herum, hinter Bruno und sagte: „Nimm doch schon mal Platz. Noch ein, zwei Wochen, dann könnte das deiner sein.“
„Und die Oberkoje auch?“, fragte Bruno und schob sich einen Kaugummi in den Mund.
Pfeifenköber tat es ihm gleich. „Die Oberkoje auch.“
Bruno setzte sich. Der Kaugummi schmeckte nach nichts.
Güldenstern betrachtete seine nackten Zehen im Sand und schob träge den Fuß hin und her, vielleicht konnte er irgendwann mal ein Muster formen. Die Sonne brannte ihm den Bauch und das Rauschen der Wellen umhüllte ihn wie eine Mutter.
Eine Frau mit braunem Haar und bronzenem Körper lag neben ihm und nippte an einem Cocktail mit Schirmchen.
„Kenn ich Sie?“, fragte Güldenstern.
Die Frau nickte und machte ein leises, süßes Geräusch der Bestätigung.
Güldenstern lehnte sich zurück und dachte an Bruno und an andere Dinge, aus denen vor ein paar Stunden noch seine Welt bestanden hatte.
„Manche müssen einfach immer kämpfen“, sagte die Frau neben ihm und zeigte in den klaren Himmel nach oben. Güldenstern folgte ihrem Blick. Nach oben in den Himmel, hinaus ins schwarze, kalte All. Und da war der graue Gebäudekomplex mitten im Nichts. Wurmstichiges, kaltes Holz. Fensterloses Land.