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Samstagabend
Sie hasste es, Samstagabend alleine zu sein. Es gab ihr ein Gefühl der Unruhe, das sie nicht näher beschreiben konnte. Sie hatte doch nicht mit ihren Eltern mitgewollt, weil es so viel zu tun gab. Klausuren standen an, Projekte und Referate… Das Wochenende wäre vergeudet, wenn sie es in aller Ruhe mit den Eltern auf dem kleinen Gartengrundstück verbringen würde, statt sich den Schularbeiten zu widmen.
Lily streckte sich und tastete dann mit der Hand ihren Nacken ab. Konnten Muskeln überhaupt so stark verhärten? Sie war sich nicht sicher. Vielleicht war sie ja ein medizinisches Wunder. Sie versuchte eine Weile die Anspannung durch Druck zu lindern, gab dann jedoch seufzend auf. Selbstmassage war noch nie eines ihrer Talente gewesen. Dafür aber Mathematik, der sie sich wieder zuwenden sollte, wenn sie das Wochenende nicht tatsächlich ungenutzt verstreichen lassen wollte. Lily flog kurz noch einmal über die Aufgabe und gab einen Laut der Erschöpfung von sich. Mehr als zwei Stunden saß sie jetzt schon über ihren Büchern. Und war der Lösung auch nach sieben Blatt Papier und etwa einer Million wüsten Formeln nicht näher gekommen. Vielleicht sollte sie schlafen gehen und Sonntag früh weiter arbeiten. Es war schon fast Mitternacht.
Aber Lily kannte sich. Morgen früh würde sie zerknautscht und lustlos aus dem Bett krabbeln, sich erst mal eine Weile mit einer Schüssel Haferflocken vor den Fernseher hocken und zwischen Dauerwerbesendungen und Telenovela-Widerholungen hin- und herschalten, bis sie dann irgendwann gegen Mittag aufgab, etwas Unterhaltsameres als Staubsauger zu finden. Nein. Jetzt, am Abend, da war sie in Höchstform. Sie konnte gleichzeitig Bilder für ihr Chemiereferat einscannen, an einer Interpretation von Heine arbeiten und nebenbei den Geschichtshefter für die bevorstehende Klausur auswendig lernen. Es machte sogar irgendwie Spaß, so beschäftigt zu sein. Sie liebte das Lernen. Und sie gehörte zu der seltsamen Spezies von Teenagern, die gern zur Schule ging. Zumindest meistens.
Nur jetzt, an einem Samstagabend, an dem andere Schüler sich in Bars trafen oder ins Kino gingen und ihre Eltern die Woche gemütlich vor dem Kamin in ihrem Garten ausklingen ließen... Da wünschte sich Lily, sie könnte einfach alles liegen lassen und ausspannen. Mal wieder mit dem Fahrrad eine lange Tour machen, so richtig mit einem Rucksack voll Proviant und den ganzen Tag unterwegs sein. Das wär’s. Wenn sie alles zusammenrechnete, kam sie auf eine Arbeitswoche von über fünfzig Stunden – lernen, Hausaufgaben machen und Referate ausarbeiten inbegriffen. Es war wirklich nicht fair. Sie war schon immer überdurchschnittlich gut in der Schule gewesen, dank ihrer Hochbegabung. Aber genau die war es auch, die sie immer wieder dazu antrieb noch mehr zu lernen und noch ehrgeiziger zu sein.
Lily seufzte erneut und legte ihren Stift beiseite. Sie hatte die Nase voll. Sie hatte heute viel mehr schaffen wollen, damit sie morgen ausschlafen konnte. Daraus wurde jetzt wohl nichts mehr. Erneut versuchte Lily, ihren Nacken zu massieren. Es half nichts. Also erhob sie sich von ihrem Schreibtisch und ging in die Küche, um sich einen Tee aufzusetzen. Sie liebte es, spät abends Vanilletee zu trinken. Ihr bester Freund hatte sich regelmäßig darüber lustig gemacht. Lily musste lächeln. Und dann kam ihr eine Idee. Sie ging zurück in ihr Zimmer und griff nach dem Telefonhörer. Auf dem Weg in die Küche wählte sie seine Nummer. Das Signal ertönte monoton an ihrem Ohr. Einmal. Zweimal. Ob er schon schlief? Vielleicht war er auch gar nicht zu Hause…
„Ja?“, meldete sich eine doch eher verschlafene Stimme.
„Hey Benni.“ Lily grinste.
„Na großartig…“, murmelte die Stimme. „Du weißt aber schon, dass es mitten in der Nacht ist?“
Lily zuckte mit den Schultern. Dann fiel ihr auf, dass er das gar nicht sehen konnte.
