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Sag "sela" und küss den Schmerz
Sie muss schnell sein, oder es sind mehrere. Ich sehe sie nie in flagranti. Nur wenn mein Blick vom Bildschirm fällt sehe ich neue Spinnenweben, der ganze Raum erschlossen. Es muss etwas mit der Zeit nicht stimmen, soweit bin ich mir sicher und streiche meine Arme frei. Der Schreibtisch, das Bett, die Bücher: alles überzogen. Das Saxophon, das Schlagzeug, die Gitarren: alles verhüllt. Der Blues ist vergessen, der Rock schon lange tot, und auch Punk ist nicht mehr meine Politik. Vielleicht haben sie die Pflastersteinwurfmaschine schon erfunden, ich erinnere mich vage an Blaupausen. Auch die Fotos und Bilder an den Wänden, die behaupten ich hätte mal gelebt, sind kaum noch zu erkennen.
Ich gieße Wein in mein Herz und bestäube die tropische Luft, die eingegangenen Pflanzen lassen sich mit Wein nicht zurückholen.
Ob es die Sonne noch gibt? Draußen feiern sie eines ihrer Feste. Irgendwo da müssen auch meine Erzeuger sein. Und meine Geschwister, deren Namen ich nicht weiß. Vielleicht haben sie inzwischen Nummern.
Damals im Wald hast du gesagt, du würdest meinen Schmerz küssen. Küsst du dich gerade selber? Denn weder geht von mir eine Wirkung aus, noch bin ich eine Ursache.
Damals, als wir Sterne pflückten, hast du gesagt, dass du mir helfen wirst die Scherben zu finden. Jetzt kannst du sie wieder ausspucken, ich brauche sie jetzt nicht.
Der fröhliche Geruch des Feierns schleicht sich in mein Zimmer; die Stimmung meiner Mitbewohner ist gleich hinter der Wand, aber doch weit weg von meinem Horizont.
Sektkorken prallen unter Jubel kurz gegen die Wand, erzeugen ein Echo in meiner Leere.
Wenn ich den Fernseher einschallte muss ich davon ausgehen, dass es hinter den Wänden auch nicht so schön ist.
Haben wir schon intelligentes Leben in den Weiten des Universums entdeckt? Haben wir es schon vernichtet? Ist endlich wieder Krieg? Wo bleibt der dritte Antichrist? Könnte sich mal bitte jemand vom Balkon schmeißen? Oder zumindest ein Vogel gegen die Scheibe fliegen? Wo bleiben die Naturkatastrophen, die Terroristen oder wenigstens die Jungs von der GEZ? Sind wir schon verseucht? Schon infiziert? Infiltriert?
Ich öffne das Fenster und halte meine Hand hinaus. Ist das warm oder kalt?
Wie ihr euch fortpflanzt, wie die Kinder und Blumen nachwachsen, wie ihr euch langweilt, wie ihr abwartet, wie ihr fluktuiert, wie ihr woanders seid; all das kann ich hören. Eure Akkordarbeit, eure Präventionen, Promotionen, eure Erfolge, Enttäuschungen, euer Konformismus; da verbarrikadiert ein fetter Klumpen Stagnation die Tür durch die Wand.
Schminke der Depression, kalt wie Rauch, stinkt aus meinen Luken, steigt in eure wohltemperierten Nasen. Wisst ihr noch, wie alt ich bin, war und noch werde? Und ob es vielleicht von Bedeutung sein könnte?
Ein letztes Mal noch küsse ich den Schmerz zärtlich auf die Wange und sage „sela“, zerschlage alle Spinnenweben und stoße die Tür auf.
Auf dass sich die Sonne noch einmal um die Erde dreht. Als dass die Kelche an Babylons domestizierten Affenhuren vorübergehen!