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Sachliche Einsamkeit
Er rief sie an und fragte, was sie mache und als sie sagte, ihr ginge es nicht besonders, da schwieg er betreten. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie wusst nicht, was sie hören wollte. Im Laufe des Gesprächs fanden sie den Zugang zueinander nicht mehr und sie wünschte, er wäre hier und nicht dort.
Was kann ich tun, fragte er und sie schwieg. Ihr fiel nicht ein, was er wirklich tun konnte.
Während sie traurig 400km voneinander entfernt in die stummen Telefonhörer lauschten, schrieb sie auf den karierten Block neben dem Telefonbuch:
1 Schale Cornflakes mit Milch
1 Banane
2 Tassen Kaffee
1 Teller Spinat
1 Ei
Sie wusste nicht, wie viel Energie diese Lebensmittel hatten, aber es kam ihr ausreichend wenig für einen Tag vor.
Als er nichts sagte und sie hängen blieben, in einer Situation, die aufgefüllt war von unaussprechlichen Gefühlen, da strich sie ganz behutsam, mit einem sehr geraden Strich, das Ei aus der Liste. Dann legte sie auf.
Ihre Listen wurden akribischer, aber auch liebevoller. Sie bemühte sich um eine saubere Handschrift, wenn sie sorgsam Soll und Haben miteinander verglich oder sich abends zurechtlegte, was sie am nächsten Tag nicht überschreiten wollte.
Mike traf sie zufällig, er lud sie auf ein Glas Wein ein.
Dass sie sich später küssten, hatte sie nicht gewollt, dennoch bat sie ihn zu bleiben, doch er ging und sie verstand.
Als sie die Tür leise schloss und seine Schritte im Treppenhaus verklungen waren, drehte sie sich langsam zum Spiegel um und sah lange hinein. Sie versuchte, sich nicht zu rühren.
Ihr Spiegelbild starrte sie an und irgendwann musste sie wegsehen. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte ihr jemand erzählt, wenn man lange in den Spiegel sieht, sieht man den Teufel.
Sie wollte den Teufel nicht sehen.
Sie bekam Angst.
An diesem Abend klickte sie sich auf der Suche nach dem genauen Energiewert einer Brezel durch das Netz und stieß auf ein Diät-Forum.
Kinderriegel sollte man besser gar nicht kaufen, da sie so lecker sind, dass man es nicht schafft, höchstens eine Kammer am Tag zu essen, las sie dort.
Eine Brezel hatte 200 kcal und sie erschrak.
Er rief sie an und fragte, wie es geht, und sie sagte gut. Dann schwiegen sie. Sie dachte an Mike. Als er fragte, wie die Arbeit klappt, schweifte sie ab und erinnerte sich, an das Missgeschick, das ihr gegenüber ihrem Chef unterlaufen war. Sie hatte einem unbekannten Kunden interne Informationen zu einem Projekt weitergereicht.
Als sie, vor schlechtem Gewissen hochrot, ihrem Chef die Situation erklärte, merkte sie, wie er sie anstarrte. Sie wusste, er hielt sie für unfähig.
Als er den Vorfall leichtfertig abtat, fühlte sie sich idiotisch.
Sie sagte, es war schon ok, und meinte, sie glaube nicht an sich und als er fragte, warum sie so traurig klinge, fauchte sie ihn an, sie sei eben müde.
Als sie aufgelegt hatten, malte sie den Stern auf dem Notizblock aus, den sie während des Gesprächs gedankenverloren gezeichnet hatte. Sie zog nachdenklich Linien auf das Blatt und riss es schließlich vom Block.
Dann schrieb sie:
¼ Liter Milch
250 gr Broccoli
½ Apfel
1 Handvoll Cornflakes.
Im Internet suchte sie die Kalorienwerte zusammen, die sie nicht auf der Packung fand. Dann stellte sie das Essen auf dem Küchentisch bereit und ging ins Bett.
