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Ruth
Sie schritt die Leisten ab, korrigierte notfalls ihre Lage, um mit ihnen einen möglichst wohlgeformten Kreis zu bilden. Das tat sie immer, bevor Egino vom anderen Ende des Dorfes zu den Deggelmanns kam. Die hölzernen Latten, welche sie für ihre Symbole benötigte, lagerten hinter dem Haus ihrer Eltern in Bündeln zu je 100 Stück und Egino benutzte sie, um schadhafte Gemüsekisten zu reparieren. Egino fuhr mehrmals die Woche in den Abendstunden mit seinem weißen Opel vor, bei dem schon seit Monaten die hintere Federung defekt war und der aussah, als habe er schwer geladen. Das Fenster auf der Fahrerseite schien für immer in der Tür verschwunden zu sein, denn Ruth sah ihn nie hinter geschlossener Scheibe.
Ruth mochte ihn, fieberte seinem Erscheinen entgegen und stand entweder in ihren zerknitterten, dunkelblauen Strümpfen zwischen den unordentlich gestapelten Kisten oder hatte sich zuvor ein Muster aus diesen Leisten zurecht gelegt. Ihre mageren Beine, unnatürlich und knotig verdickt an den Knien, bildeten kaum einen farblichen Kontrast zu den schmalen Holzbrettchen.
Jeder ihrer Finger führte ein kompliziertes Eigenleben; sie verkrochen sich abwechselnd in die Innenflächen der Hände oder versuchten in spastischen Zuckungen möglich weit abzustehen. Da sie ihre Arme in unkontrollierten Ruderbewegungen wie zwei Seilenden um ihre Hüfte schlenkerte, geriet ihr gesamter Körper ab und an aus seiner offensichtlich angestrebten, aufrechten Haltung.
"Na, Ruth; trägst Deine Haare heute offen", schäkerte er über den mit feinem Kies ausgelegten Platz, trat mit einem seiner schwarzen Stiefel den Stummel der Zigarette aus und griff nach der ersten Kiste, entfernte die brüchigen Teilstücke und warf sie achtlos in einen rostigen Container.
Röte schoss in ihre Wangen, der Mund öffnete sich, in den Winkeln bildete sich weißlicher Speichel. Aus ihrem Rachen quietsche das abgehackte Keckern unverständlicher Worte und Egino war sich nie sicher, ob es sich dabei um einen Ausdruck spontaner Freude oder Anklage handelte.
Er zog die vier Enden der Kiste über den im Boden fest verankerten, quadratischen Klotz, prüfte ihre rechten Winkel und nagelte das Ende einer lockeren Leiste wieder an den Eckstab. Drei kleine Nägel klemmte er sich zwischen die Lippen; das hielt ihn zumindest bei der Arbeit vom Rauchen ab.
Als er mit dem kleinen Kopf des Hammers in nur drei Schlägen einen Nagel versenkte, schloss Ruth die Augen, schrie in dissonanter Tonlage auf; das stumpfe Blond ihrer Haare umhüllte ihr blasses Gesicht wie eine enganliegende Kappe, aus der in unregelmäßigen Abständen feine Strähnen wehten. So plötzlich, wie sie ihr Unbehagen gegen das Hämmern äußerte, so abrupt fiel sie jetzt in ein ernstes Verhalten.
"Wie findest Du meinen Quantensprung?", schnarrte sie verrostet. Allerdings überschlug sich ihre Stimme jedesmal ins Falsett, wenn sie den Buchstaben i versuchte auszusprechen.
Egino ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Jeden Abend, den er hier verbrachte, schwirrte Ruth um ihn herum, legte diese seltsamen Muster, baute fragile Gebilde aus den Holzblättern oder plapperte Sätze aus irgendwelchen Büchern nach. Mehrmals schon hatte er mit ihrer Mutter gesprochen, ob er sich Sorgen machen müsse, aber Frau Deggelmann hielt sich bedeckt. Im Dorf kursierte das Gerücht, dass sie jetzt mit einsetzender Pubertät in eine Klinik komme, aber so direkt wollte Egino nicht nachfragen. Eigentlich konnte ihm das ja auch egal sein; er verdiente mit dieser kleinen Beschäftigung ein gutes Zubrot und er ging keinen Abend vom Platz, ohne dass Frau Deggelmann ihm neben dem Geldschein auch frisches Gemüse in die Hand gedrückt hatte.
Wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit zusammen im Goldenen Lamm saßen, riskierte der eine oder andere schon mal eine forsche Lippe und wollte von ihm die Bestätigung, dass die Ruth in eine Geschlossene gehöre.
Kürzlich wollte Friedhelm, der etwas grobschlächtige Sohn vom Kehlhof, wissen, wie es sei, wenn man eine Bekloppte pimpere, aber Egino war ihm übers Maul gefahren und hatte ihn auf den inzestuösen Verdacht mit seiner hübschen Schwester angesprochen. Es sah aus, als flögen gleich Fäuste, aber man beruhigte sich wieder. Eine Hand, die ihn füttere, beiße er nicht und damit war das Thema vom Tisch.
Erst huschte ein Lächeln über sein sonnenverbranntes Gesicht, dann schob er bedächtig die eingefettete Haartolle aus seiner Stirn, wendete sich ihr zu.
"Woher hast'n das Wort?"
Ihre graublauen Pupillen schoben sich unter die blassen Lider, die Wimpern zitterten und das Weiß glänzte feucht und rotgeädert. Sie furzte leise und das brachte die Stellung ihrer Augen wieder in einen erträglichen Anblick.
"Ich verwende das Wort für meine sprunghafte Bewusstseinserweiterung, für die radikale Änderung meines Denkens; snek ned sen iem Gnu rednä." Rasch zog sie einen ihrer hinab gerutschten Strümpfe bis über das Knie, straffte das Gewebe, bis ihre helle Haut fast hindurch schimmerte.
Jetzt sieht sie mich an, als wäre sie vollkommen normal, aber das Mädchen hat doch echt einen an der Klatsche. Gedanken kreisten unausgesprochen und Egino murmelte, wendete sich wieder seiner Arbeit zu: "Du bist vielleicht eine Nummer."
Ruth hatte offensichtlich eine andere Reaktion erwartet. Entrüstet hakten sich ihre Finger in die Haare, mit einem Fuß stieß sie nach den Holzplättchen, zerstörte die ausgelegte Form auf dem Boden. Mit jedem Tritt stob eine Schar kleiner Kiesel gegen Eginos Beine.
"Na na, Mädchen; was wird denn das", stieß er durch die zusammengekniffenen Lippen und zog wieder einen krumm geschlagenen Nagel aus dem Boden einer Steige, ließ sich nicht in seiner Beschäftigung stören von ihrem Wutausbruch. Klar, Ruths Mutter hatte ihn auf ihr sonderbares Verhalten hingewiesen, aber mit einem sehr spärlichen Informationsinhalt. Im Dorf wurde nicht viel geredet, das Leben auf den Gemüsefeldern war beschwerlich und wenn ein Kind etwas auffällig aus der Reihe tanzte, wurde nicht sofort nach dem Arzt gerufen. Verschrobenheit war kein Fremdwort unter den Bauern.
Ruth sammelte mittlerweile die Überreste ihrer Zerstörungswut ein, sprach mit gespielter Kinderstimme jede Latte an, dass es wohl ein Unding sei, den Kreis mutwillig und ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis verlassen zu haben. So wetterte sie eine ganze Weile vor sich hin und Egino war zufrieden, dass er endlich Ruhe vor ihr hatte.
Wenige Minuten später hörten sie beide, wie hinter dem Haus der alte L 3500 hustend seine sechs Zylinder in Bewegung setzte, mehrmals spuckte, sich scharrend die Handbremse löste und stotternd losfuhr. Vater Deggelmann sah über den schwarzen Rahmen seiner Brille, nickte Egino kurz zu und steuerte den 90 PS starken Lastwagen über den Hof hinaus auf die kaum befahrene Landstraße. Das Motorengeräusch war kaum verklungen, als Ruths Mutter aus einer der Scheunen kam, die Hände fahrig am dunkelgrünen Schurz abwischte, ein langes Messer, mit dem sie Kraut geschnitten hatte, auf die Fensterbank legte und mit lauter Stimme rief: "Egino, ich geh jetzt ins Haus, falls ' was sein sollte. Wenn Ruth dich stört, schick' sie zu mir."
