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Sabrina in Buenos Aires
Ich hätte nie gedacht, dass einmal jemand für mich weinen würde. Keiner meiner Ex-Freunde hat je eine Träne vergossen, als ich mit ihnen Schluss gemacht habe. Und so war es auch an diesem Tag am Flughafen, auch wenn der Abschied nicht für immer sein sollte.
Karl hatte mich zum Flughafen gebracht. Er studierte Jura, ich Wirtschaft. Wenn mich damals jemand gefragt hätte, dann hätte ich gar nicht sicher sagen können, ob ich ihn überhaupt liebte. Er hat mir halt gefallen, weil er so selbstbewusst herüberkam und mich auf einer Jura-Party ganz dreist angesprochen hatte. Schick in weiß gekleidet, im Polo-Shirt und mit gegeltem Seitenscheitel. Ein typischer Jura-Student, sicher, aber dass ich das Klischee einer Wirtschaftsstudentin erfülle, wie immer das aussieht, hörte ich auch oft genug. Wir landeten noch am selben Abend zusammen im Bett und irgendwie blieben wir zusammen. Die Chemie hat gestimmt und es tat gut, jemand Festen zum reden zu haben und nicht wie in jedem Seminar einen neuen oberflächlichen Gesprächspartner. Ob es Liebe war, weiß ich nicht.
Und nun stand ich hier in der Abflughalle auf dem Weg nach Argentinien. Im Ausland studiert zu haben, macht sich gut für Wirtschaftsstudenten, und so wollte ich ein Semester an der Universität von Buenos Aires einlegen. Es sollte mein erster längerer Aufenthalt im Ausland werden. Klar hatte ich schon die meisten europäischen Hauptstädte bereist und auf Ibiza jeden Club unsicher gemacht. Aber beim Gedanken daran, wirklich eine Zeitlang im Ausland zu leben, wurde mir mulmig zumute. Dabei wollte ich ja weg. Ich hatte genug vom trüben Deutschland, von der Oberflächlichkeit im Semester und vielleicht auch von mir selbst. Und jetzt Argentinien, Südamerika, eine ganz neue Welt. Was würde mich dort erwarten?
"Wirst du mich vermissen?", fragte mich Karl, während er mich an sich drückte und aufmunternd zu lächeln versuchte. "Ich weiß nicht", entgegnete ich aus Spaß, aber im Grunde war ich mir wirklich nicht sicher. "Wirst du mir treu bleiben?", konterte ich. "Ich weiß nicht", antwortete er grinsend.
Wir verabschiedeten uns - ohne Tränen - und ich ging den Gang hinunter zu meiner Maschine.
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In Buenos Aires bekam ich von der Universität ein Zimmer vermittelt. Ich zog in die Wohnung eines einheimischen Studenten, der bei seiner Mutter wohnte - das ist wohl so üblich in Argentinien. Sein Name war Juanito und er lächelte nicht viel, war fast schüchtern. Eine dunklere Gestalt, klein und etwas pummelig, so gar nicht mein Typ. Aber unglaublich zuvorkommend. Seine Mutter hat bei meiner Ankunft die Hände in die Luft gerissen und "Bienvenido!" gerufen, dann hat sie mich fest umarmt und mir einen dicken Schmatzer auf die Wange gegeben. Irgendwie nett. "Como te llamas?", hatte Juanito nur gefragt. Wie ich hieße. "Sabrina", hatte ich geantwortet.
"Sssabrrrina" rollte die Mutter lachend aus der Küche. Ich mochte sie sofort, während ich mir bei Juanito weniger sicher war. "Ich werde dir die Stadt zeigen", versprach er mir auf Spanisch. "Heute Abend gehe ich raus mit meinem Freund Veron. Wir gehen tanzen in eine Tangobar. Magst du uns beide begleiten?", fragte er. Claro, antwortete ich, obwohl ich von der Reise noch müde war. Aber schlafen konnte ich immer noch später. Das hier war etwas Anderes, etwas völlig Neues und irgendwie vergaß ich darüber alles Andere.
Veron war das genaue Gegenteil von Juanito. Warum sie überhaupt befreundet waren, verstand ich nicht so schnell. Veron war schlank und ungewöhnlich groß für einen Argentinier. Er küsste mich zur Begrüßung auf die Wange und rief laut und strahlend "Hola Senorita". Er wich mir den Abend kaum von der Seite, legte oft wie zufällig seinen Arm um meine Schultern und forderte mich immer wieder auf, mit ihm Tango zu tanzen. Als der Abend vorbei war, spürte ich, dass er mehr wollte, aber ich hielt ihn zurück und gab ihm nur einen Kuss auf die Wange. Dabei hätte ich nichts dagegen gehabt, mit ihm mitzugehen. Doch ich wollte es ein wenig spannender machen; außerdem glaube ich, dass es unhöflich gegenüber Juanito gewesen wäre. Erst auf dem Weg nach Hause, bei dem mein Gastgeber und ich uns kaum unterhielten, fiel mir auf, dass ich keinen einzigen Gedanken an Karl verschwendet hatte.
