Mitglied
- Beitritt
- 08.11.2004
- Beiträge
- 90
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Roy
Als Roy, genannt "Roy the Fist", aus der Tür trat, wusste er zwei Dinge. Erstens: Er war wieder ein Solo-Player. Und zweitens: Er brauchte erstmal einen Drink. Dieses Mal reichte es nicht, in eine Kneipe in der Stadt oder zu einem seiner sogenannten Kumpels zu gehen. Unter den gegebenen Umständen musste es etwas härteres sein. Roy wandte sich nach Osten.
Am Stadtrand saß Juan an eine Laterne gelehnt auf dem Boden und machte gerade seine Siesta. Er sah hoch, als ein Schatten auf ihn fiel.
"Was willst du?", fragte er. Roy blickte ihn unter seiner Hutkrempe hinweg an.
"Ich gehe zum HOLE."
"Ay Caramba!", sagte Juan, "ausgerechnet zum HOLE, dem gefährlichstem Loch im Umkreis von zehn Tagesritten?"
"Ja", sagte Roy. Dann, nach einer kleinen Pause, "Gib den Jungs bescheid, sollte ich nicht wiederkommen."
"Sollte das passieren, werden wir sofort bei dir einbrechen und alles Wertvolle mitnehmen."
"Würde es mir nicht anders wünschen."
"Dann ist ja gut."
"Gut."
"Gut."
"Alles klar."
Dann sagte Juan nochmal leise "Alles klar", aber Roy war schon weg. Auf dem Weg zum Hole. Auf einen Drink.
Es war unerträglichg heiß und es wurde schon dunkel. Das war nicht gerade ideal, denn die Dunkelheit lockt Gestalten an, denen selbst Roy the Fist aus dem Weg ging. Aber jetzt wo Miranda weg war, war Roy alles gleichgültig. "Außerdem", dachte er sich, "me gusta la noche."
Der Weg schien nicht kürzer zu werden und die gesamte Gesellschaft, die Roy hatte, waren seine geladene sechsundneunziger und ein paar Klapperschlangen, nach denen er ab und zu einen Stein warf. Aber Roy, Roy the Fist, machte Einsamkeit nichts aus. Das war ja der entscheidende Punkt und den hatte Miranda nicht verstanden. "Die wird schon zurückkommen", dachte sich Roy und trat eine Springmaus tot. Tief in seinem Inneren wusste er, dass seine geliebte Miranda nicht zurückkommen würde. Dass er sie einmal zu häufig geschlagen hat, einmal zu oft betrunken nach Hause kam und einmal zu wenig gesagt hat, dass er sie liebt. Doch einem echten Kerl ist das egal, ein echter Kerl blickt nach vorne. Wie Roy, der den Horizont nach der kastenförmigen Erhebung absuchte, die das HOLE war.
Ein bisschen früher und ein bisschen weiter östlich hing indessen etwas in der Luft.
"Was?", fragte Jack, genannt "Jack the Rock", und aus seinen Augen blitze es wütend, "zweihundert für diese Scheiß-Nummer? Vergiss es!"
"Gut", sagte die dicke, übertrieben geschminkte Dame in Marmeladenrot, die alle nur "Big Mama" nennen, "dieses Problem lässt sich sicher lösen. Brad, kommst du mal bitte?"
Hinter einem Vorhang, den Jack the Rock vorher nicht bemerkt hatte, trat ein Mann hervor, der die Größe und das Aussehen eines Gorillas hatte.
"Brad", wandte sich Big Mama an den Affenmann, "dieser Herr hat ein Problem mit unseren Preisen. Erklärst du ihm das mal bitte?"
Brad trat so nah an Jack heran, dass dieser seinen penetranten Whiskeygeruch wahrnahm. Nicht dass er selber besser roch.
"Hör mal Gringo", fing Brad an, "man nennt mich "Juice", denn bis jetzt hab ich noch jeden ausgepresst!"
Aber Jack the Rock wäre nicht er selbst, wenn ihn das abgeschreckt hätte. Er trat einen Schritt zurück, lächelte Brad an, als wäre er schwerhörig, ließ die rechte Hand langsam in Richtung Revolver wandern und ...
... griff nach dem nächsten Mädchen, dass bei ihm stand!
Ihr die Pistole an den Kopf haltend, rief er: "Keiner bewegt sich, sonst durchlöcher ich das Hirn der Kleinen wie ein Locher einen Steuerbescheid!"
Big Mama, die sich auch wirklich als Mama fühlte, rief: "Wenn du nicht sofort Kitty loslässt, dann ..."
"Dann was?", fragte Jack the Rock, der wusste, wann er im Vorteil war.
Der große Manitu wollte aber, dass Kitty die kleine Schwester von Brad ist. Und nachdem Brad sich von seinem Schock erholt hatte, stürzte er wie wild auf Jack los ... der ihn sofort erschoss.
Jack war kein eiskalter Killer. Es war die Reaktion eines Cowboys.
Was die Entfernung zum Hole angeht: Roy hatte sich gründlich verschätzt. Es mehr war mehr als nur weit. Irgendwo zwischen Sand und dornigen Pflanzen lag sein erschöpfter Körper. Dabei ging es so schnell, wenn man mit der Postkutsche fuhr. Roy wusste, dass er nicht lange so da liegen konnte. Nicht nur wegen der Kälte, die jeden Moment den Boden entlang gekrochen kommen konnte. Sondern wegen ihnen. Wenn Sie einen fanden, alleine, schutzlos - nicht auszudenken, was sie dann einem ehrlichen Menschen antun konnten. Roy grauste. Wie um seine Ängste zu bestätigen sah er auf einmal vor sich zwei Füsse auftauchen. Füsse in Schuhen aus Büffelleder. Roy erwartete jeden Moment das Messer im Rücken zu spüren.