Egino ruckte als Antwort nur mit seinem Kopf, aber Frau Deggelmann schien nicht beruhigt zu sein. "Ruth, willst Du nicht mit mir kommen? Du kannst mir helfen, das Abendbrot zu richten." Aber Ruth schüttelte energisch ihren Kopf, hielt mehrere Leisten umklammert und ihre Arme vor der Brust verschränkt.
"Mach mir keine Schande", sagte ihre Mutter, aber das war kaum noch zu hören, da sie sich dem Wohnhaus zugewandt hatte.
Die Sonne warf ihre Strahlen mittlerweile flach in die aufgestapelten Kisten, die in dem Kies ein rechtwinkliges Schattenmuster bildeten. Egino reparierte, klopfte, prüfte und die Arbeit ging ihm leicht von der Hand. Ruth begann in schnellem Tempo, Holzleisten nach dem Muster des Schattens auszulegen. Manchmal warf er einen kurzen Blick in ihre Richtung, sah, wie sie schwitzte, nervös die Latten verschob, um dem wandernden Schatten zu folgen. Dabei keuchte und fluchte sie in immer kürzeren Abständen.
"Ruth, lass gut sein", riet ihr Egino, der den letzten Stapel von zwölf Kisten in Angriff nahm. Hämmerte, entfernte wieder einen Nagel, setzte hier ein neues Brettchen ein und dann hob er die letzte Steige für heute auf den Bock. Legte den Hammer zur Seite, zog eine krumme Zigarette aus der Brusttasche und strich das Streichholz an. Paffte den ersten Zug als weiße Wolke in das Abendrot, sog den zweiten in die Lunge.
Plötzlich schob Ruth ihren grauen Rock in die Höhe, steckte den Saum des vorderen Randes hinter das Gummiband und ging in die Hocke. Sie war so gelenkig, dass sich ihre Knie auf der Höhe ihrer Ohren befanden und ihren Kopf schob sie so zwischen die Beine. Mit einer Hand entfernte sie den fleckigen Stoff ihrer Unterhose, entblößte die blonde Behaarung ihrer Scham und urinierte in hörbarem Strahl zwischen die kleinen Steine. Ihr Mund versuchte die zischenden und plätschernden Geräusche zu imitieren, mit ihrer freien Hand schaufelte sie den Kies in die größer werdende Lache.
"Hey, Ruth", Egino stieß lachend den Rauch durch Nase und Mund.
"Was soll das? Machste das immer so?" Kopfschüttelnd und mit erhobenen Augenbrauen wendete er sich ab, setzte eine neue Leiste ein und stellte die reparierte Kiste auf den nächsten Stapel.
"Findest Du mich eklig?" Erschrocken zuckte Egino zusammen, so laut hatte sie die Worte neben ihm geschrieen; dicht neben ihm. Als er einen Schritt zurücktrat und sich ihr zuwendete, hob sie erneut den Rock, diesmal bis zum Kinn. Ihre weißen, dünnen Beine, die verfärbte Unterhose, einen Streifen blasser Haut mit einem verwachsenen Bauchnabel zählten nicht zu den Anblicken, die er sich in solch einer Situation wünschte.
"Ruth, komm, lass gut sein; ich muss jetzt gehen", beschwichtigend hob er die Hand mit der Zigarette; zog noch einmal kräftig an ihr, blies angespannt den Rauch in die ihr abgewandte Richtung und zertrat den Stummel, als wollte er hier und jetzt alles für beendet erklären.
"Du gehst nirgends mehr hin." Das Falsett in dem i war verschwunden, ihre Stimme klang belegt, sehr konzentriert und selbstbewusst. Einen Hauch Ernsthaftigkeit vermittelten ihre Augen, die Mundwinkel mit ihren weißlichen Speichelresten mutwillig nach oben gezogen. Ruckartig warf sie den Rock nach unten, näherte sich ihm bis auf einen Schritt. Ihre Hände wanderten über ihre Hüfte, verhakten sich scheinbar in ihrem Rücken.
