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Ruth

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17.12.2005
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Ruth

Sie schritt die Leisten ab, korrigierte notfalls ihre Lage, um mit ihnen einen möglichst wohlgeformten Kreis zu bilden. Das tat sie immer, bevor Egino vom anderen Ende des Dorfes zu den Deggelmanns kam. Die hölzernen Latten, welche sie für ihre Symbole benötigte, lagerten hinter dem Haus ihrer Eltern in Bündeln zu je 100 Stück und Egino benutzte sie, um schadhafte Gemüsekisten zu reparieren. Egino fuhr mehrmals die Woche in den Abendstunden mit seinem weißen Opel vor, bei dem schon seit Monaten die hintere Federung defekt war und der aussah, als habe er schwer geladen. Das Fenster auf der Fahrerseite schien für immer in der Tür verschwunden zu sein, denn Ruth sah ihn nie hinter geschlossener Scheibe.
Ruth mochte ihn, fieberte seinem Erscheinen entgegen und stand entweder in ihren zerknitterten, dunkelblauen Strümpfen zwischen den unordentlich gestapelten Kisten oder hatte sich zuvor ein Muster aus diesen Leisten zurecht gelegt. Ihre mageren Beine, unnatürlich und knotig verdickt an den Knien, bildeten kaum einen farblichen Kontrast zu den schmalen Holzbrettchen.
Jeder ihrer Finger führte ein kompliziertes Eigenleben; sie verkrochen sich abwechselnd in die Innenflächen der Hände oder versuchten in spastischen Zuckungen möglich weit abzustehen. Da sie ihre Arme in unkontrollierten Ruderbewegungen wie zwei Seilenden um ihre Hüfte schlenkerte, geriet ihr gesamter Körper ab und an aus seiner offensichtlich angestrebten, aufrechten Haltung.
"Na, Ruth; trägst Deine Haare heute offen", schäkerte er über den mit feinem Kies ausgelegten Platz, trat mit einem seiner schwarzen Stiefel den Stummel der Zigarette aus und griff nach der ersten Kiste, entfernte die brüchigen Teilstücke und warf sie achtlos in einen rostigen Container.
Röte schoss in ihre Wangen, der Mund öffnete sich, in den Winkeln bildete sich weißlicher Speichel. Aus ihrem Rachen quietsche das abgehackte Keckern unverständlicher Worte und Egino war sich nie sicher, ob es sich dabei um einen Ausdruck spontaner Freude oder Anklage handelte.
Er zog die vier Enden der Kiste über den im Boden fest verankerten, quadratischen Klotz, prüfte ihre rechten Winkel und nagelte das Ende einer lockeren Leiste wieder an den Eckstab. Drei kleine Nägel klemmte er sich zwischen die Lippen; das hielt ihn zumindest bei der Arbeit vom Rauchen ab.
Als er mit dem kleinen Kopf des Hammers in nur drei Schlägen einen Nagel versenkte, schloss Ruth die Augen, schrie in dissonanter Tonlage auf; das stumpfe Blond ihrer Haare umhüllte ihr blasses Gesicht wie eine enganliegende Kappe, aus der in unregelmäßigen Abständen feine Strähnen wehten. So plötzlich, wie sie ihr Unbehagen gegen das Hämmern äußerte, so abrupt fiel sie jetzt in ein ernstes Verhalten.
"Wie findest Du meinen Quantensprung?", schnarrte sie verrostet. Allerdings überschlug sich ihre Stimme jedesmal ins Falsett, wenn sie den Buchstaben i versuchte auszusprechen.
Egino ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Jeden Abend, den er hier verbrachte, schwirrte Ruth um ihn herum, legte diese seltsamen Muster, baute fragile Gebilde aus den Holzblättern oder plapperte Sätze aus irgendwelchen Büchern nach. Mehrmals schon hatte er mit ihrer Mutter gesprochen, ob er sich Sorgen machen müsse, aber Frau Deggelmann hielt sich bedeckt. Im Dorf kursierte das Gerücht, dass sie jetzt mit einsetzender Pubertät in eine Klinik komme, aber so direkt wollte Egino nicht nachfragen. Eigentlich konnte ihm das ja auch egal sein; er verdiente mit dieser kleinen Beschäftigung ein gutes Zubrot und er ging keinen Abend vom Platz, ohne dass Frau Deggelmann ihm neben dem Geldschein auch frisches Gemüse in die Hand gedrückt hatte.
Wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit zusammen im Goldenen Lamm saßen, riskierte der eine oder andere schon mal eine forsche Lippe und wollte von ihm die Bestätigung, dass die Ruth in eine Geschlossene gehöre.
Kürzlich wollte Friedhelm, der etwas grobschlächtige Sohn vom Kehlhof, wissen, wie es sei, wenn man eine Bekloppte pimpere, aber Egino war ihm übers Maul gefahren und hatte ihn auf den inzestuösen Verdacht mit seiner hübschen Schwester angesprochen. Es sah aus, als flögen gleich Fäuste, aber man beruhigte sich wieder. Eine Hand, die ihn füttere, beiße er nicht und damit war das Thema vom Tisch.
Erst huschte ein Lächeln über sein sonnenverbranntes Gesicht, dann schob er bedächtig die eingefettete Haartolle aus seiner Stirn, wendete sich ihr zu.
"Woher hast'n das Wort?"
Ihre graublauen Pupillen schoben sich unter die blassen Lider, die Wimpern zitterten und das Weiß glänzte feucht und rotgeädert. Sie furzte leise und das brachte die Stellung ihrer Augen wieder in einen erträglichen Anblick.
"Ich verwende das Wort für meine sprunghafte Bewusstseinserweiterung, für die radikale Änderung meines Denkens; snek ned sen iem Gnu rednä." Rasch zog sie einen ihrer hinab gerutschten Strümpfe bis über das Knie, straffte das Gewebe, bis ihre helle Haut fast hindurch schimmerte.
Jetzt sieht sie mich an, als wäre sie vollkommen normal, aber das Mädchen hat doch echt einen an der Klatsche. Gedanken kreisten unausgesprochen und Egino murmelte, wendete sich wieder seiner Arbeit zu: "Du bist vielleicht eine Nummer."
Ruth hatte offensichtlich eine andere Reaktion erwartet. Entrüstet hakten sich ihre Finger in die Haare, mit einem Fuß stieß sie nach den Holzplättchen, zerstörte die ausgelegte Form auf dem Boden. Mit jedem Tritt stob eine Schar kleiner Kiesel gegen Eginos Beine.