„Ich mache gerade eine Pause und dachte, du könntest mich ein bisschen ablenken.“ Sie entdeckt einen losen faden an ihrem Pyjama und sah sich nach einer Schere um.
„Von Chemie oder Bio?“
„Mathe.“ Da, neben dem Toaster. Vorsichtig trennte sie das lose Ende ab und ließ es in die Spüle sinken.
„Hätt’ ich mir denken können“, grummelte er. Eine kurze Pause entstand. Lily überlegte, ob Benjamin wirklich verärgert war. Sie kannten sich seit dem Kindergarten und hatten früher einmal nebeneinander gewohnt. In der siebten Klasse war er dann in ein anderes Stadtviertel gezogen.
„Fein“, unterbrach er ihre Gedanken. „Du bist also mal wieder zu Hause. An einem Samstagabend.“
Das klang irgendwie vorwurfsvoll. „Du doch auch.“
„Ich muss ja auch morgen früh zeitig raus.“
„Oh.“ Lily machte für einen Moment ein schuldbewusstes Gesicht. „Der erste Samstag im Monat. Das hatte ich vergessen.“ Benjamin arbeitete in einer Bäckerei und musste regelmäßig am Sonntag die Frühschicht übernehmen.
„Na, mal ganz was Neues.“
„Tut mir echt Leid. Geh’ wieder schlafen. Ich leg auf.“
„Nein, schon okay“, lenkte er ein.
Hatte sie ihn gerade leise lachen gehört?
„Bist du sicher?“
„Jetzt kann ich sowieso nicht mehr schlafen.“
„Na dann…“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Was steht denn bei dir nächste Woche an?“, erkundigte er sich.
„Zwei Klausuren, ein Referat und ein paar Kleinigkeiten. Warte mal kurz…“
Ihr Teewasser hatte inzwischen gekocht. Sie klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, nahm sich eine Tasse aus dem Schrank, ließ den Teebeutel hineingleiten und füllte sie mit Wasser auf.
„Vanilletee?“
„Was?“
„Dein Wasserkocher hat gepiept.“
Lily grinste. „Ja.“
Am anderen Ende der Leitung war ein Lachen zu hören. „Da sind bestimmt Suchtstoffe drin.“
„Wahrscheinlich. Sollte ich also irgendwann mal durchdrehen, wissen wir, woran es liegt.“
„Du bist doch jetzt schon nicht mehr ganz normal.“
Sie lachte. „Endlich bemerkt es mal jemand.“
Vorsichtig nahm sie einen Schluck von ihrem Tee. Er schmeckte leicht süßlich und weich. Sie liebte dieses Gefühl, wenn die Wärme sie von innen ausfüllte.
Benjamin hatte nichts weiter gesagt.
„Was machst du gerade?“, meinte sie nach einer Weile.
„Hm?“
„Du warst so still.“
„Ich hab’ nachgedacht.“
„Worüber?“ Lily machte sich mit ihrem Tee auf den Weg in ihr Zimmer. Sie stellte die Tasse neben dem Bett ab und begann, ihr Bettzeug aufzuschütteln.
„Über uns. Wir sind so unterschiedlich, weißt du.“
Lily nickte. „Ja, schon immer gewesen.“
„Hm?“
„Na ja“, lächelte sie. „Während ich im Kindergarten damit beschäftigt war, aus Bausteinen hohe Türme zu bauen, warst du draußen und hast dich im Matsch gewälzt.“
Benjamin lachte kurz auf. „Und wenn ich dich mit einer Primel überraschen wollte, die ich in mühevoller Arbeit und unter Einsatz meines Lebens aus dem Schulbeet ausgebuddelt hatte, meintest du nur, Primeln könne man nicht in eine Vase stellen.“
Lily erinnerte sich. „Wieso eigentlich unter Einsatz deines Lebens?“
Benjamin räusperte sich. „Der Hausmeister hätte mich beinahe erwischt.“
„Ahh…“ Sie musste grinsen bei der Vorstellung wie er sich als Erstklässler vor dem furchteinflößenden alten Mann versteckt hatte. „Da fällt mir ein – unser erster Tag am Gymnasium. Hast du die Narbe immer noch?“
„Klar“, meinte er und in seiner Stimme schwang ein wenig Stolz mit. „Sie ist ein Zeichen meiner Furchtlosigkeit.“
Lily lachte. „Na sicher.“
„Lach nicht“, gab er gespielt gekränkt zurück. Er hatte damals in ihrer ersten Chemiestunde heimlich etwas von der Säure aus dem Chemikalienschränkchen des Lehrers stibitzt, eine Art Mutprobe, die die anderen Jungs sich ausgedacht hatten. Lily hatte die Flasche nichts ahnend geöffnet und die Flüssigkeit in ihr Reagenzglas gegeben – das Ergebnis waren ein erschrockener Aufschrei, eine komplette Klasse in Aufruhr und eine Verätzung auf Benjamins Handrücken, die eine Narbe zurückgelassen hatte.
