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Ruhende Geheimnisse
Draußen setzt die Dämmerung ein. Erstes Licht fällt durch das kleine Dachbodenfenster. Es verstärkt die Konturen des Holzschemels, der in einer Ecke steht. Man hat ihn wieder aufgestellt.
Der Strick liegt auf den Dielen. Nur ein angebrochener Dachbalken zeugt noch davon, dass er nicht immer dort gelegen hat. Ansonsten gibt es hier nur Gerümpel. Reliquien aus alter Zeit, in wuchtigen Kisten verstaut.
Eine morsche, ausklappbare Leiter führt hinunter in den zweiten Stock.
Im Flur gibt es keine Fenster, es ist düster hier. Sechs verschlossene Türen verbergen Zimmer hinter sich, die schon lange niemand mehr betreten hat. Nur die Tür zum Badezimmer steht offen. Das Waschbecken ist aus der Wand gebrochen, und dutzende Splitter liegen verstreut auf den Kacheln. Obwohl man gründlich sauber gemacht hat, sind noch dunkelrote Flecken an den Vorhängen der Badewanne zu erkennen.
Dies ist ein muffiger; ist ein trauriger Raum.
Gleitet die Sicht aus ihm heraus, durch den Flur hindurch, erreicht sie bald die Treppe, die hinunter führt in den ersten Stock. Hier gibt es ein großes Wandfenster, bunt, und mit unzähligen kleinen Engeln verziert, die auf dem Glas in ihren Bewegungen erstarrt sind.
Die Sonne muss draußen inzwischen über die Wipfel der Bäume gestiegen sein, denn farbenfrohes Licht taucht die weite Balustrade in eine verspielte, doch schwermütige Harmonie.
Die Türen stehen alle offen, bis auf eine. Ein grotesker Widerspruch.
Durch das massive Holz hindurch fliegend, offenbart sich ein gewaltiger Raum. Die Gemälde an der Wand haben immer das selbe Motiv: Eine Familie. Der Vater, strengen Blickes und mit gezwirbeltem Schnäuzer; die Frau, mit dem endlos melancholischen Blick und dem weiten Kleid; spielende Kinder, mal jünger, mal älter dargestellt, aber immer die selben.
Nur ein Kind fehlt auf all diesen Portraits. Ein Kind, das nicht dazugehören durfte, weil es anders war.
Der teure Schreibtisch aus Eichenholz ist leer. Man hat ihn abgeräumt, und dabei auch vor den Schubladen keinen Halt gemacht. Augenscheinlich gibt es in diesem Zimmer nichts mehr von Interesse, denn keiner weiß um die lose Diehle unter dem Tisch. Dort, wo er die Aufzeichnungen versteckt hat, ehe er auf den Dachboden ging. Niemand hat danach gesucht. Man hielt ihn für einen Irren.
Durch die staubigen Vorhänge dringt gedämpftes Licht. Dieser Raum gehört der Vergangenheit an.
Gleitet die Sicht zurück durch die Tür, und hält vor der prunkvollen Balustrade inne, offenbart sich eine gewaltige, beinahe frevelhafte Eingangshalle, so groß wie das Fundament eines gewöhnlichen Hauses. Protzige Säulen umschließen den Balkon der ersten Etage, und welkes Efeu klammert sich in den letzten Zügen an ihren marmornen Oberflächen fest.
Am Geländer entlang, hin zu der Treppe, die ihren Verlauf inmitten der Balustrade nimmt, einige Meter weit nach unten führt, und in ein Podest verläuft, von dem zwei weitere Treppen abgehen; die eine links, die andere rechts entlang. Der dumpfe Teppich legt sich wie eine gespaltene Schlangenzunge über beide Treppen, und um dem Vergleich gerecht zu werden, läuft er in der Halle in Zacken aus, die sich müde über den Boden strecken.
Dort ist die große Doppeltür, die nach draußen führt, in die ausladende Parkanlage.
Unter anderem auch zu dem Brunnen, der nicht untersucht wurde.
Unter anderem auch zu dem Blumenbeet, in dem nie jemand gegraben hat, weil man der Meinung war, alle Opfer gefunden zu haben.
Von der Halle aus gehen viele Türen ab, auch die zur Küche, aus der sämtliche Messer zu Beweiszwecken entfernt wurden. Unter der Spüle die Holzvertäfelung, die sich zur Seite schieben lässt, und einen Geheimgang in den Keller hinter sich verbirgt. Von der Küche aus lässt sich der Teich beobachten, der mittlerweile verwildert ist, und den keiner mehr pflegt.
Wieder in der Halle, lässt es sich spielerisch durch die reguläre Kellertür gleiten, die sich zwischen den beiden Treppen befindet, die von der Balustrade herabführen.
Unten ist es finster. Ein Geruch von seltsamen Käfern hängt in der Luft. Die riesigen, verwinkelten Gänge führen in die unterschiedlichsten Kammern, alle sind sie verlassen. Das Labor hat man entfernt, und mit ihm die abscheulichen Gläser, in denen...obwohl, einen Teil des Labors gibt es immer noch, denn den Gang hinter der Spüle hat man nicht gefunden. Hätte man die Baupläne studiert, wäre es aufgefallen, dass der Keller in Wahrheit viel größer ist.
Oben in der Halle klackt das Schloss. Bald schon wird dieses Haus wieder jemandem gehören.