"Na na, Mädchen; was wird denn das", stieß er durch die zusammengekniffenen Lippen und zog wieder einen krumm geschlagenen Nagel aus dem Boden einer Steige, ließ sich nicht in seiner Beschäftigung stören von ihrem Wutausbruch. Klar, Ruths Mutter hatte ihn auf ihr sonderbares Verhalten hingewiesen, aber mit einem sehr spärlichen Informationsinhalt. Im Dorf wurde nicht viel geredet, das Leben auf den Gemüsefeldern war beschwerlich und wenn ein Kind etwas auffällig aus der Reihe tanzte, wurde nicht sofort nach dem Arzt gerufen. Verschrobenheit war kein Fremdwort unter den Bauern.
Ruth sammelte mittlerweile die Überreste ihrer Zerstörungswut ein, sprach mit gespielter Kinderstimme jede Latte an, dass es wohl ein Unding sei, den Kreis mutwillig und ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis verlassen zu haben. So wetterte sie eine ganze Weile vor sich hin und Egino war zufrieden, dass er endlich Ruhe vor ihr hatte.
Wenige Minuten später hörten sie beide, wie hinter dem Haus der alte L 3500 hustend seine sechs Zylinder in Bewegung setzte, mehrmals spuckte, sich scharrend die Handbremse löste und stotternd losfuhr. Vater Deggelmann sah über den schwarzen Rahmen seiner Brille, nickte Egino kurz zu und steuerte den 90 PS starken Lastwagen über den Hof hinaus auf die kaum befahrene Landstraße. Das Motorengeräusch war kaum verklungen, als Ruths Mutter aus einer der Scheunen kam, die Hände fahrig am dunkelgrünen Schurz abwischte, ein langes Messer, mit dem sie Kraut geschnitten hatte, auf die Fensterbank legte und mit lauter Stimme rief: "Egino, ich geh jetzt ins Haus, falls ' was sein sollte. Wenn Ruth dich stört, schick' sie zu mir."
Egino ruckte als Antwort nur mit seinem Kopf, aber Frau Deggelmann schien nicht beruhigt zu sein. "Ruth, willst Du nicht mit mir kommen? Du kannst mir helfen, das Abendbrot zu richten." Aber Ruth schüttelte energisch ihren Kopf, hielt mehrere Leisten umklammert und ihre Arme vor der Brust verschränkt.
"Mach mir keine Schande", sagte ihre Mutter, aber das war kaum noch zu hören, da sie sich dem Wohnhaus zugewandt hatte.
Die Sonne warf ihre Strahlen mittlerweile flach in die aufgestapelten Kisten, die in dem Kies ein rechtwinkliges Schattenmuster bildeten. Egino reparierte, klopfte, prüfte und die Arbeit ging ihm leicht von der Hand. Ruth begann in schnellem Tempo, Holzleisten nach dem Muster des Schattens auszulegen. Manchmal warf er einen kurzen Blick in ihre Richtung, sah, wie sie schwitzte, nervös die Latten verschob, um dem wandernden Schatten zu folgen. Dabei keuchte und fluchte sie in immer kürzeren Abständen.
"Ruth, lass gut sein", riet ihr Egino, der den letzten Stapel von zwölf Kisten in Angriff nahm. Hämmerte, entfernte wieder einen Nagel, setzte hier ein neues Brettchen ein und dann hob er die letzte Steige für heute auf den Bock. Legte den Hammer zur Seite, zog eine krumme Zigarette aus der Brusttasche und strich das Streichholz an. Paffte den ersten Zug als weiße Wolke in das Abendrot, sog den zweiten in die Lunge.
Plötzlich schob Ruth ihren grauen Rock in die Höhe, steckte den Saum des vorderen Randes hinter das Gummiband und ging in die Hocke. Sie war so gelenkig, dass sich ihre Knie auf der Höhe ihrer Ohren befanden und ihren Kopf schob sie so zwischen die Beine. Mit einer Hand entfernte sie den fleckigen Stoff ihrer Unterhose, entblößte die blonde Behaarung ihrer Scham und urinierte in hörbarem Strahl zwischen die kleinen Steine. Ihr Mund versuchte die zischenden und plätschernden Geräusche zu imitieren, mit ihrer freien Hand schaufelte sie den Kies in die größer werdende Lache.
"Hey, Ruth", Egino stieß lachend den Rauch durch Nase und Mund.
"Was soll das? Machste das immer so?" Kopfschüttelnd und mit erhobenen Augenbrauen wendete er sich ab, setzte eine neue Leiste ein und stellte die reparierte Kiste auf den nächsten Stapel.
"Findest Du mich eklig?" Erschrocken zuckte Egino zusammen, so laut hatte sie die Worte neben ihm geschrieen; dicht neben ihm. Als er einen Schritt zurücktrat und sich ihr zuwendete, hob sie erneut den Rock, diesmal bis zum Kinn. Ihre weißen, dünnen Beine, die verfärbte Unterhose, einen Streifen blasser Haut mit einem verwachsenen Bauchnabel zählten nicht zu den Anblicken, die er sich in solch einer Situation wünschte.
"Ruth, komm, lass gut sein; ich muss jetzt gehen", beschwichtigend hob er die Hand mit der Zigarette; zog noch einmal kräftig an ihr, blies angespannt den Rauch in die ihr abgewandte Richtung und zertrat den Stummel, als wollte er hier und jetzt alles für beendet erklären.
"Du gehst nirgends mehr hin." Das Falsett in dem i war verschwunden, ihre Stimme klang belegt, sehr konzentriert und selbstbewusst. Einen Hauch Ernsthaftigkeit vermittelten ihre Augen, die Mundwinkel mit ihren weißlichen Speichelresten mutwillig nach oben gezogen. Ruckartig warf sie den Rock nach unten, näherte sich ihm bis auf einen Schritt. Ihre Hände wanderten über ihre Hüfte, verhakten sich scheinbar in ihrem Rücken.
Egino war auf so etwas nicht gefasst. Niemals dachte er daran, dass ein Messer in seinem Bauch stecken könnte. Jetzt wusste er nicht, wie er seine Hände einsetzen sollte. Panisch presste er die Innenflächen gegen das Hemd, gegen die Muskeln. Dunkelrot breitete sich aus, troff am Griff des hölzernen Knaufs auf seine Hose, rann zur Erde, zwischen die Kiesel. Ruth keckerte in Kreisen über den Platz, die Sonne kroch dem Horizont entgegen.
"Ruth, was ist - mein Gott, Egino - Ruth!" Hysterisch überschlug sich die Stimme ihrer Mutter, die, wenige Schritte von der offenen Tür entfernt, versuchte, das Geschehen zu überblicken.
"Geh weg, Mutter; hau ab, ich bin noch nicht fertig", unterstrich Ruth ihre Aufforderung mit feuchter Aussprache, fahrigen Armbewegungen.