Wir drei gingen von da an fast jeden Abend aus. Ich lernte viele von Juanitos und Verons Freunden kennen und sogar ein wenig Tango zu tanzen, weil alle darauf bestanden, es mir beizubringen. So vergingen die ersten Wochen wie im Fluge. Ich glaube, ich war öfter abends raus als an der Uni, aber das bereute ich keinen Augenblick lang. Veron warb weiter jeden Abend um mich, und ich ließ ihn immer noch zappeln. Ich erzählte ihm von Karl, was ihm völlig egal zu sein schien. Er versuchte es jeden Abend wieder und schien langsam enttäuscht zu sein, dass ich ihn nicht ran ließ. Insgeheim genoss ich seine Verzweiflung, aber lange wollte ich ihn nicht mehr warten lassen - Karl hin oder her.
Wer war eigentlich Karl, fragte ich mich eines Abends, als ich schon mehrere Wochen aus Deutschland weg war. In der ersten Woche hatten wir noch zweimal telefoniert, nur kurz, weil die Verbindung so teuer war. Danach rief er nicht mehr an. Einmal kam noch ein Brief, der mit den Worten "Hoffe es geht dir auch gut, ich gehe noch viel raus. Lass es dir gut gehen." endete.
Ich vermisste Karl kein bisschen. Dafür hatte ich mir in Buenos Aires schnell einen Freundeskreis aufgebaut. Auch mit Juanito verstand ich mich inzwischen gut. Er wurde wie ein Bruder für mich. Wir unterhielten uns viel auf dem Weg zum Tanzen oder von dort zurück. Nur wenn wir mit unseren Freunden zusammen waren, kam ich kaum dazu, mich mit ihm zu unterhalten. Irgendetwas war immer noch mystisch an ihm und nie unterhielten wir uns über Veron. Dabei hätte ich Juanito gerne von meinen Gefühlen erzählt, denn inzwischen hatte ich mich bis über beide Ohren in Veron verknallt.
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"Und wie lange geht das schon?", löcherte ich Karl am Telefon. "Na ja", sagte er leise und versuchte dabei unschuldig zu klingen. "Wo die Liebe eben hinfällt..." - "Wie lange?", hakte ich nach, nun mit mehr Nachdruck. "Ich hab sie auf dieser WG-Party kennen gelernt. Erst wollte ich ja nicht, aber dann habe ich gedacht, wenn du dir da drüber ein schönes Leben machen kannst, kann ich das auch!" Als wolle er mir die Schuld geben. Ich kochte innerlich, doch ich blieb kühl. "Wie lange?" fragte ich noch einmal mit drohender Stimme.
"Zwei Wochen nachdem du geflogen bist", flüsterte er schließlich, als würde das seine Worte weniger hart klingen lassen. Ich musste mich sammeln und zwingen, nicht laut loszubrüllen. Dann fiel mir wieder ein, wo ich hier war. In Argentinien hielt keiner mit seinem Zorn hinterm Berg. Was einem gegen den Strich ging, das sagte man gerade heraus.
"Du mieses Schwein", hörte ich mich nach einer kurzen Pause in den Hörer brüllen, so laut, dass Juanito und seine Mutter erschreckt ihre Köpfe durch den Spalt der Küchentür steckten. Ich hörte ein dumpfes Geräusch am anderen Ende der Leitung und glaubte, Karl war der Hörer aus der Hand gefallen. "Nur zu deiner Information:", schrie ich weiter, "Ich bin dir die ganze Zeit treu geblieben. Obwohl ich genug Gelegenheiten hatte, Sex mit anderen zu haben. Ich hoffe, du versauerst mit deiner Schlampe. Ich will dich nie wieder sehen!" Damit knallte ich den Hörer auf die Gabel und schrie den ganzen Zorn aus mir heraus. Ich war nun so weit. Ich wollte mit Veron schlafen.
Als wir an dem Abend rausgingen, war Veron auf einmal wie verändert. Er begrüßte Juanito mit einer Umarmung, aber mir nickte er nur kurz zu. Dann verschwand er in der Gruppe unserer Freunde. Ich tanzte und unterhielt mich mit anderen Freunden und sah Veron den ganzen Abend nicht. Erst als wir gehen wollten und ich die Tangobar noch einmal nach ihm absah, sah ich ihn plötzlich in einer dunklen Ecke mit einer Einheimischen stehen. Er sah sie verschwärmt an, dann küsste er sie. Als er mich sah, warf er mir einen geringschätzigen Blick zu, wie um zu sagen: "Du hast zu lange gewartet, Baby. Jetzt habe ich mir eine andere genommen."