„Sag mal…“ Benjamin schien zu überlegen. „Wieso hast du eigentlich nie aufgehört, so sehr um jede deiner Noten zu kämpfen?“
„Ich weiß nicht“, meinte Lily. „So war ich eben schon immer.“
„Einmal bist du weinend aus der Klasse gerannt, weil du eine Zwei bekommen hattest.“
„Na ja…“ Lily wurde rot. „Ich hatte eben so gut gelernt, dass es eine Eins hätte werden müssen.“
„Und wie sieht es heute aus?“
„Was?“
„Weinst du immer noch wegen einer Zwei?“
Lily lachte. „Nein. Aber ich ärgere mich schwarz.“
„Du bist wirklich nicht normal.“
„Mmh.“ Lily seufzte und wurde ernst. „Manchmal wünschte ich mir, ich wär’s...“
„Wie meinst du das?“ Sie hatte fast schon traurig geklungen. Musste er sich Sorgen machen?
„Ich weiß auch nicht. Es ist wirklich toll, soviel zu wissen und eine so gute Auffassungsgabe zu haben. Aber manchmal ist es auch ein Fluch.“
„Bisher hat es dich aber weit gebracht, meinst du nicht?“
„Schon“, gab sie zu. „Aber du bist wegen deiner miserablen Noten nicht an die Decke gegangen. Schau dich an – du hast einfach die Schule abgebrochen und eine Lehre gemacht.“
Benjamin schien zu überlegen, wie er sie aufmuntern konnte, ohne etwas Falsches zu sagen.
„Dafür werde ich nie Chirurgin werden und anderen Menschen das Leben retten können.“
Lily seufzte. „Aber ist es das alles Wert?“
Er schwieg. Sie schien wirklich an sich zu zweifeln. Sie hatte Samstagabende schon immer gehasst, weil sie eben dies bewirkten: Erschöpfung, seelische Müdigkeit und Selbstzweifel.
„Ich meine“, fügte sie hinzu. „Keiner hat mich gefragt, ob ich dieses Talent haben will. Vielleicht wäre es viel leichter für mich, wenn ich nur durchschnittliche Ergebnisse erzielen würde. Dann könnte ich mich über gute Noten freuen, und würde sie nicht so als Muss sehen.“
Erneut herrschte Schweigen zwischen ihnen.
„Vielleicht“, meinte er schließlich leise. „Aber ohne dieses Talent wärst du doch nicht du. Du hast mit deiner Energie und Lebensfreude schon so viel erreicht… Und im Gegensatz zu anderen Hochbegabten bist du kein bisschen arrogant. Es erwartet doch niemand von dir, dass du immer Höchstleistung bringst – außer dir selbst.“
„Mmh...“ Sie schien über seine Worte nachzudenken. Er wartete darauf, dass sie noch etwas sagen würde, doch auf einmal hörte er ein leises Schniefen. Weinte sie?
„Lily?“
„Mh?“
„Ist alles okay.“
„Nein“, meinte sie leise. „Nicht wirklich. Ich…“
Ein gedämpftes Schluchzen unterbrach ihre Worte.
Benjamin biss sich auf die Lippe. Es ging ihr wirklich nicht gut.
„Weißt du“, brachte sie schließlich hervor. „Ich kann doch auch nichts dagegen machen. Ich will mich ja nicht so unter Druck setzen, aber wenn ich jetzt nachlasse, dann bereue ich es vielleicht später.“
„Du darfst nicht immer nur an später denken. Du warst noch nie gut darin, den Augenblick zu genießen...“
Sie schluchzte erneut. „Es ist so hart. Ich kann doch nicht einfach meine Begabung vergeuden. Manchmal wünschte ich mir, so richtig dumm zu sein. Ich hass es. Ich hasse es wirklich.“ Das hatte verbittert geklungen.
Benjamin holte tief Luft. „Du weißt, dass das nicht stimmt.“
Er versuchte, sanft und nicht vorwurfsvoll zu klingen.
„Das ist es ja gerade. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, hundemüde zu sein und trotzdem die Bücher nicht wegzulegen, weil du dich sonst die ganze Nacht mit dem Gedanken quälst, nicht genug gelernt zu haben. Und am nächsten Tag ist dein Kopf wie leer gefegt, weil du zu müde bist. Es ist ein Teufelskreis. Und wenn ich mich beschwere, fühle ich mich so schuldig, weil es da draußen Tausende von Menschen gibt, die gerne mit mir tauschen würden.“ Sie seufzte kurz und fügte dann leise hinzu: „Ich hasse mich dafür.“
Ihr Wortschwall erschrak ihn. Sie hatte noch nie so erschöpft geklungen. Was sollte er ihr sagen?