Egino spürte, dass es lebensgefährlich war und er in solch einer Situation das Messer nicht entfernen durfte. Ein Brennen entlang der Schneide breitete sich aus, fraß die Kraft in seiner Mitte, kalt der Schweiß auf seiner zitternden Oberlippe.
Schreiend und fuchtelnd näherte sich Ruth wieder ihrem Instrument, grinste verletzt hinter einer Maske aus unkontrolliertem Hass.
"Hör auf, Ruth! Ruth", ihre Mutter eilte jetzt laut schreiend über den grauen Kies, der Horizont frass die orangerote Scheibe, alle Farben in ein Gold gehüllt, Ruth riss das Messer aus der Wunde, Egino wollte es verhindern, seine Hände umschlossen, doch vergeblich, die Schneide fetzte, es quoll, Egino sackte ein, fiel auf die Knie, verzerrt in seiner Hilflosigkeit, die Augen schattig, das starke Geschlecht ängstlich, die verschmierten Hände und der Schweiß bissen so böse in dem Stich.
Ruth erkannte die Ungeheuerlichkeit der Tat zu spät, sie warf das Messer bis hin zum alten Opel. Es klapperte über die Motorhaube, Ruth presste verzweifelt ihre Knöchel gegen die Schläfen, Speichel rann in silbrigen Fäden aus den nach unten gezogenen Mundwinkeln, im Rhythmus ihres abgehackten Atems entrang sich ein wundes, kehliges Plärren. Da war ihre Mutter auch schon bei ihr, schlug mit der flachen Hand in das verweinte Gesicht, ihre Nase keine Handbreit entfernt den Ohren des eigen Fleisch und Blut. Und nochmals schlug sie zu - und ein drittes Mal. Zwischen den Schlägen Vorwürfe, was sie da großgezogen, woher sie das Messer, was ihr Egino getan habe, was ihr einfiele, wie in Gottes Namen sie auf solch eine Idee käme, wie das enden solle.
"So tun Sie doch was, Frau Deggelmann - ich, ich verblute", Egino saß mittlerweile, die Beine leicht angezogen, in einer Pfütze, die Unterarme auf den Knien, die Hände oben weiß und innen dunkel, die Sonne versunken und die Farben erloschen, geflohen in die Grautöne der Dämmerung.
"Vater ist mit dem Wagen weg, sonst würde er dich jetzt ins Krankenhaus fahren; ich versuche, einen Arzt zu rufen - es kann dauern; ich komme gleich wieder raus - warte hier; so eine Scheiße aber auch", den letzten Satz schon im Gehen, und laut zu ihrer Tochter hin, die wimmernd zwischen den Kisten stand, aus deren zahllosen Ritzen die Nacht kroch: "Und Du rühr Dich nicht vom Fleck, das sag ich Dir", drohte mit wackelnder, erhobener Handfläche.
Kaum war die Mutter in dem schwarzen Loch der Tür verschwunden, flackerte Licht und ergoss sich mit gelblichem Schein über den Platz. Mücken und Nachtfalter torkelten irritiert in der Helligkeit, da witterte Ruth den letzten Akt ihrer verruchten Tat, rannte um den Opel, fand das Messer und Egino lag wie ein Käfer auf dem Rücken, die Hände erhoben, als sie zu ihm trat und mit dem Messer wahllos in seine Beine stach, nach seinen Armen, seinem Leib.
"Hör auf! Verdammt nochmal - hör doch endlich auf", Eginos Stimme klang schrill und verzweifelt, er versuchte sich mit letzter Kraft vor den Hieben zu schützen, in dem er nach ihr trat. Und ein Fuß landete unter ihrem Kinn, Ruth biss sich in die Zunge, Frau Deggelmann kam, ungläubig rufend, in großen Schritten herbei geeilt: "Bei Gott nochmal, was ist nur in dich gefahren", aber da drehte sich Ruth beiseite, um den Tritten auszuweichen, verlor das Gleichgewicht, stützte sich mit der Hand, die das Messer schwang, auf dem Boden ab, knickte ein und fiel mit dem Hals in die Schneide. Benommen lag Egino in der Schwärze, stöhnend und erschöpft vom Treten, sein Hemd verfärbt und seine Augen starrten hinauf in den Himmel, an dem die letzten rötlichen Schlieren verblassten.
Ruth kam röchelnd hoch, stützte sich auf Hände und Knie, unablässig floss der Lebenssaft aus ihrem Hals, rann über das zitternde Kinn, jeder Laut aus ihrer Kehle ging unter in einem glucksenden Gurgeln.
"Maria und Joseph, was ist heute nur für ein Tag, dass er mich so straft", Frau Deggelmann weit nach vornüber gebeugt, mit einer Hand auf Eginos Brust.
"Der Doktor kommt gleich - wo nur Vater bleibt."
Egino griff nach ihrer Hand, flüsterte: "Nehmen Sie doch mein Auto- der Schlüssel steckt."
Doch Frau Deggelmann schüttelte den Kopf, Tränen in den Augen.
"Junge, ich hab doch keinen Führerschein - und selbst wenn ich fahren könnte. Nachts bin ich blind wie ein Maulwurf."
Enttäuscht sackte Eginos Kopf zur Seite, kraftlos rutschten seine Finger aus ihrer Hand und sie ließ es geschehen, wandte sich ihrer Tochter zu. Im dürftigen Licht der Glühbirne sah sie erst jetzt die folgenschwere Verletzung an ihrem Hals.
"Was für eine Qual mit Dir. Nur Scherereien und jetzt auch noch das. Bei Gott, er alleine weiß, warum ich das aushalten musste", Frau Deggelmann zog den Kopf an Ruths Haaren empor, schaute in das fragende Antlitz ihrer Tochter, suchte nach dem Rest von Liebe, den eine Mutter für ihr Kind übrig haben sollte, aber da waren nur vierzehn Jahre Vorwürfe, Scham und Demütigung.
Von der Landstraße her fingerten zwei Lichkegel über die Felder, das Geräusch des alten Lastwagens jammerte näher. Mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern ließ Vater Deggelmann den alten Benz keine fünf Meter vor den Verletzten stehen, stieg aus und zupfte abwesend an seinem faltigen Adamsapfel.
Stumm trugen Vater und Mutter den mittlerweile ohnmächtigen Egino zum Auto, legten ihn auf die Ladefläche. Frau Deggelmann setzte sich in eine Ecke hinter dem Fahrerhaus, bettete den Kopf des Sterbenden auf ihren Schoß.
Als Vater verharrte und sein Blick zu Ruth hinüber wanderte, die immer noch auf Händen und Knien ruhte, sagte Mutter leise: "Nun fahr schon endlich!"
Auf der Landstraße trat Herr Deggelmann das Gaspedal bis zum Anschlag, seine Arme waren um das große Lenkrad mit dem Knauf geschlungen, als ihnen ein Fahrzeug entgegen kam.
Der Doktor - so spät noch, dachte Vater.