Ich wollte nur noch weg. Weg aus dem Lokal, weg von Buenos Aires, weg aus Argentinien, nur irgendwo hin, wo ich keinen Menschen mehr sehen musste. Ich nahm Juanito bei der Hand und zog ihn mitten im Gespräch mit nach draußen. "Komm, wir gehen", rief ich ihm zu, während er hinter mir herstolperte. Die anderen lachten.
Auf dem Weg nach Hause schwiegen wir und sahen uns nicht einmal an. Mir war klar, dass er genau über Veron und seine Neue Bescheid wusste. "Warum hast du mir nichts gesagt?", fragte ich endlich, als wir unser Haus erreichten. Juanito dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete: "Ich dachte, er wäre mutig genug, es dir selbst zu sagen. Er ist kein guter Freund von mir, weißt du?" Ich sah ihn verblüfft an: "Was?" - "Er behandelt Frauen immer so, wenn sie ihn nicht ranlassen. Aber bei dir hat er es wirklich lange versucht. Ich glaube, er mochte dich wirklich, aber du hast auch nie gezeigt, dass du was für ihn übrig hast."
Er hatte Recht und ich kam mir mit einem Mal so dumm vor. Nun stand ich hier, tausende Kilometer von zuhause und hatte sowohl Karl als auch Veron verloren. Aber trotzdem fühlte ich mich nicht alleine, denn Juanito stand mir bei. Juanito, der so etwas wie ein großer Bruder für mich geworden war. Wir schlichen uns durch das Schlafzimmer seiner Mutter auf den Balkon, von wo aus wir die Sterne beobachten konnten. Wir legten uns auf eine Liege, er drückte mich fest an sich und ich weinte wie ein Schlosshund. Wenig später schliefen wir ein, Arm in Arm und Kopf an Kopf. "Sabrina", hörte ich ihn im Halbschlaf sagen. "Du bist erwachsen geworden."
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Die letzten Wochen vergingen wie im Flug. Ich sah Veron noch ein paar Mal, aber ich habe nie wieder mit ihm gesprochen, auch wenn es von innen wie wild gegen meine Brust klopfte, wenn ich ihn sah. Ich ging nur noch selten in die Tangobar und versuchte stattdessen ein paar Scheine an der Uni zu machen. Juanito nahm mich an den Wochenenden mit auf Reisen durch Argentinien, ans Meer und zu seinen Verwandten. Und ehe ich es mich versah, war der große Tag meines Abschieds da.
Ich werde es wohl nie mehr vergessen. Ich stand mit gepackten Koffern im Flur meines neuen Zuhauses. Ich trug meinen Mantel, draußen wartete schon das Taxi, das mich zum Flughafen bringen sollte und mir gegenüber standen Juanito und seine Mutter, schüchtern und dunkel der eine, lebhaft und unfreiwillig mit den Händen rudernd seine Mutter. Und dann passierte es.
Erst war es nur ein leises Schluchzen aus Juanitos Hals, bevor er das Gesicht verzog, als hätte er auf etwas Saures gebissen. Zunächst versuchte er seine feuchten Augen noch zu verbergen, doch dann kullerten die Tränen aus seinen Augen wie gläserne Murmeln. Juanito weinte, weinte Krokodilstränen und verbarg sie nicht. Auch seine Mutter weinte nun und wenig später stimmte auch ich mit ein. Am Ende lagen wir drei uns in den Armen und hielten uns ganz fest. "Sabrina", schluchzte er zum Abschied. "Du hast endlich erkannt, was Freude ist."
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Nun sitze ich im Flugzeug und kann nur noch an Buenos Aires denken. Ich denke nicht mehr an Marketing, Kostenrechnungen oder Arbeitslosenzahlen. Ich denke an Tango, an Musik, die leichte Art zu leben, an Veron und an Juanito. Vor allem an Juanito. Ich glaube, ich habe ihn die ganze Zeit geliebt ohne es gemerkt zu haben, ihn, der so gar nicht mein Typ ist. Aber das Gute ist, dass der schöne Traum noch nicht zu Ende ist. Nein, er fängt gerade erst an. Ich bin auf dem Weg nach Deutschland – in eine ganz andere Welt mit anderen Leuten, anderen Sorgen und einem neuen Leben. Was wird mich dort erwarten?