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Rote Linien
Rote Linien
Langsam wackelt Anna mit ihrem Stuhl hin und her. Keiner bemerkt es. Wenn sie fällt, hört es auch keiner. Denn niemand hier kennt sie oder sieht sie. Aber diese Tatsache macht ihr nichts aus, da sie ja ihre Bücher hat, mit denen sie sich unterhält. Auch jetzt versteckt Anna wieder ein Buch unter ihrem Pult und liest.
„Und damit ihr es auch nicht vergesst. Bringt morgen das Geld für die Klassenfahrt mit.“
Die Lehrerin steht heute schon zwei Unterrichtsstunden da vorne, ohne jeglichen Erfolg der aufgenommenen Aufmerksamkeit. Auch Anna hat ihr nicht zugehört. Das macht sie nie, daher auch die schlechten Noten. Es klingelt. Sie wirft ihre ungeöffnete Schultasche über die Schulter und geht nach draußen. Beim Verlassen des Gebäudes wird sie immer wieder angerempelt, doch niemand entschuldigt sich.
Draußen geht Anna vor dem Haupteingang auf und ab, und bleibt abrupt stehen. Ihre Hände krallen sich verkrampft in ihren Unterarm und sie zittert. Da sind sie. Eine Bande von zwei Mädchen und drei Jungen. Sie weiß nicht warum, doch sie hat Angst vor ihnen. Schon seit sie die Schule gewechselt hatte und auf diese hier kam, hat sie beim Anblick dieser Schüler eine Panikwelle im Rücken.
Nun geht sie unsicher auf das große Messingtor zu, das die Schule und die Außenwelt voneinander trennt. Viele Blicke folgen ihr, das weiß sie. Denn gleich würde wieder alles von vorne beginnen. Ohne den Blick vom Boden zu heben, geht sie nun schneller, in der Hoffnung, hier noch heil raus zu kommen. Sie geht schneller, und nun läuft sie. Doch es ist schon zu spät.
„Hey, hey, Anna! Hast du schon deine Freunde vergessen?“ Lincey Stuart war mit einem Schritt vor sie getreten und versperrt ihr nun den Weg.
Peter, ein großer Schlägertyp meldet sich nun zu Wort: „Lin hat dir eine Frage gestellt! Also beantworte sie gefälligst!!“
Nur schwer verständlich murmelt Anna in sich hinein.
„Wie bitte? Wie war das?“ Tosende Hitze steigt in ihr auf und sie fängt wieder an zu kratzen.
„Ich sagte, ich habe euch nicht vergessen.“
Ein lautes Gelächter erfüllt nun die Stille, die inzwischen den ganzen Schulhof gefüllt hat. Elektrisierende Stimmung liegt in der Luft.
„Na, hast du heute wieder mal Lust, mit uns in die City zu gehen?“, fragte ein anderes Mädchen.
Nein, sie hat keine Lust. Doch sie weiß, dass sie nichts machen kann. Sie hat keine Wahl. Anna geht, ohne ein weiteres Wort zu sagen, mit der Bande in die Stadt.
Unterwegs machen sie kehrt in eine Seitenstraße, die nur selten von Passanten genutzt wird. Anna kennt das Spiel. Sie weiß, was nun passiert, aber wehrt sich nicht. „Fangt endlich an!“, sagt Lincey in einem gebieterischen Ton. Einer der Jungs verpasst Anna den ersten Schlag, genau in die Magengrube. Sie hält stand. Mittlerweile ist sie die täglichen Tritte und Schläge gewohnt, sodass sie schon gar keinen Schmerz mehr spürt, in dem Moment, wo es passiert. Der zweite Schlag genau ins Gesicht. Dann der Tritte, der Vierte, Fünfte. Ohne, dass die anderen es merken, schaut sie aus der dunklen Gasse hinaus auf einen Spielplatz. Da schaut sie immer hin, bis es vorbei ist.
