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Salz auf meinen Lippen
Ich habe meine Omi geliebt. Sie machte mir immer Kakao, in einem alten, ausgewaschenen Senfglas, auf dem Ernie und Bert abgebildet waren.
Wenn ich an Omi denke, dann automatisch auch an frische Erdbeeren. Omi kochte die beste Erdbeermarmelade der Welt. Sie starb irgendwann zwischen meinem vierzehnten und fünfzehnten Geburtstag.
In der zehnten Klasse bekamen wir in Geschichte die Hausaufgabe auf, unsere Großeltern zu fragen, wie sie „Freiheit“ im zweiten Weltkrieg erlebt haben.
Dazu hatten wir zwei Wochen Zeit.
Vielleicht lag es daran, dass vor mir schon viele Schüler sagten, sie hätten keine Großeltern mehr. Vielleicht riss dem Lehrer der Geduldsfaden nur zufällig, als ich gerade an der Reihe war. „Ich habe auch keine Großeltern mehr,“ sagte ich ihm und sah an dem Lehrer vorbei, auf einen imaginären Punkt an der Wand. „Warum nicht?“ fragte er. Ich war irritiert, wurde aus meiner Gedankenwelt gerissen. Hatte er das wirklich gerade gefragt?
„Weil sie gestorben sind,“ sagte ich. Meine Stimme war ganz ruhig. Er sah mich prüfend an.
„Dürfen die das?“
Blitzartig befinde ich mich wieder in dem Schlafzimmer meiner Omi. Dort ist sie gestorben. Dort lag sie zwei Wochen lang. „Es ist nur eine Erkältung,“ sagte sie. Sie wollte nicht zum Arzt. Aus der Erkältung wurde Leberkrebs. Aus der Erkältung wurde Darmkrebs. Vielleicht hätte man noch was machen können, wenn ...
Hätte. Wenn.
Als ich sie das letzte Mal sah, war sie ganz gelb. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, wie ich es immer tat. Sie hatte Erdbeermarmelade gekocht, ich sollte probieren.
„Du solltest dich nicht so anstrengen,“ dachte ich, aber das konnte sie nicht mehr hören. „Es ist die beste Marmelade der Welt,“ sage ich also stattdessen zu ihr, wie ich es früher immer gesagt habe.
Es war das letzte Mal, dass ich Erdbeermarmelade aß. Ich probierte sie noch einmal, Jahre später, aber es kam mir vor wie Verrat.
Ich konnte nicht weinen, als sie starb. Ich wollte es nicht wahrhaben.
Die Tränen flossen das erste mal auf ihrer Beerdigung, als der Pastor erzählte, dass sie noch Erdbeermarmelade kochte, kurz bevor sie starb. Ich spürte wie die erste Träne sich ihren Weg an meine Lippen bahnte. Ich spürte das Salz auf meinen Lippen.
All das hätte ich am liebsten meinem Lehrer ins Gesicht gespuckt. Aber das passt einfach nicht zu mir. Ich bin ruhig, gehe Diskussionen lieber aus dem Weg und denke mir meinen Teil. Ich habe mich immer unter Kontrolle.
„Ja, das durfte sie,“ antworte ich ihm deshalb, immer noch ganz ruhig. Innerlich bebe ich. Wut und Trauer brechen über mir zusammen, aber auch die Stärke vor ihm keine Schwäche zu zeigen.
Ich kann mir bestens vorstellen, was der Lehrer denkt: „was für ein emotionsloses Mädchen,wie es über ihre Großeltern redet, als hätten sie ihr nichts bedeutet.“
Aber ich verlasse das Schulgebäude eher als sonst und schmecke Salz auf meinen Lippen.