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Sammelwut
Sammelwut
“Verdammt, Herman!”
Herman Koschinsky zuckte bei den Worten seiner Frau zusammen. Was dann folgte, konnte er nicht verstehen, weil es mehr ein fluchendes Gemurmel war, das aus der Küche durch die geschlossene Badtür an seine Ohren drang.
Der Morgen fing ja gut an. Die Sonne war kaum aufgegangen und schon ließ Ruth kein gutes Haar an ihm. Nachdem Herman sich fertig angezogen hatte, verließ er das Bad.
“Herman, irgendwann breche ich mir noch einmal den Hals”, wurde er von seiner Frau in der Küche empfangen. “Musst du deinen Kram überall liegen lassen? Wie soll ich einen ordentlichen Haushalt führen, wenn du ständig deine Sachen in der Wohnung verteilst?” Dabei deutete sie auf die Dinge auf dem Küchentisch, von denen auch teilweise einige auf dem Boden lagen.
“Es war gestern schon so spät”, erklärte Herman. “Ich wollte es heute gleich wegräumen. Ich konnte ja nicht wissen, dass du so zeitig aufstehst.”
“Was ist das überhaupt wieder für ein Dreck”, giftete Ruth weiter. “Kannst du dir kein anderes Hobby suchen? Warum spielst du nicht Golf, wie andere Herren in deinem Alter auch? Was machst du überhaupt mit dem ganzen Zeug?”
Ruth, noch mit ihrem Morgenmantel bekleidet, stemmte ihre Hände in die Hüften und sah ihren Mann fragend, gleichzeitig auch vorwurfsvoll, an.
“Ich sammle es”, gab Herman kleinlaut zurück.
“Diesen Müll?” Ruth lachte höhnisch. In Herman kochte es. Nur zu gerne hätte er seiner Frau darauf passend geantwortet, aber er verzichtete darauf. Er wollte nicht noch mehr Feuer ins Öl gießen.
“Ja, ich sammle es. Es macht mir eben Spaß”, sagte er nur. Dann ging er zum Tisch, nahm den leeren Karton von einem der Stühle und begann die Sachen darin zu verstauen. Der Blinker eines Motorrads, ein Kugelschreiber, eine rostige Feile, ein defekter Wecker, und viele andere Dinge, denen andere kaum Beachtung schenken würden, oder die achtlos weggeworfen wurden, behandelte er sehr behutsam und legte sie wie kleine Kostbarkeiten in die Kiste. Ruth beobachtete ihn dabei verständnislos und schüttelte ab und an den Kopf.
“Herman, ich verstehe dich nicht mehr”, sagte sie dann monoton. “und seit du Rentner bist, wird es immer schlimmer. Ich frage mich, ob ich nicht einmal mit Doktor Perkins sprechen sollte.”
“Ich brauche keinen Arzt”, erwiderte Herman trotzig. “Ich brauche nur meine Ruhe. Es ist mein Hobby. Sei doch froh, dass ich mich mit etwas beschäftige.”
“Auf jeden Fall möchte ich die Sachen nicht mehr in meiner Wohnung sehen. Ich bin auch nicht mehr die Jüngste und ich habe keine Lust, dir ständig deinen Mist hinterher zu räumen.”
Herman war inzwischen auch mit dem Aufräumen des Bodens fertig geworden. Nun legte er noch den Zettel mit in den Karton, auf dem er alles fein säuberlich katalogisiert hatte. Er packte die Kiste und steuerte den Ausgang an.
“Wo willst du denn hin?”, fragte Ruth verwundert.
“Ich bringe die Sachen in den Keller und dann gehe ich etwas spazieren.”
“Um diese Zeit? Willst du denn kein Frühstück?”
Eine Antwort blieb Herman seiner Frau schuldig. Wortlos zog er hinter sich die Wohnungstür zu. Ein Lächeln der Genugtuung huschte über sein Gesicht mit dem grauen Oberlippenbart. Er wusste, wie sehr es Ruth hasste, wenn man sie einfach wortlos stehen ließ. Aber bis er zurückkehren würde war ihre Wut sicherlich längst verraucht.
