Rouvens Träume
Rouven war ganz allein in dem riesigen Klassenzimmer. Seit vier Wochen schon war er auf dem Hindenberg-Gymnasium, einer Internatsschule dreißig Kilometer vor Berlin. Die warme Nachmittagssonne flutete den Raum und kitzelte die Nase des Jungen. An den Wänden lieferten sich Pumas und Löwen aus Licht einen wilden Kampf, nur um Sekunden später als Heißluftballons und Mondraketen in den Himmel zu schießen. Draußen hörte er die unteren Jahrgänge toben und schreien, während die älteren zu kleinen Gruppen verteilt standen und über irgendwelche pseudointellektuellen Themen philosophierten. Sie taten das immerzu und unentwegt, wohl um voreinander mit ihrem umfangreichen Fachwissen über die Geheimnisse des Lebens zu prahlen.
Rouven fühlte sich dort nicht wohl. Außer Lilly hatte kaum jemand auf der Internatsschule hatte seine Freundschaft erringen können, einige hatten es versucht, doch mehr als altkluges fachsimpeln über Politik und die in Deutschland dringend fällige Revolution der Arbeiterklasse hatten auch sie nichts zu bieten. Was Ihm fehlte war Menschlichkeit. Lange war es her dass er von seiner Mutter so etwas wie Liebe erfahren hatte. Ebenso lange war es auch her dass sie ihn nicht für ein Hirngespinst gehalten hatte, das ihr den Tod bringen will. Zuletzt war sie mit einem achtzehn Zentimeter langem Küchenmesser auf ihn losgegangen. Sie hatte ihn für den Erzengel Gabriel gehalten, der das jüngste Gericht ausrufen will. Indifferente Schizophrenie hatte man ihm damals gesagt, als sie seine Mutter abholten. Einen Vater hatte er nicht. Wohl aber einen Erzeuger, der nach der kurzen, aber leidenschaftlichen Affäre mit seiner Mutter von Berlin aus nach München zog um dort ein neues Leben zu beginnen. Mit einer geistig gesunden Frau. Rouven seufzte.
Der Bleistift in seiner Hand hatte inzwischen ein beeindruckendes Mandala aus Formen und Linien gemalt, ohne das der Junge sich besonders darauf hätte konzentrieren müssen. Überhaupt konzentrierte er sich äußerst ungern. Ganz unfreiwillig flüchtete er sich immer wieder in seine Tagträume. Ganz abrupt fiel Rouven zurück in die Realität. Die Pausenglocke hatte begonnen die Schüler aus ihren zwanzig Minuten vormittäglicher Freizeit zurück in die Klassenzimmer zu zitieren. Langsam füllte sich das Klassenzimmer und merklich stieg der Geräuschpegel. Die aufgekratzten Schüler fanden nur sehr schleppend den Weg zu ihren Plätzen. Fast gänzlich unbemerkt von den Schülern schob sich Herr Bemer, der Mathematiklehrer in den Raum hinein. Er war von hagerer Gestalt, mit dicker Hornbrille und Halbglatze. Bewundernswert schien es auch, dass er es jedes Jahr erneut schaffte komplett an der aktuellen Mode vorbeizugehen. Unbeeindruckt vom immer noch andauernden Gemurmel im Klassenzimmer spulte Herr Bemer seinen immerwährenden, scheinbar mühevoll auswendiggelernten Begrüßungsspruch runter. "Guten Morgen, ich hatte Ihnen folgende Aufgaben zur Bearbeitung gegeben...". Danach folgte der ewig gleiche Trott, der Millionen von Schülern tagtäglich jede aufkommende Freude verhindern konnte.
Rouven starrte in sein Heft und lies dem Stift freien Lauf. Nach und nach entstand ein wahres Kunstwerk von einem dreimastigen Segelschiff, umringt von zusammenhangslosen Zahlenkolonnen und Formeln, die er wohl in Momenten der Vernunft aufgeschnappt hatte. Auf dem Deck des Schiffs tat sich etwas. Eine Meuterei war im Gange. Die unförmigen kleinen Piratenmännchen lieferten sich einen erbitterten Kampf gegen eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die bärtigen Seebären hatten ihre Mühe gegen das Monstrum aus Variablen und Operatoren anzukommen. Ganz unvermittelt jedoch tauchten bunte Fische auf, die die Zahlenkette einfach verschlangen. Rouven schaute verdutzt in sein Heft. Überraschenderweise war sein Blatt leer. Es war schon wieder passiert.