 

Hallo Burana53
vielen Dank fuer die lieben Worte - hat mich sehr gefreut. Es ist ja nicht so, dass man mit langen Stories einen Blumentopf gewinnt. ;-) Darum auch Dank fuer die geopferte Zeit.
Liebe Gruesse
Detlev

 
Zuletzt bearbeitet:

Eine gut geschriebene Geschichte, die sehr dichte Momente hat, viele stimmungsvolle Bilder erzeugt und sich mit intensiven charakteristischen Beschreibungen fast nur auf die Hauptfigur beschränkt. Was ich richtig finde.

Die Handlung bietet in ihren besonders starken und anspruchsvollen Anfang Potential für verschiedene Richtung. Bestimmt hast du irgendwann vor der großen Kreuzung gestanden und dich gefragt: "Hm, wie mache ich jetzt weiter? Sentimental? Dramatisch? Unheimlich? Romantisch? Gesellschaftskritisch? Und dann bist du am Ende einen sehr tragischen und dramatischen Weg gegangen. Mir persönlich gefällt diese Wendung inhaltlich nicht so gut, aber das ist natürlich Geschmacksache. Ich habe den blutigen Ausgang ein wenig so empfunden, als würdest du deinem eher stillen, sanften und sehr innovativen Stil in der ersten Hälfte der Geschichte nicht zutrauen, bis zum Ende durchzuhalten. Als müsste nun „endlich was passieren“. Und dann passiert halt was. Deine Beschreibungen der Bluttat und die Figuren wirken auf mich etwas schwächer und einen Tick weniger inspiriert als der Anfangsteil der Geschichte. Als würden die Teile nicht ganz zusammen passen. Als würde sich in diesem tragischen Schluss irgendwas von dir zu Wehr setzen, weil du (vielleicht?) zeitweise auch einen ruhigeren und sanfteren Ausklang der Geschichte im Sinn hattest, ihn dann aber verworfen hast, aus welchen Gründen auch immer.

Nun, da interpretiere ich sicher auch zuviel hinein, aber bei mir als Leser hat sich dieser Verdacht kurzzeitig ergeben, einfach so, rein gefühlsmäßig.

Der letzte Satz ist mir nicht so ganz klar. In der Aussage schon, aber im Zusammenhang mit dem, was bis dahin geschehen ist, kann ich das irgendwie nicht als guten und sinnvollen Schlusssatz einordnen. Oder als besondere Pointe? Dass der Vater sich nun wundert, warum der Doktor noch so spät unterwegs ist? Ja und? Ich als Leser weiß warum. Dass der Vater sich darüber wundert, ist für mich irgendwie keine tiefgründige Erkenntnis. Vielleicht liegt es an mir.

Insgesamt aber Daumen hoch. Weitgehend gelungen! Guter Stil und unterhaltsam kreiert.

Grüße von Rick

 

Hallo Rick
Danke fuer Deine ausfuehrliche Interpretation - ich musste ein bisschen schmunzeln; ich besuche seit Anfang des Jahres einen Schreibkurs der vhs und machte mir bis dahin keine Gedanken ueber Aufbau, Prot. etc ... diese Story ist die zweite, von der ich, bevor ich sie schrieb, einen Plot anfertigte, die Personen auswaehlte und den Aufbau plante - und jetzt kommst Du mit einem solchen Verdacht, rein gefuehlsmaessig ... interessant. Das gibt mir zu denken - vielleicht sollte ich wieder mehr auf mein Gefuehl horchen ... aber damit war ich noch weniger erfolgreich, die Story flog hier gleich wieder raus ... vielleicht darf ich mir auch nicht zu viele Gedanken machen ueber die Kommentare - was lerne ich daraus?
Danke fuer Deinen Kommentar, fuer Deine Muehe und Dein Interesse. Ich werde es in Zukunft beruecksichtigen.
Liebe Gruesse
Detlev

@Burana53
... danke fuer das schoene Bluemchen aus dem Burgenland.
Detlev

 

Hey Detlev!

