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Ruhende Geheimnisse

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24.04.2003
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Ruhende Geheimnisse

Draußen setzt die Dämmerung ein. Erstes Licht fällt durch das kleine Dachbodenfenster. Es verstärkt die Konturen des Holzschemels, der in einer Ecke steht. Man hat ihn wieder aufgestellt.
Der Strick liegt auf den Dielen. Nur ein angebrochener Dachbalken zeugt noch davon, dass er nicht immer dort gelegen hat. Ansonsten gibt es hier nur Gerümpel. Reliquien aus alter Zeit, in wuchtigen Kisten verstaut.
Eine morsche, ausklappbare Leiter führt hinunter in den zweiten Stock.
Im Flur gibt es keine Fenster, es ist düster hier. Sechs verschlossene Türen verbergen Zimmer hinter sich, die schon lange niemand mehr betreten hat. Nur die Tür zum Badezimmer steht offen. Das Waschbecken ist aus der Wand gebrochen, und dutzende Splitter liegen verstreut auf den Kacheln. Obwohl man gründlich sauber gemacht hat, sind noch dunkelrote Flecken an den Vorhängen der Badewanne zu erkennen.
Dies ist ein muffiger; ist ein trauriger Raum.
Gleitet die Sicht aus ihm heraus, durch den Flur hindurch, erreicht sie bald die Treppe, die hinunter führt in den ersten Stock. Hier gibt es ein großes Wandfenster, bunt, und mit unzähligen kleinen Engeln verziert, die auf dem Glas in ihren Bewegungen erstarrt sind.
Die Sonne muss draußen inzwischen über die Wipfel der Bäume gestiegen sein, denn farbenfrohes Licht taucht die weite Balustrade in eine verspielte, doch schwermütige Harmonie.
Die Türen stehen alle offen, bis auf eine. Ein grotesker Widerspruch.
Durch das massive Holz hindurch fliegend, offenbart sich ein gewaltiger Raum. Die Gemälde an der Wand haben immer das selbe Motiv: Eine Familie. Der Vater, strengen Blickes und mit gezwirbeltem Schnäuzer; die Frau, mit dem endlos melancholischen Blick und dem weiten Kleid; spielende Kinder, mal jünger, mal älter dargestellt, aber immer die selben.
Nur ein Kind fehlt auf all diesen Portraits. Ein Kind, das nicht dazugehören durfte, weil es anders war.
Der teure Schreibtisch aus Eichenholz ist leer. Man hat ihn abgeräumt, und dabei auch vor den Schubladen keinen Halt gemacht. Augenscheinlich gibt es in diesem Zimmer nichts mehr von Interesse, denn keiner weiß um die lose Diehle unter dem Tisch. Dort, wo er die Aufzeichnungen versteckt hat, ehe er auf den Dachboden ging. Niemand hat danach gesucht. Man hielt ihn für einen Irren.
Durch die staubigen Vorhänge dringt gedämpftes Licht. Dieser Raum gehört der Vergangenheit an.
Gleitet die Sicht zurück durch die Tür, und hält vor der prunkvollen Balustrade inne, offenbart sich eine gewaltige, beinahe frevelhafte Eingangshalle, so groß wie das Fundament eines gewöhnlichen Hauses. Protzige Säulen umschließen den Balkon der ersten Etage, und welkes Efeu klammert sich in den letzten Zügen an ihren marmornen Oberflächen fest.
Am Geländer entlang, hin zu der Treppe, die ihren Verlauf inmitten der Balustrade nimmt, einige Meter weit nach unten führt, und in ein Podest verläuft, von dem zwei weitere Treppen abgehen; die eine links, die andere rechts entlang. Der dumpfe Teppich legt sich wie eine gespaltene Schlangenzunge über beide Treppen, und um dem Vergleich gerecht zu werden, läuft er in der Halle in Zacken aus, die sich müde über den Boden strecken.
Dort ist die große Doppeltür, die nach draußen führt, in die ausladende Parkanlage.
Unter anderem auch zu dem Brunnen, der nicht untersucht wurde.
Unter anderem auch zu dem Blumenbeet, in dem nie jemand gegraben hat, weil man der Meinung war, alle Opfer gefunden zu haben.
Von der Halle aus gehen viele Türen ab, auch die zur Küche, aus der sämtliche Messer zu Beweiszwecken entfernt wurden. Unter der Spüle die Holzvertäfelung, die sich zur Seite schieben lässt, und einen Geheimgang in den Keller hinter sich verbirgt. Von der Küche aus lässt sich der Teich beobachten, der mittlerweile verwildert ist, und den keiner mehr pflegt.
Wieder in der Halle, lässt es sich spielerisch durch die reguläre Kellertür gleiten, die sich zwischen den beiden Treppen befindet, die von der Balustrade herabführen.
Unten ist es finster. Ein Geruch von seltsamen Käfern hängt in der Luft. Die riesigen, verwinkelten Gänge führen in die unterschiedlichsten Kammern, alle sind sie verlassen. Das Labor hat man entfernt, und mit ihm die abscheulichen Gläser, in denen...obwohl, einen Teil des Labors gibt es immer noch, denn den Gang hinter der Spüle hat man nicht gefunden. Hätte man die Baupläne studiert, wäre es aufgefallen, dass der Keller in Wahrheit viel größer ist.