Am nächsten Morgen verschlief sie, vergaß das Frühstück und war stolz.
Sie traf Mike um vier und um fünf küssten sie sich. Als er ging, warnte er sie, sich nicht in ihn zu verlieben und sie strich für den nächsten Tag die Cornflakes.
Abends aß sie Broccoli und hatte noch Hunger. Sie trank einen Liter Tee.
Als er anrief, weinte sie. Er fragte: "Was kann ich tun?", und sie bat ihn: „Komm her.“ Und er kam.
Als er sie sah, schimpfte er und sie weinte, sie könne es nicht verstehen, sie könne einfach nicht mehr, sie mache kaum etwas richtig.
Er kochte Nudeln. Sie schüttelte den Kopf.
„Schluss mit der Barbiescheiße jetzt!“ Er schimpfte und wusste nicht, was er tun sollte. Sie wusste, dass sie ihn liebte und da nahm sie einen Bissen, damit er sich beruhigte.
Als er ging, strich sie zum Ausgleich für zwei Tage die Milch.
Sie glaubte, wenn er bei ihr sein könnte, würde es besser, aber als sie sich mit Jana traf und versuchte ihr zu erklären, sagte diese, sie solle froh sein, allein leben zu können, immer nur zu zweit ist auch nicht schön.
Da wurde sie unsachlich und fragte, was so falsch daran sei, nicht einsam sein zu wollen. Sie fühlte sich idiotisch dabei, und war froh, als Jana ging.
Er rief sie regelmäßig an und richtete es ein, jedes zweite Wochenende zu kommen. Sie versuchte es gut zu finden und ihm zu danken.
Einmal fragte er sie, was sie gegessen habe. Sie schwieg eine Weile, dann versuchte sie erwachsen zu sein und ihm alles zu erklären.
Er hörte ihr zu und sie redete sich warm.
„Ich glaube, ich will einfach, dass mich jemand sieht!“ sage sie am Ende, sicher, die richtigen Worte gefunden zu haben.
Er zog die Luft hörbar ein, dann sagte er:
„Tut mir leid, aber du bist nicht 15!“
Er hatte gar nichts kapiert. Ihre Enttäuschung behielt sie für sich und auch ihre Kalorienpläne.
Den ersten Kinderriegel seit drei Wochen verschloss sie ebenso behutsam, wie sie ihn geöffnet hatte und legte ihn im Kühlschrank hinter die unangerührte Eierpackung, um ihn nicht sofort sehen zu müssen, wenn sie sich Wasser nahm.
Als Mike zwei Wochen nicht aufgetaucht war, versuchte sie ihn zu streichen wie den Käse und das Brot.
Doch dann kam er einfach so und verwirrte ihr Herz. Ihre Kräfte waren ihr abhanden gekommen – sie wusste tatsächlich nicht warum, und sie erlaubte ohne jeden Stolz, was sie sich wünschte. Sie wusste und akzeptierte still, dass er, was sie taten, mit seiner Freundin hätte tun wollen, die 700 km entfernt ihr Auslandssemester verbrachte.
Als er ging, wusste sie, dass sie ihren besten Freund verloren hatte.
Sie rief ihn an und versuchte ihm zu erklären, dass sie nicht weiter wusste, er konnte ihr nicht helfen. Ihre Einsamkeit erschien ihr wie ein Wolkenkratzer.
Am Ende verließ sie ihn. Sie legte den Telefonhörer behutsam in die Schale und überhörte, dass er sie zu erreichen versuchte.
Statt dessen nahm sie den halben Apfel und das Knäckebrot, das sie für den nächsten Tag bereitgestellt hatte, behutsam vom Tisch. Als sei es chinesisches Porzellan, legte sie das Essen in seine Packung und in den Kühlschrank zurück.
Sie legte einen Beutel schwarzen Tee auf den Tisch und wählte ihre schönste Tasse. Darauf stand „Simon“ und sie wusste, es war idiotisch, aber es sah ja niemand.