Mir hat die Geschichte, wie auch den Anderen, sehr gefallen, wenn auch emotional aufgewühlt. Mir kamen beim Lesen der Geschichte auch keine Gedanken wie "Hm, hat er sich jetzt gefragt wie er weitermachen soll", denn dazu war ich viel zu sehr mit dem Inhalt beschäftigt. Ich finde die Geschichte sehr realitätsnah geschrieben und auch keineswegs überzogen. Im Gegenteil, ich hätte mich sogar geärgert, hätte die Geschichte einen ruhigen, sanften Ausklang gefunden, denn so ist es im Leben ja nunmal so gut wie nie.
Allerdings finde auch ich den letzten Satz als Schlusssatz nicht sehr gelungen.
Falls du die Geschichte damit zu einem ruhigen Ausklingen bringen wolltest, kommt es beim Leser jedenfalls nicht so an. Mir würde es noch besser gefallen, würdest du die zwei letzten Sätze streichen, dann würde eine gewisse Melancholie besetehen bleiben, was ich an dieser Stelle sehr passend fände. Aber selbstverständlich ist das Geschmackssache und vielleicht würde eine kurze Erläuterung zu dem wohl mehr oder minder vorhandenen Tiefgang dieses Satzes Rick und mir auch schon genügen um zu verstehen was du dir dabei gedacht hast. Liebe Grüße Ise

 

Hallo Detlev,

ich beschrieb ja auch nur ein Bauchgefühl. Letztendlich kam das evtl. auch deshalb, weil ich sehr gern dazu neige, in meinen Geschichten plötzlich spontan das Ruder herumzureißen und einen neuen Kurs zu wählen.

Dachte eben, vielleicht hat es bei dir eine ähnliche Situation gegeben. Ich stehe nach wie vor zu der Ansicht, dass die Story im ersten Teil stärker ist. Aber du hast schon registriert, dass mir die Geschichte insgesamt gut gefallen hat, nicht wahr?

Und zum letzten Satz musst du mir bitte noch eine Erklärung geben, ich kapier einfach nicht, was du damit (tiefgründig?) aussagen willst. Ich finde, der Satz bzw. die Aussage hängt irgendwie in der Luft.

Grüße von Rick

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Detlev,

die Geschichte ist für mich (außer ein paar Kleinigkeiten, auf die ich später komme) aus einem Guß bis zu dem Moment, als die Mutter die Messerstecherei entdeckt. In schönen Bildern läßt du die Figuren lebendig werden, dass man eine eindrückliche Vorstellung hat.

Dann gab es für mich ein paar Fragen, die mich aus der Szene rissen, in die ich bis dahin versunken war. zB die Mutter, die sich eher um die Bestrafung der Tochter kümmert, anstatt nach dem lebensgefährlich Blutenden zu sehen. Aber das ist wohl Absicht, genauso wie die ganze letzte Szene mit dem Ehepaar Dengelmann. Fahren die beiden mit Engino dem Arzt entgegen und lassen ihre Tochter blutend zurück?
Soll der letzte Satz vom Vater die Enttäuschung ausdrücken, dass der Arzt doch noch kommt und Ruth dadurch geholfen wird? Bin ich zu böse in meiner Interpretation?

Ich verstehe Ricks Einwand mit der Zweiteilung der Geschichte, sehe sie aber als von dir absichtlich herbeigeführt. Anfangs das schon vertraute Miteinander von Engino und Ruth, dann das Aufzeigen von der Kaltherzigkeit der Eltern, die ja scheinbar auch vehement die Andersartigkeit ihrer Tochter ignorieren / negieren.

Ein junger, außerordentlicher Mensch hatte keine Chance, sich zu entfalten, weil sie nicht der Norm entsprach. Irgendwann entwickelten sich Potenziale zu zündendem Dynamit, das explodierte. Tragisch.
Eine besondere Geschichte ist dir gelungen, wenn ich auch Interpretations-Schwierigkeiten mit dem Ende hatte.

Was mir auffiel:

Ruth mochte ihn, fieberte seinem Erscheinen entgegen und stand entweder in ihren zerknitterten, dunkelblauen Strümpfen

zerknitterte Strümpfe? Papier kann zerknittert sein, vielleicht auch ein gestärkter Leinenstoff; aber Strümpfe sind doch eher in Falten zusammengezogen oder zusammengerafft.

Er zog die vier Enden der Kiste über den im Boden fest verankerten, quadratischen Balken,
Ein Balken ist länger als breit, also nie quadratisch. Ein (Holz)Klotz wäre in meinen Augen passender.

"Wie findest Du meinen Quantensprung", schnarrte sie verrostet. Allerdings überschlug sich ihre Stimme jedesmal ins Falsett, wenn sie den Buchstaben i versuchte auszusprechen.
Fragezeichen nach Quantensprung

Wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit zusammen im Goldenen Lamm saßen, riskierte der Eine oder andere schon mal eine forsche Lippe und wollte von ihm die Bestätigung, dass die Ruth in eine Geschlossene gehöre.
wenn Eine groß, dann Andere auch - oder umgekehrt :D ; im Duden habe ich es nicht gefunden, vielleicht kann jemand anders helfen

Ihre Hände wanderten über ihre Hüfte, verhakten sich scheinbar in ihrem Rücken.
Egino war auf so etwas nicht gefasst. Niemals dachte er daran, dass ein Messer in seinem Bauch stecken könnte.
Dieser fettgedruckte Satz als Einleitung zu der Tatsache, dass Ruth zugestochen hat, hat mich irritiert, da ich ihn zu der vorherigen Handlung zuordnete. Ich finde ihn -sorry- recht ungeschickt in dieser Satzstellung.

"Was für eine Qual mit Dir. Nur Scherereien und jetzt auch noch das. Bei Gott, er alleine weiß, warum ich das aushalten musste",
Mann, ist die böse!


Als Vater verharrte und sein Blick zu Ruth hinüber wanderte, die immer noch auf Händen und Knien stand, sagte Mutter leise:
Steht man, wenn man kniet und die Hände als Stütze nimmt?

Lieber Gruß
bernadette

 

Zitat: Fahren die beiden mit Engino dem Arzt entgegen und lassen ihre Tochter blutend zurück?
Soll der letzte Satz vom Vater die Enttäuschung ausdrücken, dass der Arzt doch noch kommt und Ruth dadurch geholfen wird? Bin ich zu böse in meiner Interpretation?


Genau das, was bernadette hier vermutet, habe ich auch erst gedacht. Und mich dann gefragt: Wohin zum Teufel bringen sie dann Egino?