Oben in der Halle klackt das Schloss. Bald schon wird dieses Haus wieder jemandem gehören.

 
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Mein Experiment für diese Geschichte:

Der vollständige Verzicht auf Personen. Es gibt auch keinen Protagonisten.
Die Story endet zudem dort, wo eine gewöhnliche Geschichte anfangen würde.

 

So Cerberus81,

wuff, das ging wirklich fix. Siehste, neue kreative Impulse - das ist ja auch der Sinn der Sache. :)

Okay, Idee finde ich gelungen, Umsetzung zum Teil:

1) Unter Horror verstehe ich etwas anderes. Du beschreibst eine - ja- fast friedliche Atmosphäre mit einem Schuss Melancholie. Der echte Horror kommt zu kurz. Auf dem Höhepunkt solltest du schon etwas Verstörendes einbauen. Der Leser folgt dir durch die Zimmer und kann sich gar nicht wehren, an die Orte des Geschehens geführt zu werden. Hier musst du ansetzen, eine Beklemmung aufbauen, der sich der Leser nicht entziehen kann.

2) Tja, du hast aber einen Prot: nämlich den Makler, der den Schlüssel umdreht ;)

Also: Streu noch mehr Spannung, Ekel, beklemmende Atmosphäre rein.

Grüße

D.

 

Hi Cerberus,
also mit der Auflage, (fast) ohne Personen (=Handlung) auszukommen finde ich die Geschichte ganz gelungen. Allerdings fällt das natürlich auf und ich finde es macht das ganze etwas langatmig- interessant fand ich es, als du von dem "Labor" etc. angefangen hast(und dem eigentlich doch viel größeren Keller!!)- ab da wurde es spannend :thumbsup: - mh nur so ne Idee- aber wie wär´s, wenn du statt der langen "Einleitung" mit der Beschreibung von Fluren, Fenstern etc. eher diesen Teil ausbaust? Also zB noch etwas Ungewöhnliches beschreibst- wie zB irgendwelche Überbleibsel der "Experimente", konkret: Ratte kaut an Leichenteil oder so... also Andeutungen!
Oder irgendwas mit dem "Kind". Ich denke das würde das Interesse des Lesers eher wecken, als die Beschreibung des Klinkers :D .
Und ich glaube den Makler kannst du auch weglassen- wenn der Rest etwas lebendiger wird bedarf es des Maklers nicht.

Achja- deine Sprache fand ich übrigens ziemlich anschaulich- gute Mischung!
Bye POLDI

 

Hi Cerberus,


Ich beachte einmal nicht das Vorurteil, dass Mods unfehlbar sind... ;)

Dies ist ein muffiger; ist ein trauriger Raum.
liest sich komisch → "Dies ist ein muffiger, ein trauriger Raum" ist doch besser...

Das Labor hat man entfernt, und mit ihm die abscheulichen Gläser, in denen...obwohl, einen Teil des Labors gibt es...
Nach "denen" könntest du einen Absatz einfügen

immer noch, denn den Gang hinter der Spüle hat man nicht gefunden.
Ist zwar keine Wortwiederholung, liest sich aber so

Es ist der Makler, der eine wohlhabende Familie durch ihr neues zu Hause führen will.
Zuhause


Verständlich, dass sich Moderatoren Dogmen auferlegen müssen. Sonst würden die Geschichten unerträglich genial werden :D

Ja, hat mir gefallen. Nicht, weil jetzt so übermäßig viel Action drin ist, sondern, weil man das Haus direkt vor seinem geistigen Auge sehen kann. Inklusive den interessanten dunklen Geheimnissen, die es verbirgt.
Respekt.