Egino war auf so etwas nicht gefasst. Niemals dachte er daran, dass ein Messer in seinem Bauch stecken könnte. Jetzt wusste er nicht, wie er seine Hände einsetzen sollte. Panisch presste er die Innenflächen gegen das Hemd, gegen die Muskeln. Dunkelrot breitete sich aus, troff am Griff des hölzernen Knaufs auf seine Hose, rann zur Erde, zwischen die Kiesel. Ruth keckerte in Kreisen über den Platz, die Sonne kroch dem Horizont entgegen.
"Ruth, was ist - mein Gott, Egino - Ruth!" Hysterisch überschlug sich die Stimme ihrer Mutter, die, wenige Schritte von der offenen Tür entfernt, versuchte, das Geschehen zu überblicken.
"Geh weg, Mutter; hau ab, ich bin noch nicht fertig", unterstrich Ruth ihre Aufforderung mit feuchter Aussprache, fahrigen Armbewegungen.
Egino spürte, dass es lebensgefährlich war und er in solch einer Situation das Messer nicht entfernen durfte. Ein Brennen entlang der Schneide breitete sich aus, fraß die Kraft in seiner Mitte, kalt der Schweiß auf seiner zitternden Oberlippe.
Schreiend und fuchtelnd näherte sich Ruth wieder ihrem Instrument, grinste verletzt hinter einer Maske aus unkontrolliertem Hass.
"Hör auf, Ruth! Ruth", ihre Mutter eilte jetzt laut schreiend über den grauen Kies, der Horizont frass die orangerote Scheibe, alle Farben in ein Gold gehüllt, Ruth riss das Messer aus der Wunde, Egino wollte es verhindern, seine Hände umschlossen, doch vergeblich, die Schneide fetzte, es quoll, Egino sackte ein, fiel auf die Knie, verzerrt in seiner Hilflosigkeit, die Augen schattig, das starke Geschlecht ängstlich, die verschmierten Hände und der Schweiß bissen so böse in dem Stich.
Ruth erkannte die Ungeheuerlichkeit der Tat zu spät, sie warf das Messer bis hin zum alten Opel. Es klapperte über die Motorhaube, Ruth presste verzweifelt ihre Knöchel gegen die Schläfen, Speichel rann in silbrigen Fäden aus den nach unten gezogenen Mundwinkeln, im Rhythmus ihres abgehackten Atems entrang sich ein wundes, kehliges Plärren. Da war ihre Mutter auch schon bei ihr, schlug mit der flachen Hand in das verweinte Gesicht, ihre Nase keine Handbreit entfernt den Ohren des eigen Fleisch und Blut. Und nochmals schlug sie zu - und ein drittes Mal. Zwischen den Schlägen Vorwürfe, was sie da großgezogen, woher sie das Messer, was ihr Egino getan habe, was ihr einfiele, wie in Gottes Namen sie auf solch eine Idee käme, wie das enden solle.
"So tun Sie doch was, Frau Deggelmann - ich, ich verblute", Egino saß mittlerweile, die Beine leicht angezogen, in einer Pfütze, die Unterarme auf den Knien, die Hände oben weiß und innen dunkel, die Sonne versunken und die Farben erloschen, geflohen in die Grautöne der Dämmerung.
"Vater ist mit dem Wagen weg, sonst würde er dich jetzt ins Krankenhaus fahren; ich versuche, einen Arzt zu rufen - es kann dauern; ich komme gleich wieder raus - warte hier; so eine Scheiße aber auch", den letzten Satz schon im Gehen, und laut zu ihrer Tochter hin, die wimmernd zwischen den Kisten stand, aus deren zahllosen Ritzen die Nacht kroch: "Und Du rühr Dich nicht vom Fleck, das sag ich Dir", drohte mit wackelnder, erhobener Handfläche.