Nach einer Weile vergeht der Bande die Lust am selbst Prügeln, und sie lassen einen Moment von ihr ab. Auch jetzt weiß Anna wieder, was passieren wird. Lincey holt das kleine, metallene Blech, ein kleines Rasiermesser heraus und drückt es ihr in die Hand. Anna schaut noch immer zum Spielplatz rüber, auf dem jetzt eine kleine Gruppe von Kindern steht, die sich an einem Jüngeren vergreifen. Sie rührt sich nicht. Stattdessen nimmt sie das Blech und setzt es an ihrem Arm an. Dieser ist mittlerweile schon ganz voller Schorf und roter Linien. Sie betrachtet diese Linien eine Weile, wie sie auf und ab tanzen. Liegt es an dem Blut, das jetzt schon wieder über ihren Arm läuft, oder an ihrem zugeschwollenen Auge? Sie weiß es nicht. Sie sieht noch einmal zum Spielplatz und hört plötzlich auf mit der Ritzerei. „Mann, was soll das? Mach gefälligst weiter, du Miststück!!“, brüllt ein Junge und zieht ihr an den Haaren. Aber Anna hört nicht. Sie starrt die kleinen Kinder an, die den Jüngeren verprügeln, und eine innerliche Wut kocht in ihr hoch. Auf einmal ist sie stinkwütend auf den Kleinen, der sich da Vermöbeln lässt. Trotz der Tritte und Schläge blickt sie abwechselnd von dem Opfer da hinten zu ihrem aufgeschlitzten Arm.
Sie weiß nicht, ob es bloß die Einbildung ist, die ihr einen Streich spielt. Während sie da unten auf dem verdreckten Boden kauert, und sie zu dem kleinen Jungen blickt, sieht sie ihn mit ihrem verheulten Gesicht. Sie und der Junge schreien, doch es hört nicht auf. Wieso eigentlich nicht? Warum fügt sie sich eigentlich immer diese abartigen Wunden zu, nur weil sie verprügelt wurde. Warum wird sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wegen Selbstmordversuches und lässt die Drecksbande hier laufen?
Es hat etwas Magisches, wie sie zwischen ihr und diesem Jungen da hinten vergleicht. Denn plötzlich steht sie auf, blickt ihre Peiniger an und sagt: „Ich werde jetzt gehen. Also lasst mich durch.“ Noch nie zuvor hatte sie so entgleiste Gesichtsausdrücke gesehen, wie bei ihnen. Einer ballte schon die Faust und ging auf Anna zu, als Lincey dazwischen geht. „Wie bitte?! Ich glaube ich habe mich verhört! Seit wann schlägst du denn solche Töne an?“ So, wie sie da steht, mit ihrem ekligen Grinsen auf dem Gesicht und die Zigarette in der Hand, will Anna sie auf der Stelle töten. Kein Zittern mehr, keine verkrampften Hände und keine roten Linien. So würde es in Zukunft laufen.
Alles ging Schlag auf Schlag. Lincey, noch immer mit dem Grinsen auf dem Gesicht, springt ihr an die Kehle, drückt sie gegen die dreckige Hauswand und lässt nicht los. Anna zappelt und versucht, sich aus dem harten Griff zu entwenden. Es funktioniert nicht. Stattdessen nimmt sie das Rasiermesser und scheidet ihrer Gegnerin quer über die Hand. Blut spritz, laute Schreie und ein qualvolles Wimmern Linceys. Anna fackelt nicht lange. Die anderen, so gebannt und regungslos nimmt sie sich auch vor. Zum ersten Mal wehrt sie sich. Der eine hat einen tiefen Schnitt in der Wange, ein anderer einen am Arm und Peter ist mit dem anderen Mädchen bereits auf der Flucht. „Die ist ja verrückt!! Weg hier!“ Auch für Anna ist es Zeit. Sie schmeißt das widerliche, blutverschmierte Messer irgendwo in eine Ecke und läuft. Als sie sich noch einmal zum Spielplatz umdreht, sind die Kinder weg. Nur ein einziger Junge sitzt auf einer Schaukel und singt.
Am nächsten Tag steht sie wieder am Haupteingang. Keine Lincey, keine Gefolgsleute und keine roten Linien. Anna weiß nicht, wann sie wiederkommen, doch sie weiß, dass sie sich wehren wird. Jetzt hat sie keine Angst mehr. Dieses Kind, wer auch immer es war, hat ihr auf irgendeine Art und Weise geholfen, die sie nur mit ihrem Gefühl beschreiben kann. Die einzige Erinnerung an diese Torturen werden die Linien sein, die zugleich aber auch ihre stärkste Waffe darstellen: Mut.