Grüße von Rick

 

Hallo Ise, Mücke

danke für das Klopfen auf die Schulter. Anhand Deiner Reaktion erkenne ich, wie unterschiedlich die Interpretation ausfallen kann. Es ist auch interessant, wie Leser betrachten. Der Eine beschäftigt sich eher mit dem Inhalt, der Andere sucht im Duden nach möglichen Entgleisungen. Menschliche Einschätzung, das Spiel zwischen Gefühl und Kalkül, Sinneswahrnehmung und Verarbeitung. Sehr interessant.
Die letzten Sätze sind doch eigentlich logisch - Egino fahren sie ins Krankenhaus und auf dem Weg in die nächste Stadt oder Ortschaft kommt ihnen das Auto des Doc. entgegen. Dass sie ihre Ruth liegen lassen ... brutal, ja, aber der Vater hofft, ja auf diese Weise seine aufgesetzten Hörner los zu werden, die Mutter hofft, die Liebe des Vater wieder zu gewinnen ... es ist eine Tragödie, weil Menschen sich derart in einen Glauben "verrennen" können, dass Recht, Unrecht, Schande, Wert, Liebe, Hass so verquirrlt werden, dass nur noch skurile Auswege möglich sein können - wer in kleinen Dorfgemeinschaften groß geworden ist, kann diese unterschwelligen Ströme erkennen, so er sensibel geblieben ist.
Ihr habt das schon gut gefühlt ... und, bedarf jeder Satz einer Erklärung?
Jedenfalls Vielen Dank für Deinen lieben Kommentar.
Grüße
Detlev

 

Hey Rick

ja, natürlich registrierte ich Dein Gefallen - nochmals Vielen Dank - auf so reges Interesse war ich nicht vorbereitet. ;-) ...
Deine Interpretation ist schon richtig - ein seltsam fieses und böses Ende mit zwei schrecklichen Verdächtigungen und Vermutungen ... lassen die wirklich die Ruth da liegen? Aber ja doch ... der Egino, dass erkennen die Eltern, muss gerettet werden. Der ist ja normal etc. - aber ihre verschrobene Tochter, ihre Schande, ihr Stigma im Dorf ... da kann doch später bezeugt werden, dass sie Egino anfiel und verletzte, dabei stolperte und in das Messer fiel. Die Eltern werden bezeugen, dass sie schon tot war, als sie aufbrachen, um Egino ins Krankenhaus zu fahren. Deshalb auch der Gedanke des Vaters, als er den Wagen des Docs sah. Was, wenn Ruth jetzt gerettet wird vom Arzt? Der Vater wußte doch nicht, dass die Mutter den Arzt gerufen hatte ... Also so eine richtig offene Kacke, die da noch am Dampfen ist und der Story einen offenen Schluß beschert ... ich will, dass es ungewiss bleibt, mulmig, verstört ... okay?
Liebe Grüße
Detlev

 

Hallo bernadette

Danke für Deine Interpretation, die Komplimente und die netten Anregungen.
Fragezeichen habe ich gesetzt - einige und andere werden klein geschrieben-laut PONDS - Deutsche Grammatik und Rechtschreibung.
Zerknittert bleibt - Stoff, der falsch zusammengelegt und gepresst wurde, ist zerknittert. Saß jemand stundenlang im Auto auf seinem Sakko, dann ist das auch zerknittert und nicht in Falten zusammengezogen. Auch Seide ist zerknittert ...
Natürlich ist ein Balken länger als breit; 1,5m lang, etwa 15cm breit, etwa 15 cm hoch. Natürlich liegt der Balken nicht der Länge nach auf dem Boden, sondern steht, wie Du ja richtig erkannt hast, aufrecht. Auch ein Balken kann aufrecht stehen. Er ist, wie beschrieben, im Boden verankert. Also ist das, was oben in Eginos Nabelgegend sichtbar ist, quadratisch.
Dann ist ja gut, wenn der fettgedruckte Satz ungeschickt steht. Es ist ein Absatz, also bezieht sich der Satz nicht auf den vorherigen Satz. Und wenn er verstört, dann hat er sein Ziel erreicht. Du sollst genau so verwirrt sein wie Egino - fassungslos. Niemals damit gerechnet.
Mann, ist die böse. Auch entäuscht, verhärmt, verbittert, fast genauso seltsam wie ihre Tochter.
Steht man auf Händen und Knien? Mh. Jedenfalls liegt man nicht. Knien. Okay. Sie kniete auf Händen und Knien. Das klingt aber doof. Aber ich denke, dass es auch so jeder versteht - da gäbe es noch: ... thronte, ruhte, ragte, fußte, verharrte, stützte ... ich werde was finden, bestimmt!
Nochmal danke und liebe Grüße
Detlev

 

Hallo Detlev,

gerade das Unmotivierte ist natürlich erschreckend. So als brächte Ruth den Egino in aller Unschuld um, ist sich nicht wirklich klar über die Folgen, auch, wenn sie schon etwas ahnt. Ihrer erwachenden Lust und Reife kann sie selbst gedanklich nicht folgen, spürt nur die Zurückweisung und die Verletzung.

Die Geschichte ist gut geschrieben und fesselt. Ein paar Anmerkungen habe ich aber doch. ;)

Die Sonne warf ihre Strahlen mittlerweile flach in die aufgestapelten Kisten und bildete ein rechtwinkliges Schattenmuster in dem Kies.
Eigentlich sind es die Kisten, die das Schattenmuster auf dem Kies bilden.
suchte nach dem Rest von Liebe, die eine Mutter für ihr Kind übrig haben sollte, aber da waren nur vierzehn Jahre Vorwürfe, Scham und Demütigung.
der Bezug liegt auf Rest, deshalb: Rest von Liebe, den ...
troff am Griff des hölzernen Knaufs auf seine Hose
ist troff ein regionaler Ausdruck? Für mich Nordlicht klingt er ungewohnt.

Lieben Gruß, sim

 

Geschichten, die leise anfangen und laut enden, mag ich. Allerdings sollte das allmählich geschehen und nicht - wie bei dir - durch eine überraschende Wendung. Das ist natürlich kein Muß, Unerwartetes in einer Geschichte begrüße ich sogar, wenn dieses Unerwartete beim aufmerksamen Lesen frühzeitig erkannt oder zumindest geahnt werden kann.