Kaum war die Mutter in dem schwarzen Loch der Tür verschwunden, flackerte Licht und ergoss sich mit gelblichem Schein über den Platz. Mücken und Nachtfalter torkelten irritiert in der Helligkeit, da witterte Ruth den letzten Akt ihrer verruchten Tat, rannte um den Opel, fand das Messer und Egino lag wie ein Käfer auf dem Rücken, die Hände erhoben, als sie zu ihm trat und mit dem Messer wahllos in seine Beine stach, nach seinen Armen, seinem Leib.
"Hör auf! Verdammt nochmal - hör doch endlich auf", Eginos Stimme klang schrill und verzweifelt, er versuchte sich mit letzter Kraft vor den Hieben zu schützen, in dem er nach ihr trat. Und ein Fuß landete unter ihrem Kinn, Ruth biss sich in die Zunge, Frau Deggelmann kam, ungläubig rufend, in großen Schritten herbei geeilt: "Bei Gott nochmal, was ist nur in dich gefahren", aber da drehte sich Ruth beiseite, um den Tritten auszuweichen, verlor das Gleichgewicht, stützte sich mit der Hand, die das Messer schwang, auf dem Boden ab, knickte ein und fiel mit dem Hals in die Schneide. Benommen lag Egino in der Schwärze, stöhnend und erschöpft vom Treten, sein Hemd verfärbt und seine Augen starrten hinauf in den Himmel, an dem die letzten rötlichen Schlieren verblassten.
Ruth kam röchelnd hoch, stützte sich auf Hände und Knie, unablässig floss der Lebenssaft aus ihrem Hals, rann über das zitternde Kinn, jeder Laut aus ihrer Kehle ging unter in einem glucksenden Gurgeln.
"Maria und Joseph, was ist heute nur für ein Tag, dass er mich so straft", Frau Deggelmann weit nach vornüber gebeugt, mit einer Hand auf Eginos Brust.
"Der Doktor kommt gleich - wo nur Vater bleibt."
Egino griff nach ihrer Hand, flüsterte: "Nehmen Sie doch mein Auto- der Schlüssel steckt."
Doch Frau Deggelmann schüttelte den Kopf, Tränen in den Augen.
"Junge, ich hab doch keinen Führerschein - und selbst wenn ich fahren könnte. Nachts bin ich blind wie ein Maulwurf."
Enttäuscht sackte Eginos Kopf zur Seite, kraftlos rutschten seine Finger aus ihrer Hand und sie ließ es geschehen, wandte sich ihrer Tochter zu. Im dürftigen Licht der Glühbirne sah sie erst jetzt die folgenschwere Verletzung an ihrem Hals.
"Was für eine Qual mit Dir. Nur Scherereien und jetzt auch noch das. Bei Gott, er alleine weiß, warum ich das aushalten musste", Frau Deggelmann zog den Kopf an Ruths Haaren empor, schaute in das fragende Antlitz ihrer Tochter, suchte nach dem Rest von Liebe, den eine Mutter für ihr Kind übrig haben sollte, aber da waren nur vierzehn Jahre Vorwürfe, Scham und Demütigung.
Von der Landstraße her fingerten zwei Lichkegel über die Felder, das Geräusch des alten Lastwagens jammerte näher. Mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern ließ Vater Deggelmann den alten Benz keine fünf Meter vor den Verletzten stehen, stieg aus und zupfte abwesend an seinem faltigen Adamsapfel.
Stumm trugen Vater und Mutter den mittlerweile ohnmächtigen Egino zum Auto, legten ihn auf die Ladefläche. Frau Deggelmann setzte sich in eine Ecke hinter dem Fahrerhaus, bettete den Kopf des Sterbenden auf ihren Schoß.
Als Vater verharrte und sein Blick zu Ruth hinüber wanderte, die immer noch auf Händen und Knien ruhte, sagte Mutter leise: "Nun fahr schon endlich!"
Auf der Landstraße trat Herr Deggelmann das Gaspedal bis zum Anschlag, seine Arme waren um das große Lenkrad mit dem Knauf geschlungen, als ihnen ein Fahrzeug entgegen kam.
Der Doktor - so spät noch, dachte Vater.