Gruß
131aine

 

Hey Ceberus,

Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen; nicht nur die Idee, sondern auch die Umsetzung. Der ruhige, fast akribisch beschreibene Stil nimmt den Leser mit auf einen Rundgang, ähnlich einer Kamerafahrt, von Dachboden bis zur Eingangstür. Gerade die unaufdringliche, unspektakuläre Art schafft ungemein viel Atmosphäre.
Wenn Dante sagt, dass der verstörende Horror fehlt, hat er natürlich Recht. Die Pointe funktioniert zwar, doch gehört sie, meiner Meinung nach, zum schwächeren Teil der Geschichte. Eine schockierendere Lösung wäre hier besser, allerding muss ich zugeben, dass dies eine schwere Aufgabe ist, will man nicht Gefahr laufen, die vorher aufgebaute Atmosphäre zu zerstören.

Allein schon für Deine und Dantes Geschichte hat sich die Ausarbeitung des DH gelohnt. Auch wenn Du deinen Beitrag ja nicht darauf aufgebaut hast, so hat Dich die Diskussion zumindest dazu bewegt, Deine eigene Dogmageschichte aus der Schublade hervorzukramen.

Jorgo

 

DOGMA hin oder her. Ich werde weiterhin meine seichten Horror-Kingschen-Splatter-Stories schreiben. So! Basta!! :D

Hi Cerb,

die von Jorgo erwähnte Kamerafahrt ist absolut zutreffend. Ich empfand das Gleiche. Sehr anschaulich.
Für mich kam sehrwohl Horror auf, bereits bei der kurzen Erwähnung des Dachbalkens und des Duschvorhangs. Durch eben diese kurze Nebenbeierwähnung regst du die Fantasie des Lesers (zumindest bei mir) enorm an. Was da alles vor meinem geistigen Auge ablief, ist schon erschreckend (ich glaube, ich werde das mal in einer entsprechenden o.g. Storie verarbeiten ... ;) )

Von besagter Kellerszene hätte ich auch mehr erwartet; ich lechzte geradezu nach weiteren Details, und dann war Schluss! Sch... Dogma!

Egal, hat auf jeden Fall Spaß gemacht. Danke für die Unterhaltung!

Gruß! Salem

 

Hallo Cerberus81

Mir hat es gefallen. Eine sehr interressante Erzählweise, auf die ich mich erst einlassen musste. Anfangs sträubte sich mein Leseempfinden gegen die kunstvollen Sätze. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich da im Text etwas gegenseitig bekämpft.
Als ich den Text mit dem Hintergrundwissen deines Anschlusspostings erneut las, empfand ich die Sätze, in denen "man" vorkommt, als personifizierte Störenfriede.
Einmal in die eigenwillige Sprache eingetaucht, rissen sie mich jedesmal wieder aus dem Stimmungsbild.

Meiner Meinung nach solltest du noch konsequenter auf "man" verzichten um die interressante Erzählweise durchgängig zu machen.

Beispiele:
Obwohl man gründlich sauber gemacht hat, sind noch dunkelrote Flecken an den Vorhängen der Badewanne zu erkennen.
Trotz gründlicher Säuberung, sind noch dunkelrote Flecken an den Vorhängen der Badewanne zu erkennen.

Der teure Schreibtisch aus Eichenholz ist leer. Man hat ihn abgeräumt, und dabei auch vor den Schubladen keinen Halt gemacht.
Der teure Schreibtisch aus Eichenholz ist leer. Abgeräumt. Selbst vor den Schubladen wurde nicht Halt gemacht.
usw.
Aber Ansichtsache und nur (m)eine Meinung.

Ansonsten hat mich dein "Experiment" gut unterhalten.
Ich mag subtilen Horror.
;)

Gruss dotslash

 

Nabend Cerberus!