Aber in deiner Geschichte deutet nichts darauf, daß aus einem geistig und körperlich behinderten, sonst aber harmlos wirkenden Mädchen ein gefährliches Monstrum geworden ist. Okay, im Dorf wird gemunkelt, daß Ruth in eine geschlossene Anstalt kommen soll, aber das nur, weil sie in Pubertät gekommen ist, d.h. aus moralischen Gründen, was auch ihr schamloses Benehmen beim Urinieren belegt – wäre schon irgend etwas Gefährliches vorgefallen, Egino hätte es mit Sicherheit gewußt und wäre vorsichtiger gewesen.

Sicher kann es bei gestörten Persönlichkeiten zu solchen oder ähnlich unmotivierten Handlungen kommen, dennoch kann ich mir des Endrucks nicht erwehren, daß das hier mit Absicht geschah - um den Leser zu schocken. Zudem ist der Ablauf der Handlung ziemlich unwahrscheinlich, denn eben noch wird Ruth als unkontrolliertes Bündel Fleisch beschrieben

Jeder ihrer Finger führte ein kompliziertes Eigenleben; sie verkrochen sich abwechselnd in die Innenflächen der Hände oder versuchten in spastischen Zuckungen möglich weit abzustehen. Da sie ihre Arme in unkontrollierten Ruderbewegungen wie zwei Seilenden um ihre Hüfte schlenkerte, geriet ihr gesamter Körper ab und an aus seiner offensichtlich angestrebten, aufrechten Haltung.
und dann soll sie fähig sein, überlegt, d.h. planmäßig zu handeln und einen Messer gezielt einzusetzen
"Du gehst nirgends mehr hin."
und das auch noch nach Unterbrechung fortzusetzen
"Geh weg, Mutter; hau ab, ich bin noch nicht fertig"
[…]
Schreiend und fuchtelnd näherte sich Ruth wieder ihrem Instrument, grinste verletzt hinter einer Maske aus unkontrolliertem Hass.
Und obwohl sie sich anschließend angeblich besann,
Ruth erkannte die Ungeheuerlichkeit der Tat zu spät, sie warf das Messer bis hin zum alten Opel.
so hinderte sie das nicht daran, das Begonnene abermals fortzusetzen
da witterte Ruth den letzten Akt ihrer verruchten Tat, rannte um den Opel, fand das Messer und Egino lag wie ein Käfer auf dem Rücken, die Hände erhoben, als sie zu ihm trat und mit dem Messer wahllos in seine Beine stach, nach seinen Armen, seinem Leib.
Mir scheint, du setzt hier Ruth ein wie es dir gerade paßt, um des Effekts willen, und der Leser muß es schlucken, weil das alles bei einer gestörten Person natürlich nicht auszuschließen ist. Während der erste Teil – wie auch Rick schon anmerkte - tadellos dasteht, betreibst du im zweiten nur noch nackten Aktionismus, in dem sich alles entlädt und in dem auch noch alte Rechnungen beglichen werden sollen – das ist für mich zuviel des Guten.

Dennoch ist die Geschichte gut, im ersten Teil sogar sehr gut geschrieben. Denn du hast Talent, kannst beobachten und Menschen gut beschreiben, auch die Schilderung des Lebens in einer dörflichen Gemeinschaft ist dir gut gelungen, lediglich das mit dem Balken und mit dem, was Egino auf dem Anwesen macht und warum, fand auch ich unverständlich bzw. wenig anschaulich, doch das ist weniger wichtig.

Dion

 

Hey Detlev,

Nicht unspannend und groesstenteils huebsch geschrieben. Der Moment, in dem Ruth zum Messer greift, kommt wirklich recht unerwartet und beschert der Geschichte damit einen fiesen, kleinen Wendepunkt, der den Leser (mich zumindest) bei der Stange haelt.

Einige Sachen fand ich stilistisch nicht so toll. Aber, das mal dazu gesagt, nicht, weil sie nicht toll gewesen waeren, sondern weil ich sie anders geschrieben haette.

und griff nach der ersten Kiste. Entfernte die bruechigen Teilstuecke und warf sie achtlos in einen rostigen Container.

Vielleicht ist das ja ein besonderes sprachliches Mittel, aber ich find’ den Satz „Entfernte“ irgendwie unvollstaendig und wuerde ihn per Komma an den vorangegangenen anhaengen.

Einer sich gelockerten Leiste

Einer lockeren Leiste: Schneller, Schoener, Exorbitant.

So ploetzlich, wie sie ihr Unbehagen gegen das Haemmern aeußerte, so abrupt fiel sie jetzt in ein ernstes Verhalten.

Jetzt fiel sie zurueck, davor hatte sie Unbehagen geaeussert.

Wenn dich Ruth stoert

In meiner Ecke Deutschlands wuerde die Mehrheit definitiv „Wenn Ruth dich stoert“ sagen. ;)

Gruesse,

Jan-Christoph

 

Hallo Sim

Vielen Dank für Deine Worte - die Fehler habe ich gleich behoben. z.B. diese Stelle mit ... Rest von Liebe, den eine Mutter ... so etwas ärgert mich, weil es im Nachhinein ja nachvollziehbar ist, so offensichtlich - aber diese Fehler begehe ich immer wieder - wie kann ich so etwas schulen? Mit lesen allein ist es wohl nicht getan ...
... das Wort troff steht sogar im Duden, allerdings unter triefen - ich liebe solche Worte ... die so unregelmäßig, wenig benutzt und auch so deutlich sind. Manchmal schlage ich über die Stränge, aber es gibt hier ja die Hüter mit wachem Auge. Danke für Deine Hilfe.
Liebe Grüße
Detlev

 