"Oh Shit, du hast Brad umgelegt!", Kittys Stimme klang schrill und unangenehm. Big Mamas dagegen war ganz fest: "Charlize, telegrafier mal die Kavallerie an, ja? Sag denen wir brauchen sie dringend!"
Jack fühlte sich nicht genügend zur Kenntnis genommen: "Hier telegrafiert niemand irgendwohin. Charlize bleib stehen!" Inzwischen traten auch die anderen women of bad reputation mit ihrer Begleitung aus den Zimmern, um den Grund für die Aufregung festzustellen.
Jack ließ den Lauf seiner Waffe über alle Anwesenden schweifen.
"Wenn einer von euch den Helden spielen will, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt!" Totenstille. Niemand rührte sich.
"Das habe ich mir gedacht. Und jetzt hebt alle die Hände hoch!" Auf einmal erklang ein Schuss. Eine Kugel verfehlte Jack nur knapp und bohrte sich in das Holz des Türrahmens neben ihm.
Dann brach die Hölle los.
"Komm schon, mach's schnell", murmelte Roy der Gestalt zu. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich haben. "Es hätte mich auch schlimmer treffen können", dachte er sich, "Ob Miranda mich vermissen wird?" Doch da kam kein Messer und auch kein Speer. Der Mann vor ihm kniete sich nieder und hielt Roy, Roy the Fist einen Trinkbeutel hin. "Du willst mich wohl vergiften? Kannste vergessen, ich rühr das Zeug nicht an." So hatte er sich seinen Tod nicht vorgestellt. Aber der Indianer ließ nicht locker. Und die Flüssigkeit im Beutel roch auch nicht bitter, wie Gift sonst riecht. Eher erfrischend. Roy leckte sich über die Lippen und merkte dabei wie knochentrocken seine Zunge war.
Er nahm erst einen Schluck, dann einen zweiten und schließlich soff er wie ein Pferd. Das Getränk schmeckte köstlich und er fühlte förmlich wie die Lebenskraft wieder in ihn floss. Als der Beutel leer war, richtete er sich auf.
"Du hast nicht nur mein Leben verschont. Du hast mich gerettet, wo ich dich hätte sterben lassen. Dafür danke ich dir, mein Freund." Die Dämmerung schritt voran und in der Dunkelheit konnte Roy nicht erkennen ob und welche Regung sein Gegenüber zeigte. "Jedenfalls werde ich mein Leben ab jetzt ändern." Er trat vor um seinen Retter zu umarmen, doch der wandte sich um und lief bis die Nacht ihn schluckte.
Roy wunderte sich.
Dann dachte er nach.
"Ich bin zu weit gegangen um heute noch umzukehren. Ich lauf noch das Stück bis zum Hole und gehe morgen in mein Haus zurück."
Soweit sich das im allgemeinen Durcheinander beurteilen ließ, gab es drei Gruppen: Jack und seine Freunde, beziehungsweise Männer, die keine Lust hatten zu bezahlen, aber gerne auf andere schossen, die ehrenhaften Kerle, die immer in Verteidigung der Damen traten und schließlich die Nutten selbst, die nur das Ziel hatten, lebendig aus der Sache herauszukommen.
"Schlangenbrut!", riefen die einen.
"Abschaum des Westens!", riefen die anderen.
"Perlenfressende Säue!", riefen die einen wieder. Und so fort. Es gab Verluste auf beiden Seiten, für niemanden schien sich ein eindeutiger Sieg abzuzeichnen.
Dann trat Roy the Fist in die Tür.
"Was ist hier los?" Er war wirklich wütend.
Geraune ging durch die Menge: "Ist das nicht Roy the Fist?", "Oh mein Gott, Roy the Fist ist hier!", "Er ist es wirklich!" und die Damen begannen zu streiten, wer ihn anschließend für seinen heldenhaften und mutigen Einsatz belohnen dürfe.
Denn die Sache war so: auf welche Seite Roy sich stellen würde, die würde gewinnen. Daran war kein Zweifel, Roy war der beste Schütze westlich von Memphis. Die Frage war nur: wie würde er sich entscheiden? Jeder wusste, dass Roy eine große Achtung vor Frauen hatte. Aber andererseits war Jack sein Freund. Alle Anwesenden blickten gespannt zu ihm auf.
"Ihr erwartet von mir, dass ich losballere, hab ich recht? Ihr wollt, dass ich mich euch anschließe und irgendwen umlege, was?", er sah sich die Menschen genau an zu denen er sprach. "Aber das ist vorbei. Niemand hat mehr Wut im Bauch als ich, aber vor ein paar Stunden habe ich etwas gelernt: Mit Gewalt löst man keine Probleme! Ihr widert mich alle an!" Die Schützen schauten verlegen auf den Boden. Sie glaubten Roy würde noch etwas sagen, doch er verdrehte nur die Augen und kippte nach vorn um - im Rücken ein sternförmiges Einschussloch. In der Tür hinter ihm stand die Kavallerie. Aus einem ihrer Gewehre stieg Rauch empor.