„Lily, hör mal... Du hast Recht. Ich kann das nicht nachvollziehen. Aber du musst aufhören, an andere zu denken. Nur weil du begabt bist, musst du dich nicht verpflichtet fühlen, alles zu können. Such dir etwas heraus, was du gerne machst – und lass das andere eben sein. Ist doch egal, wenn du dich da nicht so anstrengst. Du wirst es sowieso nie brauchen.“
In seinen Worten steckte ein Funken Wahrheit. Aber es war so verdammt schwer. Vorsichtig strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und nahm einen großen Schluck Tee.
„Aber ich-“
„Kein aber, Lily. Du solltest jetzt schlafen gehen. So übermüdet kannst du doch gar nicht klar denken...“
Er hatte Recht.
„Hmm“, murmelte sie und erhob sich von ihrer Bettkante. „Du hast Recht. Es tut mir wirklich Leid, dass ich dich mitten in der Nacht wegen so was geweckt habe...“
„Nein. Ist schon okay. Dafür sind Freunde doch da...“ Er lächelte.
Lily ging durch die Wohnung und schaltete das Licht aus. Dann schloss sie ihre Zimmertür und öffnete das Fenster einen Spalt breit. Vorsichtig kroch sie unter ihre Decke.
„Also dann...“
„Hast du das Fenster offen?“ Er wusste, dass sie nur bei frischer Luft gut schlafen konnte.
„Sicher.“
„Na dann... Schlaf gut.“
„Du auch.“ Sie lächelte. „Und danke...“
„Immer.“
„Gute Nacht“, murmelte sie leise.
„Gute Nacht...“
Lily wartete noch kurz. Als das Freizeichen ertönte, legte sie auf und ließ den Hörer auf den Fußboden vor ihrem Bett sinken. Sie war wirklich müde. Kaum hatte sie sich auf den Bauch gedreht und die Decke bis zum Hals gezogen, da war sie auch schon eingeschlafen.
Ein Klingeln weckte Lily am nächsten Morgen. Sie blinzelte ein paar Mal und überlegte, wer so früh am Morgen etwas von ihr wollte. Schlaftrunken wühlte sie sich aus der Decke und tapste in den Flur. Als sie die Tür öffnete, wusste sie nicht, ob sie sich freuen oder vor Wut die Wände hoch gehen sollte.
„Guten Morgen“, meinte Benjamin überschwänglich und nahm sie in den Arm. Er hielt ihr eine Tüte mit frischen Croissants unter die Nase. „Frühstücksservice.“
„Wer meinte gestern noch, ich bräuchte Schlaf?“, grummelte Lily und wandelte zurück in ihr Zimmer, um sich wieder im Bett zu verkriechen.
„Hey, es ist immerhin schon halb zehn.“
Lily schnaubte kurz auf.
Benjamin zuckte mit den Schultern. „Dann geh’ ich eben alleine.“
„Mach doch“, knurrte Lily.
„Willst du gar nicht wissen, wohin?“
„Nein.“
Er musste grinsen. Sie war schon immer ein Morgenmuffel gewesen, im Gegensatz zu ihm.
„Komm schon.“ Er griff nach ihrem Arm und zerrte daran. „Steh auf und zieh dir was an. Wir machen eine Radtour.“
Dafür lohnte es sich immerhin, ein Auge zu öffnen.
„Eine Radtour?“
„Genau.“
Das klang tatsächlich nicht schlecht. „Auf meinen Reifen ist keine Luft.“
„Doch.“
Sie setzte sich in ihrem Bett auf und runzelte die Stirn. „Du hast doch nicht etwa…?“
Er nickte grinsend.
„Jetzt komm schon. Die Räder stehen vor der Haustür, und daneben ein Rucksack mit Saft und Sandwichs. Ich geb’ dir zehn Minuten – sonst fahr ich ohne dich los.“
„Also schön“, meinte Lily mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen. „Mach fünfzehn draus und ich bin startklar.“ Sie schob die Decke beiseite und suchte nach ihren Shorts. Am Ende war es eine dreiviertel Stunde, weil sie noch auf ihr Croissant bestand und ihre Haare hochbinden musste. Mit einem zufriedenen Lächeln ließ Lily ihren Blick über den Schreibtisch schweifen. Sie würde ihre Mathesachen heute liegen lassen – und sie fühlte sich gut dabei.
Ende