Hallo Dion

Vielen Dank für Deinen Kommentar, für das sehr gut im ersten Teil. Das berührt. Ich beginne von 'hinten'.
Egino reparierte Gemüsekisten auf dem Anwesen. Vor etwa vierzig Jahren wurde das geerntete Gemüse in Holzsteigen transportiert. Bei sog. Gemüseabgabestationen stapelten sich diese Kisten und dort wurden auch die Kisten regelmäßig repariert. Das war eine einfache Arbeit und sie wurde oft von jungen Männern als kleines Zubrot ausgeführt. Als "Arbeitsfläche" diente ein Balken oder Holzklotz, auf dem die Kisten ... aber das beschrieb ich ja ausführlich in der Story. Heute sicherlich eine ausgestorbene Tätigkeit.
Ruth ist eine Person, die es unter anderem Namen in anderen Zusammenhängen gab. Sie hat sich selbst getötet. Sie war hochgradig belesen, unglaublich launisch, exzentrisch, unberechenbar und ... ja, genial übergeschnappt. Vor vierzig Jahren versteckte man seinen Nachwuchs noch nicht so leichtfertig und zielstrebig wie heute. Es gab sie noch, die 'Dorftrottel', die Skurilen, die verbogenen Sonderlinge und kauzigen Alten. Heute ist fast alles stromlinienförmig oder weggesperrt, behandelt oder ausgemerzt. Ich will weder das eine noch das andere gutheißen oder verdammen, bzw. bewerten. Nur beschreiben. In der Betrachtung liegt für mich der Reiz. Und diesen Reiz möchte ich pflegen.
Ob jetzt im letzten Teil blanker Aktionismus herrscht oder alte Rechnungen beglichen werden sollen - ob jetzt der Leser im ersten Teil langsam auf die plötzliche Wendung hingeführt werden oder es ahnen soll - gibt es einen Wendepunkt in einer Geschichte, der vorgeschrieben ist? Muss eine Story nach immer gleichem Schema ablaufen? Gibt es eine Gesetzmäßigkeit, ein Diktat, wie eine Story aufgebaut werden muss? Haben wir nicht die Freiheit des Wortes und des Geistes? Nur weil etwas 'zu' ruckartig ist, zu schrill, schnell, wechselhaft oder unvorhergesehen?
Ich berücksichtige gerne kritische Bemerkungen zu meinen Stories, versuche die Überlegungen des Lesers in die nächste Story einfließen zu lassen, aber ein Stück weit muss ich auch trotzig an meinen Vorstellungen festhalten, sonst schreibe ich nicht mehr so, wie meine Phantasie mich führt, sondern so, wie mich Sachkundige gerne sehen wollen. Wie in allen Bereichen der Kunst - ich male und musiziere auch - ist der Spagat zwischen Kommerz und Eigensinn sehr spannend.
Jedenfalls danke ich Dir für Dein Interesse an meiner Story, an Deiner geopferten Zeit. Ich hoffe, ein wenig Licht in das Dunkel um Ruth gebracht zu haben.
Liebe Grüße
Detlev

 

Hallo Proof

hab Dank für die Zeilen, die Kritik und das Loben. Deine aufgeführten Punkte ändere ich sofort - sie sind einleuchtend und nachvollziehbar.
Puh, meine erste Story hier wurde in drei Monaten nur zwei Mal mit Kommis bedacht, meine Zweite wurde ohne Kommentar einfach gelöscht und jetzt komme ich mit Antworten nicht hinterher. Das Leben ist bunt.
In diesem Sinne danke.
Detlev

 

Detlev schrieb:
Haben wir nicht die Freiheit des Wortes und des Geistes?
Absolut, Detlev, die haben wir. Oder sollten wir zumindest haben. Aber diese Freiheit gilt sowohl für den Autor als auch für den Leser. Das heißt, du kannst schreiben, was und wie du willst, und ich als Leser kann daraus herauslesen, was und wie ich will. Das tut jeder Leser für sich ohnehin, nur wir hier haben die seltene Gelegenheit, zu einem Text auch öffentlich etwas zu sagen.

Natürlich kannst du deine Geschichte so lassen wie sie ist, aber meiner Ansicht nach würde sie besser werden, wenn es da einen kleinen Hinweis gäbe, Ruth wäre schon einmal früher gewalttätig geworden – meinetwegen gegen Sachen oder Tieren -, aber Egino würde Solches nicht beachten nach dem Motto: Ich kenne sie besser! Das wäre schon alles, und ein durchschnittlicher Leser wie ich wäre zufrieden. :D

Mag sein, daß ich Harmonie zu sehr liebe und deswegen Dissonanzen auch dort als störend empfinde, wo der Komponist sie mit Absicht eingebaut hat, aber in diesem Fall geht es eher um das Gegenteil: Der Paukenschlag trifft mich ohne Vorbereitung, denn wie bereits gesagt deutet nichts darauf, daß da eine Katastrophe im Anmarsch ist, die, einmal angekommen, dann wie am Schnürchen abläuft und auch noch Dinge zu Tage fördert, die niemand vermuten geschweige denn erwarten konnte.

Aber auch das ist legitim, keine Frage, will sagen, mein Statement zu deiner Geschichte solltest du nicht überbewerten.

Dion

PS:

Detlev schrieb:
meine Zweite wurde ohne Kommentar einfach gelöscht
Was war das für eine Geschichte, Detlev? Das ist hier auf kg.de eigentlich nicht üblich, zumindest der Autor bekommt die Begründung in der Regel per PN geliefert.

 

Hallo Dion
Ja, da stimme ich Dir zu - auch der Leser hat die Freiheit, Geschichten zu interpretieren. Deshalb ist das hier schon eine gute Sache. Muss ich mal schau'n, wie ich den Hinweis verbaue, damit die Tat nicht so unheilvoll über den Leser hereinbricht. Die Sache mit dem Paukenschlag - das ist witzig - verwende ich in der Musik auch recht gern.
Die Story damals wurde von Uwe Post gelöscht, stand unter Liebe/Romantik und hieß 'Sternensamen' - okay, sie ist vielleicht strittig, weil es die kosmische Liebe und Sehnsucht der Menschheit beschreibt, ihren Drang nach Anerkennung, Ruhm und Heimat. Zumal ja dort auch steht, dass es auch Stimmungsbilder oder Beobachtungen sein können, nicht unbedingt Stories mit Handlung - aber egal - ich hab´s überwunden - an anderen Orten wurde sie gutgeheißen und so bin ich ja entschädigt. Das Leben ist ästhetisch bunt.
Gruß Detlev

 

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