Trotz seiner beachtlichen Intelligenz waren seine Leistungen nicht besonders rühmlich gewesen. Zu gerne flüchtete er in seine Fantasie und erlebte Abenteuer um Abenteuer in seinem Kopf. Plötzlich schreckte er hoch. Ein Zettelchen war zusammengeknüllt von einem anderen Tisch zu ihm herübergeflogen. Verwundert entfaltete Rouven den Zettel. Die schöne Mädchenschrift stammte von Lilly, welche drei Bänke weiter saß. Mit ihr konnte man Pferde stehlen, sie hatte keine Vorurteile, keine radikale politische Einstellung die sie einem aufzwängen musste, sie kannte nicht nur aufgeschnappte und sinnlos wiedergegebene Phrasen. Schon öfters hatte er den Heimweg zu seinem Zimmer mit ihr angetreten, sie hatte ihn jedes Mal wenn sich die Gelegenheit bot bis vor seine Tür begleitet und dann alleine weitergegangen. Auf dem Zettel stand in mädchenhafter Schönschrift geschrieben "Möchtest du heute wieder mit mir im Park spazieren gehen?". Rouven freute sich bei dem Gedanken daran. Mit einem lächeln im Gesicht starrte er auf den Zettel. "... und wie lautet die Funktion für die eben dargestellte Kurve? Rouven, würden sie bitte in den Unterrichtssaal zurückkehren und die Frage beantworten?" Das hatte Bemer noch nie getan. Er war eher der Typ der die ruhigen Schüler vor sich hin trotten ließ, während er die Elite um jeden Preis mit durchzog. Rouven schreckte hoch und starrte Bemer an. "Ich... weiß es nicht..." stammelte er. "Rouven, wo soll das mit ihnen noch hinführen? Ich habe sie jetzt schon eine Weile beobachtet. Sie sind auf keinem guten Pfad. Ich werde den Direktor informieren. Um im Leben zu bestehen bedarf es Disziplin und Aufmerksamkeit! Ich bitte sie nach der Stunde noch kurz mit ins Rektorat zu kommen... So, Sebastian, die Antwort bitte!" Rouven sah zu Lilly hinüber und schämte sich. Lilly lächelte ihn nur verständnisvoll an. Wie wunderschön sie war. Und sie lächelte nur für ihn. Ohne sich umzuschauen wusste er dass die anderen in der Klasse nur der Höflichkeit wegen auf den sonst üblichen Spott verzichtet hatten. Lilly jedoch hielt zu ihm. Sie würde immer für ihn da sein, das wusste Rouven. Er musste sie nicht lange kennen um sich in ihren braunen Augen verlieren zu können, ohne sich wie sonst in aberwitzige Gedankengänge zu verstricken. Bei ihr fand er alle Konzentration die nötig war um sie nicht zu vergraulen. Die Stunde schleppte sich langsam dahin. Mühevoll verfolgte Rouven die Ausführungen des Lehrers, die scheinbar jeder Logik entbehrten. Immer wieder kämpfte er gegen die Formen und Muster an die aus den Aufschrieben an der Tafel hervorbrachen und ihn golden anfunkelten. Die Pausenglocke erlöste schließlich die Schülerschaft des Hindenberg-Gymnasium.
Rouven trottete missmutig auf Bemer zu. "So, jetzt schauen wir mal was wir mit Ihnen machen. Nehmen sie es nicht persönlich, aber Leute wie sie stören nur die Klassengemeinschaft ohne aus dem Lehrstoff irgendeinen Nutzen ziehen. Schule ist auch Erziehung. Die Pflicht eines Lehrers ist es aus jedem Schüler ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu machen. Aber das kriegen wir bei Ihnen auch noch hin! Kommen sie!" Bemer wackelte los. Rouven folgte dem kleinen dürren Mann, der ihm gerade mal bis zur Nasenspitze reichte. Fasziniert starrte er im Laufen auf den Mausgrauen Pullover, auf das Muster das mit helleren und dunkleren Grautönen eingewebt war. Er beobachtete wie die Linien zu Tanzen begannen und sich in andere Muster verwandelten. Zufrieden lächelnd beobachtete er wie der kleine Mann, der jetzt mehr einem Gartenzwerg ähnelte durch die große goldene Tür die zum Büro des Direktors führte. Glücklich vernahm er die Harfenklänge, als der Direktor in das schmal Zimmer hineinrolle und sich auf seinem Stuhl aufpumpte, solange bis er die doppelte Größe erreicht hatte. "Ah, Rouven Bühler, setzten sie sich. Herr Bemer ist mit ihren Leistungen ganz und gar nicht zufrieden. Auch Frau Moosburger und Herr Kippler haben sich schon negativ über sie geäußert. Können sie einen Grund für ihr Verhalten nennen?". Rouven brauchte einen Moment um sich zu fassen. Er war schon wieder in einen Tagtraum hineingeraten. Es war ihm gerade noch gelungen daraus aufzutauchen. Der Direktor saß dick und mächtig auf seinem Stuhl und Bemer stand neben Ihm, doch mittlerweile hatte die Szenerie nichts merkwürdiges mehr. Eher etwas bedrohliches. Genervt und verängstigt ließ er die Moralpredigt über sich ergehen. Bemer konnte es sich nicht verkneifen Rouven noch einen altklugen Spruch mit auf den Weg zu geben, der aber ungehört in der Luft verklang.