Herman schloss die Kellertür auf und betrat sein Reich. An der Decke flackerte eine Neonröhre auf. Mit dem Fuß schubste er die Tür an, und sie fiel leise ins Schloss. Dann stellte er den Karton auf der Werkbank ab, die links an der Wand stand. Zufrieden schnaufte er aus. Sein Blick wanderte über die Regale, die den kleinen Raum einfassten. Er hatte sie selbst gebaut, um seine Fundsachen dort verstauen zu können. Wie ein kleines Museum sah es hier aus, oder wie ein Ersatzteillager für alles. Unzählige Dinge, die andere weggeworfen, verloren oder schlichtweg irgendwo vergessen hatten, befanden sich ringsum in den Fächern. Mit Stolz betrachtete Herman sein Sammelsurium. Fast schon krankhaft musste er einfach alles behalten, was er irgendwann einmal gefunden hatte. Vierzig Jahre lang hatte er bei der American Railway, bei der Gleisinstandhaltung, gearbeitet, wo seine Sammelleidenschaft begann. Am Anfang konnte er sich gar nicht vorstellen, was die Leute alles so aus dem Zug warfen. Aber bei Herman fand manch unnütz gewordenes Ding ein neues Zuhause - und nie trennte er sich wieder von etwas, was er einmal für erachtenswert hielt, in seine Sammlung aufgenommen zu werden.
Als er in Pension ging zogen Ruth und er, des Klimas wegen, von Boston nach Florida. Es bedurfte einer gewissen Überredungskunst, damit er seine Sammlung mitnehmen durfte, aber schließlich konnte er sich doch durchsetzen. Nun hatte er noch mehr Zeit, sich seinem Hobby zu widmen. Ruth konnte seine Begeisterung noch nie teilen, aber das war ihm egal. Er mochte ihre Häkelarbeiten auch nicht - schwieg aber über seine Abneigung. Fast bekam er eine Erektion, als er seine Schätze betrachtete. Mit einem zufriedenen Lächeln verließ er den Kellerraum. Die neuen Sachen würde er später einsortieren.
Von seinem Haus bis zum Strand waren es zu Fuß nur ein paar Minuten. Oft kam er hier her, um seine Seele baumeln zu lassen und ganz besonders liebte er die Spaziergänge am frühen Morgen, so wie heute, wenn er noch ganz alleine hier war. Die Sonne schien, aber es war noch nicht so heiß. Vom Meer her wehte ein leichte Brise und das sanfte Rauschen der Wellen sorgte für Entspannung.
Herman zog seine Schuhe aus und krempelte seine Hosenbeine etwas nach oben. So schlenderte er barfuss, mit seinen Schuhen in der rechten Hand, über den Strand. Er genoss das Gefühl des feinen Sandes zwischen seinen Zehen. Er liebte diese Momente der Ruhe und Besinnlichkeit und trotz seiner 65 Jahre fühlte er sich jung und unbeschwert.
Ein Stück Holz erweckte seine Neugier, das von den Wellen gewogen in Richtung Strand trieb. Immer wieder wurde es von der Strömung erneut hinausgetragen, um mit der nächsten Welle ein Stück näher an den Strand zu kommen. Herman wurde ungeduldig. Er wollte nicht warten, bis ihm das Holz vor die Füße gespült wurde, damit er es sich genauer besehen konnte. Er stellte seine Schuhe ab und ging dem Fundstück entgegen. Seine Hose wurde nass, als er bis zu den Waden im kühlen Wasser stand. Er hob das Holz auf und ging damit zurück zum Strand. Nun nahm er es in beide Hände und betrachtete es genauer. Ein flaches, fast schwarzes und morsches, Stück Holz. Vielleicht ein Stück einer Schiffsplanke, dachte er. Gut konnte man die Bruchstellen an beiden Enden erkennen. Sicher war es ein Teil eines Schiffes, welches schon seit Jahren, ja vielleicht seit Jahrzehnten, auf dem Grund des Meeres ruhte. Nun hatte sich dieses Teil gelöst, war an die Oberfläche gestiegen, nur um von ihm gefunden zu werden. Herman Koschinsky gefiel dieser Gedanke, und sofort war er wieder in seinem Element.
Seine Phantasie schweifte und er malte sich aus, welches Geheimnis sich wohl hinter diesem unscheinbar wirkenden Stückchen Treibgut verbarg. Welches Schicksal mag dieses Schiff - und seine Besatzung - erlitten haben. Ein Sturm, der das Schiff auf den Klippen zerschellen ließ? Piraten, die es einst nach erfolgreicher Kaperfahrt versenkten? Womöglich wurde es aber auch Opfer des geheimnisvollen Bermuda-dreiecks? Herman schauderte es bei dem Gedanken. Auf jeden Fall würde das Teil einen Ehrenplatz in seiner Sammlung bekommen.
Was war das? Herman schaffte es nicht seine Finger zu lösen. Als hätte man es ihm mit Sekundenkleber daran befestigt hielt er das Holz umklammert. So sehr er sich auch mühte, aber seine Finger blieben steif, wie bei einem schlimmen Gichtanfall. Er versuchte sich zu konzentrieren. Aber auch unter der größten Anstrengung gelang es ihm nicht, seinen Griff zu lockern.