Eine Hausbeschreibung, bei der es mir am ganzen Körper gekribbelt hat. Ich konnte mir ganz genau vorstellen, den Dachboden, das Licht, das matt reinschimmert. Es kam mir vor, als ob ich selbst durch dieses Haus gehen würde, dass ich mit den Fingern an der Staubschicht drüberfahre, den verwilderten Teich sehe und all das, nur Spuren zu einem Geheimnis.
Ich sah mich in den Keller gehen, den Geruch einatmen und ich fühlte mich an soviele Dinge erinnert. Vor allem an das alte Herrenhaus in Resident Evil, meine Güte, waren das noch Zeiten.

Das wars,
One

 

Hi Cerberus!

Detailkram am Anfang:

Dies ist ein muffiger; ist ein trauriger Raum.
Der Sinn dieses Semikolons verschließt sich mir.

Der vollständige Verzicht auf Personen. Es gibt auch keinen Protagonisten.
Die Story endet zudem dort, wo eine gewöhnliche Geschichte anfangen würde.
Der vollständige Verzicht auf Personen? Nein, das stimmt nicht, denn diese Geschichte kommt nicht ohne Personen aus. Sie nehmen nicht aktiv an der "Handlung" teil, sind aber explizit wichtig für die Geschichte selbst.
Es gibt keinen Protagonisten, aber auch das ist nicht ganz korrekt. Du erzählst eher die Folgen einer Geschichte, die sehr wohl Protagonisten hatte, lieferst ein paar Hinweise und gibst dem Leser die Gelegenheit, die Geschichte zu rekonstruieren. Aber du lieferst ihm auch alles, was er braucht - mit den Personen.

Und ja, richtig, sie endet da, wo andere Geschichten anfangen würden. Beim Lesen hatte ich den Eindruck, einen Film zu sehen, die Kamerafahrt durch ein Haus. Sehr gelungen, wie ich finde. Von stilistischer Seite betrachtet, da du eine Handlung erzählst, nur indem du die Konsequenzen beschreibst. Aber Personen hast du trotzdem eingebaut.

In diesem Sinne
c

 

Hi!

Mit so vielen Kommentaren hätte ich gar nicht gerechnet.
Was die Sache mit den "man"-Sätzen angeht: Hmmm...wenn die wirklich so störend sind. Ich wollte mit ihnen auf die Arbeit der Polizisten verweisen.

Ansonsten freut es mich, dass die Kamerafahrt gleich dreimal erwähnt wurde, denn genau diesen Eindruck einer unsichtbaren Kamera wollte ich erreichen.

Was die Personen angeht: Okay, vielleicht hätte ich es anders ausdrücken sollen: Es gibt keine Personen, die aktiv an der Geschichte teilnehmen. Mein Fehler.

Euch allen vielen Dank fürs lesen und kommentieren!

Viele Grüße

Cerberus

 

Was die Sache mit den "man"-Sätzen angeht: Hmmm...wenn die wirklich so störend sind. Ich wollte mit ihnen auf die Arbeit der Polizisten verweisen.
Das ist dir auch gelungen. Ich sah eben diese Ermittlungsbeamten bei der Arbeit. Deshalb waren da auch Personen.

Mit der neune Definition, "Es gibt keine Personen, die aktiv an der Geschichte teilnehmen.", relativiert sich nun meine Aussage und du kannst die "man"-Sätze so stehen lassen. :)

Gruss dotslash

 

Hi Cerberus!

"Ruhende Geheimnisse" als Titel finde ich schon fast genial, kommt beinahe ran an "Familiengrab" von Hitch. Das zur Einführung.

Die Kamerafahrt ist sicher beabsichtigt von dir, ist dir teilweise auch recht schön gelungen. Ich muss allerdings gestehen, dass dann und wann mein Interesse erlahmte, angesichts der vielen Beschreibungen. Keine Aktion, das ist schwierig, den Leser bei der Stange zu halten.

Doch solche Fehlerchen:

Der Strick liegt auf den Diehlen.

oder

...mit gezwirbeltem Schneuzer

lockern die Atmosphäre wieder ein bisschen auf. :D

Sehr gut fand ich natürlich dein Spiel mit den Andeutungen, die wirklichen Aktionen spielen sich im Hirn des Rezipienten ab. Das hat Klasse, auch wenn es nicht hundertprozentig überzeugt. Doch wenn ich es richtig verstanden habe, war das Ganze auch als Experiment gedacht und da hast du in mir immer einen Fürsprecher, na klar!

Also, langweilig war das Ganze nicht, allein schon deshalb, weil man mitdenken muss.

Viele Grüße von hier!

 

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