Die Treppen hinunter in den Hof erschienen dem Jungen ungewöhnlich lang. Er hoffte sehr darauf Lilly zu sehen und ihr Angebot annehmen zu können. Die Stufen der Treppen verliefen immer wirrer und unsymmetrischer. Rouven fand seine Freude daran. Der Ärger im Büro des Direktors war beinahe schon wieder vergessen. Seine Umgebung schien ihm viel interessanter, jetzt wo die Träume wieder begannen. Der Hof war fast Menschenleer. Vereinzelt sah er Jugendliche die sich sportlich betätigten indem sie eine leere Dose durch die gegen traten. Auf der Wiese, die den Eingang zum Internatseigenen Park darstellte, lagen vereinzelt Schüler auf Decken in der Sonne und beschäftigten sich mit Lesen oder einfach nur faulenzen. "Sonnentropfen..." murmelte er leise, als Lilly ihm von hinten auf die Schulter langte. "Hey, wie siehst du denn aus? Hat dich der alte auseinander genommen?" Rouven nickte. Lächelnd sah er Lilly an. Ihr Anblick erfüllt ihn mit Wärme. Gemeinsam liefen sie von Gebäude weg in Richtung Park.
"Lilly?" Rouven war immer noch sehr ernst. Trotz dem Gefühl über alles mit ihr reden zu können schämte er sich jetzt vor seinen Gedanken. "Was ist denn los? Immer noch die Sache mit Bemer?" fragte Lilly besorgt. "Nein, ich... findest du das ich anders bin?" Rouven blieb stehen und fixierte sie. "Was soll denn der Blödsinn? Also einen zweiten Kopf hast du nicht gerade. Auch die Anzahl deiner Arme scheint mir normal... Nein, du bist ganz normal, soweit ich das sehe!" scherzte sie. Rouven zitterte. "Nein, ich meine, manchmal, da benehme ich mich wie der erste Mensch! Ich weiß nicht was ich dagegen tun kann! Alle denken sie doch das ich ein Spinner bin! Der Bühler, der Freak, der Spack! Ich bin doch nicht blöd! Ich merke ja selber das etwas nicht stimmt! Ich glaube ich drehe durch!" eine Träne rannte ihm über das Gesicht. Lilly sah ihn mit ihren wunderschönen Augen an. "Glaube mir wenn ich dir sage, du bist normaler als die meisten anderen hier. Du hast es nur noch nicht verlernt zu Träumen! Weißt du... das fällt mir jetzt nicht leicht, aber... du bist einer der schönsten und wertvollsten Menschen die ich kenne! Wenn das nicht so wäre dann..." Lilly sah verlegen auf den Boden. Mit ihrem Fuß stocherte sie nervös im Rasen herum. "Dann was? Bitte sag es!" sprach Rouven mit leiser Stimme. Ein unheimliches kribbeln durchfuhr ihn. Lilly sah ihm in die Augen. "Dann... hätte ich mich... doch nicht in dich verliebt!"
Einen unendlich langen Augenblick standen die zwei sich gegenüber und starrten sich an. Zärtlich streichelte sie ihn über das Gesicht und spurtete los. "Na los, wir wollten doch in den Park! Komm schon Schlafmütze!" rief sie ihm zu. Rouven stand da und lächelte. Er sah ihr nach. Er bewunderte ihre Augen, ihre weibliche, schlanke Figur und er liebte es wie ihre dunkelroten Engelslöckchen auf und ab wippten wenn sie lief. Solange sie bei ihm war, konnte ihm nichts geschehen. Er schloss die Augen, atmete tief ein und rannte dann los. Ungeschickt rannte er in zwei andere Schüler. "Pass doch auf, du Freak! Was ist denn in dich gefahren!" motzte ihn dieser an. Rouven konnte sich sein Lächeln nicht verkneifen. "Lilly aus meiner Klasse liebt mich, sie ist in mich verliebt! Ich kann mein Glück gar nicht fassen! Ich glaube wir sind ein Paar! Tut mir leid das ich mich nicht mit euch aufhalte, ich muss sie einholen!" dann rannte er in die Richtung des Parks. Die Beiden Schüler schauten sich fragend an. "Dieser Kerl wird immer merkwürdiger!" sagte der eine. "Schon. Seine apathischen Phasen kennen wir ja schon, seine dauernden Selbstgespräche auch, aber das er jetzt noch anfängt sich Mädchen einzubilden, auf einem Jungeninternat..." Verwirrt und abgestoßen beobachteten sie noch eine Weile wie Rouven in den Park rannte, um nach einer Weile plötzlich stehen zu bleiben und unhörbare Dinge in die Leere erzählte.
Ende