Herman begann zu schwitzen. Suchend sah er sich nach Hilfe um, aber niemand außer ihm befand sich um diese Zeit am Strand. Er überlegte, ob er rufen sollte, damit ihm jemand zu Hilfe kam - dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Irgendwie war ihm seine Situation peinlich. Sicher nur ein Krampf, versuchte er sich zu beruhigen. Es wird sicher nicht lange anhalten. Ein schmerzhaftes Stechen in seinem Rücken ließ ihn sich aufbäumen.
“Oh, mein Gott! Was ist das?”, presste er hervor. Herman beschloss nach hause zu laufen. Ruth würde ihm sicherlich helfen können. Zumindest konnte sie notfalls den Arzt rufen. Sein Magen krampfte sich zusammen, als hätte er einen Faustschlag bekommen. Unwillkürlich beugte er sich vornüber. Die hastige Bewegung trieb ihm die nächste Schmerzwelle durch sein Kreuz. Herman versuchte zu laufen. Seine Beine fühlten sich schwer und steif an. Es bereitete ihm große Mühe vorwärts zu kommen. Wie ein Betrunkener torkelte er über den Strand. Ein Ziehen in seiner Leistengegend zwang ihn anzuhalten. Herman kam es so vor, als würden seine Genitalien gepackt und zusammengedrückt. Eine schmerzhafte Erektion machte sich bemerkbar. Herman stöhnte. Ihm blieb die Luft weg, was ein Schreien unmöglich machte. Dann entlud sich eine brennende Ejakulation in seine Unterhose. Ihm war, als würde seine Eichel in Flammen stehen und zerreisen. Seine Knie gaben nach und während seine Hoden auf die Größe von Haselnüssen schrumpften, sackte er zusammen. Wadenkrämpfe trieben ihm noch mehr Schweiß auf die Stirn. Sein Genick schmerzte, wie nach einem Schlag mit einem Baseballschläger. Ein Druck breitete sich in seiner Brust aus, wurde immer stärker, so dass es ihm schwer fiel, überhaupt Luft zu holen. Erschöpft kippte er vorne über und landete mit seiner linken Gesichtshälfte im Sand. Sofort versuchte er wieder aufzustehen - vergebens. Sein gesamter Körper schien steif zu sein und so blieb er in seiner skurril anmutenden Stellung liegen. Herman lag, seinen Kopf zur Seite gewandt, auf dem Bauch - sein Fundstück, immer noch umklammernd, unter seinem Oberkörper vergraben. Da er seine Beine nicht mehr ausstrecken konnte, befand sich sein Unterkörper auf den Knien, den Hintern in die Höhe gestreckt. Unglaubliche Schmerzen durchfluteten seinen Körper. Herman versuchte erneut zu schreien, aber mehr als ein Röcheln brachte er nicht zu Stande. Aus seinem halb geöffneten Mund rann Speichel aus dem Mundwinkel und versickerte im Sand. Der Druck in seiner Brust nahm zu und ließ nur einen flachen, hechelnden Atem zu. Ein Schlaganfall, fuhr es Herman durch den Kopf. Nun hat es dich also auch erwischt. Panik überkam ihn bei dem Gedanken, hier am Strand hilflos zu sterben. Er dachte an seine Ruth, die nichtsahnend zuhause am Frühstückstisch saß und auf ihn wartete. Tränen liefen ihm übers Gesicht, vermischten sich mit dem Speichel im Sand. Die Haut in seinem Gesicht und auf seinen Armen bekam Falten, wie bei einem runzligen Apfel. Als wäre sie ihm zu eng, spannte seine Haut am ganzen Körper. Der Schmerz, der dieses Phänomen bekleidete, ließ ihn noch schneller atmen. Dann bildeten sich Risse in den Falten und die Haut platzte an tausend Stellen auf. Helles Fleisch kam zum Vorschein, aber seltsamerweise bluteten die kleinen Wunden nicht.
Kleine, feuchte Augen blickten ängstlich umhersuchend aus einem von Schnitten zerfurchten Gesicht. Die Schmerzen trieben ihn fast in den Wahnsinn. Herman vermochte nicht zu sagen, welcher Körperteil ihn am schlimmsten malträtierte. Sein gesamter Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen. Der Ohnmacht nahe rollten seine Augen in den tiefen Höhlen.
Dann wurde seine Haut grau, an manchen Stellen auch dunkler, fast braun, und trocken. Über seinen Augen bildete sich ein weißer Schleier. Nur noch schemenhaft konnte Herman seine Umwelt wahrnehmen. Sein Atem wurde langsamer. Die Färbung seiner Haut ging nun langsam in ein tiefes Schwarz über. Sein Atem erstarb. Drei schwache Schläge noch, dann blieb auch sein Herz stehen. Ruth..... Sein letzter Gedanke verhallte in der Unendlichkeit.
Es begann mit einem Knacken. Dann, als würde mit einem Vakuumiergerät die Luft aus einer Bierdose gesaugt, zog sich das schwarze, zerfurchte Gebilde zusammen und verformte das, was einmal ein menschlicher Körper gewesen war zu einer Karikatur seiner selbst.
“Sieh mal, Mami”, rief der sechsjährige Timmy. “Sieht dieser Baum nicht seltsam aus?”
Timmys Mutter blieb stehen und sah nach ihrem Sohn.
“Ja, richtig”, erwiderte sie. “Was könnte das nur sein?”
“Sieht es nicht wie ein Tier aus?”, fragte Timmy.
“Mit etwas Phantasie könnte man es durchaus für ein Tier halten”, gab die junge Frau zu.
“Ich finde es sieht aus, wie ein Seelöwe.”
Timmy trat näher an das seltsam aussehende Stück Holz. Seine Mutter blieb neben ihm stehen und legte ihre Hand auf seine Schulter.
“Jetzt wo Du es sagst, kann ich es auch ganz deutlich erkennen”, gab sie zu und lächelte Timmy an. Die Flut hatte eingesetzt. Der Meeresspiegel stieg und das Wasser umspielte nicht nur den eigenartigen Baumstumpf, sondern auch die Füße von Mutter und Sohn.
“Warum ist das Holz so schwarz?”, wollte Timmy wissen.
“Nun”, begann die junge Frau. “Sicher hat es sehr lange auf dem Meeresgrund gelegen, wo es langsam verfault ist. Dann haben sich Gase im Inneren gebildet, die das Holz an die Oberfläche trieben. Die Strömung hat es dann hier an den Strand gespült.”
Timmy schubste den Stamm an. Er war nicht schwer und fiel leicht zur Seite.
“Wollen wir es wieder schwimmen lassen?”
Die Frau legte ihre Stirn in Falten.
“Ach bitte, ja?”, drängte Timmy.
“Na gut”, gab die Mutter lächelnd nach. “Schicken wir den hölzernen Seelöwen auf große Reise.”
Dann packten beide das Holz und zogen es in tieferes Wasser. Es war wirklich nicht sonderlich schwer und schwamm auf den kleinen Wellen auf und ab. Die junge Frau gab dem Stamm noch einen letzten Stoß, bevor sie mit Timmy zum Strand zurückging.
Längst war das seltsame Gebilde von der Strömung erfasst worden und trieb auf das offene Meer hinaus.
“Mach´s gut”, winkte ihm Timmy noch nach. “und grüß mir die Fische!”
“Komm, wir müssen weiter”, sagte seine Mutter dann. “Dein Vater wartet sicher schon auf uns.”
Timmy nickte und folgte seiner Mutter, während Herman Koschinsky am Horizont verschwand.
Fast wäre Bruce Baxter über die Schuhe gestolpert, die halb aus dem Sand ragten. Ein anderer wäre vielleicht einfach weiter gegangen, ohne den Schuhen besondere Beachtung zu schenken, aber nicht Bruce Baxter.
Neugierig zog er die Schuhe aus dem Sand. Dann sah er sich um, ob sich irgend jemand in der Nähe befand, dem sie vielleicht gehörten. Aber außer ihm war niemand hier. Wieder blickte er auf die schwarzen, eleganten Schuhe in seiner Hand. Er schüttete den Sand aus und blies den Staub von ihnen. Was er sah gefiel ihm. Ein paar schöne Schuhe, die bestimmt ein paar Dollar gekostet hatten. Er wischte mit seinem Ärmel darüber und musterte sie genauer. Die Größe könnte hinkommen. Zur Sicherheit hielt er sich den rechten Schuh an seinen Fuß. Kein Zweifel - die Schuhe würden passen. Noch einmal sah er sich um, bevor er seine Nase in die Schuhe steckte und an ihnen roch.
Er war angenehm überrascht. Er konnte keinen Geruch von Käsefüßen feststellen. Sicher waren die Schuhe nicht oft getragen worden. Was die Leute so alles wegwerfen, dachte Bruce, als er sich die Schuhe mit einem zufriedenen Lächeln unter den Arm klemmte. Aber für solche Fundsachen waren Leute wie er ja immer dankbar...